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Full text of "Geschichte der Medizin im Überblick mit Abbildungen"

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Geschichte  der  Medizii> /J^ 
im  Überblick        ^^ 
mit  Abbildungen 


Von 


Th.  Meyer-Steineg  und  Karl  Sudhoff 


a.  o.  Prof.  der  Medizingesdiidite 
in  Jena 


o.  ö.  Prof.  der  Medizingeschidite 
in  Leipzig^ 


Mit  208  Abbildungen  im  Text 


Jena 

Verlag  von  Gustav  Fischer 

1921 


Alle  Rechte  vorbehalten 
Copyright  192 1   by  Gustav  Fischer,  Publisher  in  Jena 


131 


Vorwort. 

Eine  neue  Darstellung  der  Medizingeschichte?  Allerdings.  Und 
doch  will  das  neue  Buch  mit  anderen,  in  den  letzten  Jahrzehnten  er- 
schienenen, nicht  eigentlich  in  Wettbewerb  treten.  Es  möchte  ihnen 
eher  zur  Ergänzung  dienen. 

Wem  es  bei  einer  geschichtlichen  Betrachtung  der  Heilkunde 
in  erster  Linie  auf  den  Wandel  des  Krankheitsbegriffes  im  Laufe  der 
Zeiten  ankommt,  der  wähle  den  Leitfaden  von  Ernst  Schwalbe, 
der  eben  in  dritter  Auflage  herausgekommen  ist.  Wer  ein  Lehr- 
buch mäßigen  Umfanges  der  gesamten  Medizingeschichte  wünscht, 
das  auch  in  die  Literatur  des  Faches  in  auskömmlichem  L'mfange 
einführt  und  damit  für  jedes  tiefere  Weitereindringen  auf  allen  Einzel- 
gebieten die  volle  Bereitschaft  vermittelt,  der  greife  zu  J.  L.  Pagels 
„Einführung",  die  erst  kürzlich  von  einem  von  uns  beiden  voll  auf 
den  gegenwärtigen  Stand  in  neuer  Bearbeitung  gebracht  wurde 
Wer  in  voller  Ausführlichkeit  und  Gründlichkeit  unterrichtet  sein 
will,  der  nehme  Max  Neuburgers  dreibändige  Geschichte  der  !Me- 
dizin  zur  Hand,  und  wer  den  Entwicklungsgang  der  gesamten 
Spezialgebiete  heilkundigen  Forschens  und  Wissens  in  gesonderten 
fachmännischen  Einzeldarstellungen  nebeneinander  haben  möchte,  der 
wähle  das  große  Handbuch,  das  von  THEODOR  PUSCHMANN,  weiland 
in  Wien,  begründet  wurde. 

Für  diese  alle  kann  und  will  das  vorliegende  kleinere  Werk 
keinen  vollen  Ersatz  bieten.     Sein  Ziel  ist  ein  anderes. 

Anfänger,  die  einen  ersten  Ueberblick  über  das  historische  Ge- 
biet zu  erhalten  verlangen,  der  alle  Fragen  anklingen  läßt,  ohne  sie 
völlig  zu  erschöpfen,  berufstätige  Aerzte,  die  in  spärlichen  Muße- 
stunden zur  Erholung,  zur  Gewinnung  neuer  Anregung,  neuen  Mutes 
und  gestärkter  Schaffensfreudigkeit  zuverlässigen  Einblick  in  die  fort- 
schreitende Entwicklung  ihrer  Wissenschaft  und  deren  praktischer 
Betätigung,  sowie  ihres  Standes  in  ansprechender  Form  begehren, 
Kulturhistoriker,  die  sich  einen  Ueberblick  über  diesen  Teil  ihres 
Wissensgebietes  verschaffen  wollen,  sie  mögen  zu  unserem  Buche 
greifen.      Es   wird   ihnen    ein   treuer  Führer  sein    in   das  Auf  .und 


4  Vorwort. 

Ab  unserer  Kunst  und  Wissenschaft,  in  die  Hoch-  und  Tiefzeiten 
ärztHcher  Betätigung,  und  ihnen  reichhchen  Stoff  zu  eigenem  Mit- 
und  Nachdenken  bieten. 

Als  besondere  Anziehung  dieses  Buches  dürfen  wir  wohl  den 
reichen  Bildschmuck  bezeichnen,  der  ihm  bestimmt  nicht  nur  als 
Zierde  dient,  sondern  ganz  wesentlich  zur  Vertiefung  des  Verständ- 
nisses ärztlicher  Vergangenheit  in  anschaulicher  Eindringlichkeit  bei- 
tragen wird,  überdies  trotz  des  durch  das  redende  Bildwerk  bean- 
spruchten Raumes  direkt  raumsparend  wirkt.  Wir  sehen  in  dieser 
erstmalig  durchgeführten  Illustrierung  ^)  medizinischer  Gesamt- 
geschichte seit  den  Frühzeiten  der  Menschheit  bis  in  das  ig.  Jahr- 
hundert nicht  den  unwesentlichsten  Teil  aufklärenden  Verdienstes 
an  unserem  neuen  Unternehmen.  Die  Herausgeber  und  der  Ver- 
leger, der  in  verständnisvollem  Eingehen  auf  die  Wünsche  der  Ver- 
fasser weder  Mühe  noch  Kosten  gespart  hat,  erhoffen  dafür  den 
Dank  der  Benutzer. 

Wollten  wir  Kürze,  Uebersichtlichkeit  und  genußbringende  Les- 
barkeit, so  mußten  wir  uns  vielfache  Beschränkung  auferlegen.  Wir 
sehen  sie  auch  darin,  daß  wir  auf  Literaturangaben  vollständig  ver- 
zichteten. Wir  hoffen  auf  das  Anerkenntnis,  daß  wir  beide,  der  eine 
vor  allem  im  Altertum,  der  andere  im  Mittelalter  und  der  Re- 
naissance, derart  in  die  Materie  in  ihrem  ganzen  Umfange  als  ein- 
gedrungen gelten  dürfen,  um  der  Belege  für  unsere  Aufstellungen 
bei  unseren  Lesern  überhoben  zu  sein.  Wir  sehen  hierin  gerade 
einen  besonderen  Vorteil  unserer  gemeinsamen  Arbeit  und  die  wich- 
tigste Vorbedingung  für  die  gewählte  Darstellungsweise.  Ein  ein- 
zelner von  uns  hätte  das  nötige  Vertrauen  für  die  ganze  Entvvick- 
lungsbreite  durch  alte  und  mittlere  Zeit  hindurch  wohl  doch  nicht 
beanspruchen   dürfen. 

Daß  ein  voller  Ausgleich  der  Ansichten  beider  Verfasser  in  jeder 
Einzelheit  nicht  erstrebt,  ja  gar  nicht  versucht  wurde,  sei  ausdrück- 
lich hervorgehoben.  Jeder  derartige  Versuch  wäre  wohl  zum  Scheitern 
verurteilt  gewesen  und  hätte  der  Wahrhaftigkeit  der  historischen 
Aufstellungen  Eintrag  getan.  Jeder  von  uns  tritt  für  die  von  ihm 
geschriebenen  Abschnitte  vollständig  ein;  das  genügt.  Wir  sehen 
in  etwaigen  Verschiedenheiten  der  Auffassung  und  Formgebung,  wie 
sie  in  der  Persönlichkeit  des  Schreibenden  unweigerlich  begründet 
sein  mögen,  einen  besonderen  Vorzug  dieses  Buches,  das  nicht  blinde 


i)  Soweit  nicht  ausdrticklich  eine  andere  Herkunftsstelle  der  Ab- 
bildungen angegeben  ist,  sind  dieselben  in  allen  Abschnitten  dem  Lehr- 
material   des  Leipziger  Institutes    für  Geschichte    der  Medizin    entnommen. 


Vorwort.  5 

Gläubige  verlangt,  sondern  mitdenkende  ärztliche  Leser,  die  in  Ehr- 
lichkeit und  Zuverlässigkeit  volle  Aufklärung  zu  erhalten  wünschen 
über  die  ärztlichen  und  medizinisch-wissenschaftlichen  Zustände  ver- 
gangener Zeiten. 

Möge  das  Buch  genommen  werden,  wie  es  geboten  wird,  Klar- 
heit vermitteln  und  Nutzen  stiften,  daneben  auch  dem  deutschen 
Arzte  und  der  deutschen  medizinischen  Wissenschaft  die  Weltgeltung 
erhalten  helfen,  die  beide  verdienen. 

Jena  und  Leipzig,  26.  November  1920. 

Theodor  Meyer-Steineg  und  Karl  Sudhoff.    . 


Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

I.  Teil :  Primitive  Medizin.    Medizin  des  alten  Orients 
und  des  klassischen  Altertums  bis  Galenos. 

Von  Theodor  Meyer-Steineg 

Primitive  Medizin 9 

Empirisches  Stadium.     Dämonistisches  Stadium.     Zauberärzte. 

Die  Medizin  im  alten  Mesopotamien 19 

Die  Aerzte.     Die  medizinischen  Anschauungen  und  Leistungen. 

Die  altägyptische  Medizin 27 

Der  Aerztestand.  Die  medizinischen  Anschauungen  und  Leistungen. 

Die  Medizin  im  klassischen  Altertum 40 

Die  vorhippokratische  Zeit.    Die  Aerzte  und   die- Krankenpflege. 
Die  altgriechischen  Aerzteschulen. 

Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin 59 

Die  nachhippokratische  Zeit  und  die  dogmatische  Schule     ,     .       77 

Die  Schule  von  Alexandreia 81 

Die    äußeren  Verhältnisse    der  Aerzte.     Herophilos    und  Erasi- 
stratos  und  ihre  Schulen. 

Die  Schule  der  Empiriker    . 96 

Die  Heilkunde  bei  den  Römern  vor  der  Einführung  der  grie- 
chischen Medizin 99 

Entwicklung  des  römischen  Aerztestandes. 

Die  Einführung  der  griechischen  Medizin  in  Rom 107 

Themison    von   Laodikeia,    die   Methodiker    und    die  römische 

Medizin-Literatur iio 

Cornelius  Celsus. 

Soranos  von  Ephesos 121 

Die  pneumatische  Schule  und  die  Chirurgie 129 

Die  Eklektiker 132 

Galenos 135 

Das  Aerztewesen  der  römischen  Kaiserzeit 146 


Inhaltsverzeichnis.  7 

Seite 

II.  Teil :  Die  mittlere  Zeit  vom  Tode  des  Galenos  bis 
zu  Bacon  von  Verulam. 

Von  Karl  Sudhoff 

Nachleben  der  Griechenmedizin  im  Ostreich  und  erste  Wieder- 
geburt im  Reiche  des  Islam 151 

Nachklang  und  Ausklang  der  klassischen  Medizin  im  römischen 

Westreich 167 

Erste  Aneignung   antiker   medizinischer   Hinterlassenschaft   in 

Westeuropa 172 

Salerno 179 

Der  Aufstieg  mittelalterlicher  Chirurgie  in  Norditalien  während 

des  dreizehnten  Jahrhunderts 206 

Montpellier 212 

Scholastik  in  der  Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua 220 

Renaissance  und  Humanismus 247 

Die  großen  Reformbestrebungen  des  16.  Jahrhunderts      .     .     .     272 
Abschluß  und  Ausblick 302 

III,  Teil:   Die  neuere  Zeit  von  Harvey  bis  zur 
Gegenwart. 

Von  Theodor  Mfyer-Steineg 


Die  Neubegründung  der  Physiologie  durch  William  Harvey, 
Die  Schule  der  latrochemiker  und  latrophysiker  .     .     . 

Die  Reform  der  praktischen  Medizin  durch  Thomas  Sydenham 
Kasuistik  der  Krankheiten  und  neue  Heilmethoden 

Die  Chirurgie  und  Geburtshilfe  im   17.  Jahrhundert       .     .     . 

Das  Aerztewesen  im  17.  Jahrhundert 

Systembildung  der  Medizin  des  18.  Jahrhunderts.  Hoffmann 
Stahl  und  Boerhave  und  die  ältere  Wiener  Schule  .     . 


311 

326 
332 
337 

342 


Die  Neubegründung  der  Physiologie  durch  Albrecht  von  Haller 
Anatomen  und  Physiologen  in  seinen  Bahnen.  Die  Lehren 
Cullens  und  Browns.     Gaub  und  die  Pathologie  .     .     .     .     352 

Die  Schule  von  Montpellier  und  der  Vitalismus 360 

Das  System  Mesmers  und  seine  Nachfolger,  die  Naturphilosophie 
Schellings  und  ihr  Einfluß  auf  die  Medizin.  Die  natur- 
historische Schule 364 

Die  Homöopathie.  Rademachers  Erfahrungsheillehre.  Die  Kuh- 
pockenimpfung      371 


8  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

Chirurgie,  Augenheilkunde  und  Geburtshilfe  im  1 8.  Jahrhundert     378 
Das  Aerztewesen  im   18.  Jahrhundert 385 

Die  Entwicklung  der  pathologischen  Anatomie.  Pinel.  Mor- 
gagni.    Bichat 391 

Der  Ausbau  der  naturwissenschaftlichen  Grundlagen  der  Me- 
dizin :  Botanik,  Zoologie,  Physik,  Chemie,  Anatomie  und 
Physiologie.    Gall  und  die  Phrenologie.   Der  Broussaisismus     395 

Die  Begründung  der  Physiologie  als  Naturwissenschaft.  Ma- 
gendie,  Bernard,  Johannes  Müller  und  seine  Schule.  Die 
„chemische  Physiologie" 404 

Der  Ausbau  der  Krankheitslehre  durch  Rokitansky.    Virchow 

und  die  Zellularpathologie 407 

Die  Begründung  der  Bakteriologie.     Henle.     Robert  Koch       .     411 

Die  Entwicklung  der  praktischen  Medizin.  Die  „Jüngere  Wiener 
Schule",  die  Berliner  Kliniker.  Die  Entwicklung  der  The- 
rapie.    Die  Serumlehre 414 

Die  Chirurgie,  Augenheilkunde,  Geburtshilfe  und  Gynäkologie 

im   19.  Jahrhundert 419 

Das  Aerztewesen  in  der  neuesten  Zeit 426 


L  Teil. 

Primitive  Medizin, 

Medizin   des  alten  Orients  und 

des  klassischen  Altertums 

bis  nach  Galenos. 


Von 


Theodor  Me}er-Steineg. 


Primitive  Medizin. 
Empirisches  Stadium. 

Der  Ursprung  der  Heilkunde  liegt  ebenso  wie  die  ersten  An- 
fänge aller  anderen  Kulturerscheinungen  im  Dunkel  der  Vorzeit  ver- 
borgen. Es  würde  wohl  überhaupt  unmöglich  sein,  uns  auch  nur 
eine  ungefähre  Vorstellung  von  den  ältesten  Aeußerungen  der  Heil- 
betätigung zu  machen,  wenn  uns  nicht  zweierlei  Tatsachen  zu  Hilfe 
kämen:  einmal  das  Vorhandensein  nicht  unbeträchtlicher  Knochen- 
überreste prähistorischer  Menschen,  welche  aus  gewissen  sichtbaren 
Abweichungen  von  der  Norm  Rückschlüsse  auf  den  Ablauf  bestimmter 
Krankheits-  und  Heilungsvorgänge  gestatten.  Sodann  aber  die  Tat- 
sache, daß  es  auch  zu  unserer  Zeit  noch  Völker  gibt,  oder  zum  Teil 
bis  vor  kurzem  noch  gab,  welche  auf  einer  derart  niederen  Kultur- 
stufe leben,  daß  wir  aus  dem,  was  sie  uns  zeigen,  manchen  Rück- 
schluß auf  die  Zustände  der  Urmenschen  ziehen  können. 

Hiernach  läßt  sich  in  ganz  groben  Strichen  ein  Bild  der  primi- 
tiven ^ledizin  folgendermaßen  zeichnen:  Das  Ursprüngliche  jeder 
Heilbetätigung  bilden  wahrscheinlich  einfache  Instinkthandlungen, 
deren  Art  man  sich  beim  primitiven  Menschen  nicht  viel  anders 
vorzustellen  hat  wie  bei  höherstehenden  Tieren.  Wie  der  Hund, 
wenn  er  Unbehagen  im  Magen  spürt.  Gras  frißt,  so  lange  bis  Er- 
brechen erfolgt,  und  der  Magen  entleert  wird,  wie  der  Affe  seine 
Hand  zu  gebrauchen  versteht,  um  einen  in  seine  Haut  eingedrungenen 
Splitter  oder  Dorn  zu  entfernen,  oder  um  die  Blutung  von  Wunden 
durch  Aufdrücken  zu  stillen,  so  wird  auch  der  Urmensch  eine  Reihe 
einfacher  Heilmaßnahmen  vorgenommen  haben,  ohne  viel  über  ihren 
Grund  und  über  ihre  Wirkung  zu  denken.  Die  bloße  Erfahrung, 
daß  in  einem  ähnlichen  Falle  dieses  oder  jenes  geholfen,  den 
Schmerz  beseitigt,  das  Uebelbefinden  gemildert  hatte,  führte  ganz 
von  selbst  dahin,  solche  bewährten  Mittel  immer  wieder  anzuwenden. 
Umgekehrt  warnte  die  Erkenntnis,  daß  etwas  eine  ungünstige  Wir- 
kung hervorgebracht  hatte,  vor  einer  Wiederholung.  So  kam  der 
Mensch  allmählich  zur  Sammlung  eines  rein  erfahrungsgemäß  ge- 
wonnenen einfachen  Heilschatzes,  welcher  aus  dem  Verzehren  als  heil- 
sam erkannter  Pflanzenteile,  aus  der  Benutzung  der  Naturstoffe  und 
-kräfte  (Wasser,  Sonne),   sowie  aus  Handbetätigungen,  Reiben   und 


lO 


Primitive  Medizin. 


Abb.  I.  No.  I,  4  II.  5  Aderlaßinstrumente  der  Mapuche  und  Changos.  No.  2,  3,  6 — lo 
Skarifikationsinstrumente  der  Changos.  No.  ii  Nadeln  dazu.  No.  12  Tonfigur  mit 
Thränenpunkten   aus    Coquimba.     No.    13    Steinerne   Tabakspfeife    vom   Rancosee    (nach 

O.  Atichel). 


Primitive  Medizin.  1 1 

Kneten  schmerzender  Körperteile,  Entfernen  von  Fremdkörpern  u.  ä.m. 
bestanden.  Betätigungen,  welche  durch  Mitteilung  von  einem  Indi- 
viduum zum  anderen  erweitert,  durch  Ausbildung  und  Uebung  bei 
einzelnen  immer  mehr  verbessert  wurden  und  bereits  in  unvordenk- 
licher Zeit  den  Grundstock  der  ganzen  späteren  Entwicklung  bil- 
deten. Dabei  sind  an  diesem  Grundstock  bereits  die  Wurzeln  der 
Hauptteile  erkennbar,  in  welche  wir  auch  heute  noch  die  Heilkunst 
zu  gliedern  pflegen ;  vor  allem  der  inneren  Medizin  und  der  Chirurgie. 
Wenn  wir  uns  vor  Augen  halten,  daß  wir  nicht  wenige  der 
wirksamsten  Mittel  unseres  modernen  Heilschatzes  erst  verhältnis- 
mäßig spät  von  Naturvölkern  übernommen  haben  —  wie  die  China- 
rinde, die  Cocablätter,  die  Senega  und  Ipecacuanha  u.  a.  —  so  zeigt 
ims  dies  die  große  Fähigkeit  dieser  einfachen  Menschen,  in  ihrem 
innigsten  Zusammenleben  mit  der  Natur  die  Wirkungen  der  von 
ihr  gebotenen  Stoffe  zu  beobachten.  Das  Gleiche  beweisen  die 
mannigfachen  anderen  Maßnahmen,  welche  sich  bei  den  Natur- 
völkern als  Mittel  gegen  die  verschiedensten  inneren  Leiden  finden : 
—  Wasserkuren,  Dampf-  und  Schwitzbäder  —  welch  letztere  viel- 
fach in  der  Weise  verabreicht  werden,  daß  in  einem  engen  ge- 
schlossenen Raum  Wasser  auf  glühend  gemachte  Steine  gegossen 
wird.  Daneben  werden  —  wie  schon  kurz  erwähnt  wurde  —  von 
fast  allen  Naturvölkern  Bearbeitungen  des  Körpers  mit  der  Hand 
vorgenommen,  sei  es  in  der  Form  sanften  Streichens,  oder  kräf- 
tigeren Drückens  und  Knetens,  Stoßens  mit  der  Faust  oder  dem 
Knie  oder  aber  Peitschen  mit  Gerten  und  Nesseln  usw. 


Den  Uebergang  zu  chirurgischen  Eingriffen  bilden  die  bei  den 
Naturvölkern  ziemlich  allgemein  verbreiteten  Methoden  der  Blut- 
entziehung. Vom  einfachen  Schröpfen  bis  zum  wirklichen  Aderlaß 
finden  sich  die  verschiedensten  Formen  dieser  Maßnahmen.  Teils 
wird  nur  die  Haut  mit  einem  scharfen  Instrument  aus  Stein,  Knochen, 
Fischgräten  u.  ä.  geritzt,  und  dann  mit  dem  Munde  oder  einem  Hohl- 
körper das  Blut  ausgesogen.  Teils  wird  aber  auch  unmittelbar  die 
Ader  selbst  eröffnet.  Hierzu  bedienen  sich  manche  Volksstämme, 
wie  beispielsweise  die  Papuas  auf  Neu-Guinea,  sonderbarer  Mittel: 
nämlich  spannenlanger  Bogen,  mit  denen  sie  winzige  Pfeile  aus 
nächster  Nähe  in  die  zu  eröffnende  Vene  abschießen. 

Die  Wundbehandlung  ist  ebenfalls  in  mannigfaltiger  Weise  aus- 
gestaltet und  entbehrt  durchaus  nicht  vernünftiger  Grundsätze. 
Feuchte  und  trockene  Verbände  werden  unter  Verwendung  von 
allerlei  Stoffen  angelegt.  Auch  erhärtende  Verbände  mit  Hilfe  von 
Ton   sind  in   Gebrauch.    Wenn  auch  meist  das  Zusammenwachsen 


12 


Primitive  Medizin. 


der  Natur  überlassen  wird,  so  haben  doch  manche  Stämme  auch 
bereits  die  Wundnaht  ausgebildet.  Eine  in  mehrfacher  Hinsicht 
merkwürdige  Methode  üben  brasilianische  Indianer  aus :  sie  benutzen 

Ameisen  mit  starken  Kopf- 
zangen, welche  sie  zu  beiden 
Seiten  der  Wunde  sich  fest- 
beißen lassen,  um  dann  so- 
fort den  Kopf  vom  Rumpf 
zu  trennen.  Indem  sie  ein 
Tier  nach  dem  anderen  an- 
setzen, schließen  sie  nicht 
nur  die  Wunde  mit  einer 
Reihe  von  Klammern,  son- 
dern sie  erzeugen  durch 
die  von  den  Ameisen  ver- 
spritzte Ameisensäure  ge- 
radezu eine  unbewußte  anti- 
septische Wirkung. 

Einen  sehr  wichtigen 
Teil  der  chirurgischen  Be- 
tätigung bildet  bei  den 
Naturvölkern  die  Entfer- 
nung der  in  den  Körper 
eingedrungenen  Fremd- 
körper, wie  Splitter,  Dor- 
nen, Geschosse  und  der- 
gleichen, welche  auf  die  ver- 
schiedenste Weise,  teils  mit 
bloßen  Fingern,  teils  mit 
Werkzeugen,  meist  sehr  geschickt  bewerkstelligt  wird.  Auch  aus 
tiefer   gelegenen   Teilen   werden  derartige  Fremdkörper  mit  großer 


Abb.  2.    Prähistorischer  Wirbel  mit  eingeheilter  und 
von   Knochenwucherungen   umgebener  Bronze-Pfeil- 
spitze aus  der  Gegend  von  Saalfeld  a.  S.    (Sammlung 
Prof.  Meyer-Steineg.) 


Abb.  3.     Arm  mit  geheiltem  Bruch  aus  einem  Hockergrabe  der  Zonenbacherzeit  (Museum 
zu  Weimar,  durch  den  Vorstand,  Herrn  Dr.  Möller.) 


Sicherheit  hervorgeholt;  und  zahlreiche  Knochenbefunde  beweisen, 
daß  schon  der  prähistorische  Mensch  selbst  so  schwere  Verletzungen, 
wie  beispielsweise  Bauchschüsse,  überstehen  konnte.   Das  zeigt  unter 


Primitive  Medizin. 


13 


anderem  der  Fund  eines  Wirbelknochens,  in  welchem  eine  tief  ein- 
gedrungene bronzene  Pfeilspitze  fest  eingeheilt  war.  Die  starke 
Knochenwucherung,  welche  das  Geschoß  umgibt,  beweist,  daß  der 
Verwundete  seine  Verletzung  lange  überlebt  hat. 

Die  teilweise  vortreffliche  Verbandtechnik  einzelner  Naturvölker 
zusammen  mit  einer  Reihe  von  Funden  gut  verheilter  Knochen- 
brüche aus  prähistorischer  Zeit  lassen  ferner  erkennen,  daß  schon 
der  primitive  Mensch  sich  mit  dieser  Seite  der  Chirurgie  gut  abzu- 
finden wußte. 


Abb.  4.     Prähistorischer  Schädel  mit  verheilter  Trepanationswunde  (''/^  Größe). 


Neben  kleineren  Operationen,  wie  die  Eröffnung  von  Abszessen, 
die  —  übrigens  meist  aus  rituellen  Gründen  ausgeführte  —  Ab- 
tragung der  Vorhaut,  die  Infibulation  u.  ä.  m.,  sind  schon  in  ältester 
Zeit  auch  Eingriffe  vorgenommen  worden,  welche  selbst  von  der 
modernen  Medizin  zu  den  schwereren  gerechnet  werden.  Namentlich 
verdient  ein  Verfahren  Erwähnung,  das  nicht  nur  bei  vielen  Natur- 
völkern geübt  wird,  sondern  auch  —  wie  nicht  wenige  Funde 
zeigen  —  schon  dem  prähistorischen  Menschen  bekannt  war.  Es 
ist  die  Trepanation  des  Schädels,  welche  zum  Teil  durch  Aufbohren, 
zum  Teil  durch  allmähliches  Aufschaben  des  Knochens  ausgeführt 
wurde.     Gerade  diese  Operation  zeigt,  wie  rein  empirisch,   ohne  das 


14  Primitive  Medizin. 

Wie  und  Warum    der  Wirkung  zu  kennen,   derartige  schwere  Ein- 
griffe vorgenommen  werden. 

Man  fragt  sich  nun  unwillkürlich,  wie  es  unter  so  primitiven 
Umständen  möglich  ist,  solche  schwere  Operationen  durchzuführen. 
Bei  unseren  heutigen  Vorstellungen  von  der  Notwendigkeit  pein- 
lichster Asepsis  kann  man  sich  kaum  ein  Bild  davon  machen,  wie 
ohne  diese  Errungenschaft  ein  glatter  Heilungsverlauf  vor  sich 
"fehen  kann. 


Abb.    5.     Schädel    mit    Hiebwunde,    darüber    Trepanationswunde    aus    Neu-Guinea    (nach 

Gipsabguß).     ^/^  Größe. 

Wenn  wir  nun  auch  diese  Tatsache  zum  Teil  mit  der  Annahme 
erklären  dürfen,  daß  die  Heilungstendenz  eines  im  Naturzustande 
lebenden  Menschen  an  sich  derjenigen  eines  Kulturmenschen  über- 
legen ist,  so  ist  es  auf  der  anderen  Seite  doch  auch  nicht  ausge- 
schlossen, daß  eine  gewisse  unbewußte  Asepsis  dabei  mitgewirkt 
hat.  Eine  Asepsis,  welche  sich  auf  die  einfache  Beobachtung  und 
Erfahrung  stützte,  daß  Wunden  bei  Fernhalten  aller  Verun- 
reinigungen besser  heilen. 

Die  zweite  Frage,  die  sich  sodann  von  selbst  aufdrängt,  geht 
dahin,  wie  denn  der  Mensch  die  schmerzhaften  Operationen  ohne 
Betäubung  aushalten  konnte.  Auch  da  ist  die  Antwort  ähnlich: 
zunächst  steht  es  fest,  daß  der  primitive  Mensch  im  Durchschnitt 
weit   mehr   Schmerz   ertragen   kann    als   der   verweichlichte  Kultur- 


Primitive  Medizin  15 

mensch.  Sodann  fehlt  es  den  Naturvölkern  aber  auch  nicht  an 
Mitteln,  welche  die  Schmerzempfindung  aufheben  oder  doch  herab- 
setzen. Und  wenn  wir  aus  dem,  was  wir  von  noch  vorhandenen 
wilden  Völkern  wissen,  auf  entsprechende  Verhältnisse  bei  den  Ur- 
menschen schließen  dürfen,  so  können  wir  uns  vorstellen,  daß  diese 
bei  ihren  chirurgischen  Operationen  berauschende  und  betäubende 
Mittel  in  mannigfacher  Art  gebraucht  haben :  alkoholische  Getränke, 
aus  Pflanzen  gewonnene,  die  Sinnesempfindung  aufhebende  Stoffe  u.  ä. 
So  mannigfach  nun  auch  aber  die  geschilderten  Heilmaßnahmen 
sind  und  so  vernünftig  sie  selbst  nach  heutigen  Begriffen  oft  er- 
scheinen, so  handelt  es  sich  doch  in  diesen  Frühstadien  stets  nur 
um  empirisches  Tun.  Aus  diesem  wird  erst  eine  wirkliche  Heil- 
kunde, wie  wir  sie  auffassen,  von  dem  Augenblick  an,  in  welchem 
der  Mensch  zwischen  seinen  Betätigungen  und  ihrer  Wirkung  ur- 
sächliche Beziehungen  herzustellen  sucht,  also  die  Frage  nach  dem 
Wie  und  Warum  aufwirft.  Diese  hängt  aber  auf  auf  das  innigste 
zusammen  mit  der  Frage  nach  dem  Wesen  der  Krankheit. 

Dämonistisches  Stadium. 

Eine  Reihe  der  alltäglichsten  Krankheitserscheinungen  war 
auch  dem  primitiven  Menschen  nach  Wirkung  und  Ursache  klar. 
Ihm  leuchtete  ohne  weiteres  Nachdenken  ein,  daß  eine  Wunde 
blutete,  daß  auf  eine  äußere  Gewalteinwirkung  Schmerz  folgte,  daß 
ein  Parasit  Beschwerden  verursachte.  Aber  bei  den  weitaus  meisten 
Leiden  fehlte  ihm  jede  Möglichkeit  der  Erklärung,  Und  so  kam 
es,  daß,  ebenso  wie  das  Geschehen  in  der  großen  Natur  —  der 
Wechsel  der  Jahreszeiten,  von  Sonne  und  Mond,  das  Wüten  des 
Gewitters  u.  ä.  m.  —  so  auch  die  Vorgänge  im  Körper  des  Ein- 
zelnen auf  den  Einfluß  eines  überlegenen  Willens  zurückgeführt 
wurden.  Mit  solchen  besonderen  Kräften  waien  entweder  andere 
Menschen  ausgestattet  oder  aber  unsichtbare  übersinnliche  Wesen, 
Geister,  Dämonen.  Und  das  Krankmachen  geschah  nach  der  Vor- 
stellung bald  durch  das  bloße  UebehvoUen  des  anderen,  also  durch 
eine  Art  Fernwirkung,  oder  aber  dadurch,  daß  ein  solcher  Dämon 
selbst  in  den  Körper  des  Menschen  eindrang  in  irgendeiner  Form, 
sei  es  in  greifbarer  Gestalt,  etwa  als  Wurm  oder  Stein  oder  aber 
als  ein  unfaßbares  Etwas.  Wir  haben  hier  also  die  erste  Krank- 
heitstheorie vor  uns:  sie  heißt  „Dämonismus". 

Mit  diesen  Vorstellungen  nahmen  nun  natürlicherweise  auch 
die  gegen  die  Krankheiten  angewandten  Mittel  eine  andere  Gestalt 
an.  Zum  Teil  werden  die,  wie  wir  sahen,  oft  sehr  vernünftigen 
Maßnahmen  vollkommen  durch  solche  ersetzt,  welche  sich  lediglich 
gegen    den    vermeintlichen    Verursacher   des    Leidens    richten:    der 


i6 


Primitive  Medizin. 


Kranke  will  den  übelwollenden  Menschen  oder  Geist  versöhnen 
durch  Geschenke  u.  ä,  oder  er  versucht  den  in  ihm  sitzenden  bösen 
Dämon  herauszulocken  oder  zu  treiben.  Hierzu  dienen  dann  Zauber- 
formeln und  alle  möglichen  mystischen  Prozeduren.  Zum  größeren 
Teile  aber  bleiben  trotz  der  Herrschaft  eines  derartigen  Gedanken- 
kreises die  alten  empirischen  Mittel  erhalten.  Es  wird  ihnen  nur 
eine  den  Vorstellungen  entsprechende  Deutung  und  eine  Einkleidung 


Abb.  6.     Von  links  nach  rechts:    chirurgisches  Messer,  Skarifikationsinstrument,   Idol  der 

Schwindsucht,    des  Rückenschmerzes,    der  Brustbeklemmung   bei  brasilianischen  Indianern 

(Jenaer  med.-hist.  Sammlung),  ''/^  Größe. 


gegeben,  welche  ihre  Anwendung  unter  dem  Gesichtspunkte  einer 
gegen  den  Dämon  gerichteten  Maßnahme  erscheinen  läßt.  Aber 
selbst  dort,  wo  die  ganze  Heilbetätiguug  zunächst  jeder  Vernunft 
bar  erscheint,  ist  bei  genauerem  Hinschauen  fast  stets  ein  ratio- 
neller Kern  erkennbar:  die  eigentliche  Maßnahme  des  Heilens  wird 
nur  durch  alle  möglichen  mystischen  Handlungen  derart  verdeckt, 
daß   sie   dem   naiven  Menschen   höchstens  als   ein   ganz   nebensäch- 


Primitive  Medizin.  17 

liches  Beiwerk  des  Ganzen  erscheint.  So,  wenn  der  IMedizinmann 
gewisser  \'ölker  den  Kranken  unter  allem  möglichen  Hokuspokus 
einen  Amulettkranz  zu  knabbern  gibt,  dessen  Perlen  eine  Erbrechen 
erregende  Substanz  enthalten,  oder  wenn  er  unter  dem  Anschein 
einer  religiösen  Handlung  den  erkrankten  Körperteil  massiert  oder 
blutig  ritzt.  Ja  selbst  chirurgische  Eingriffe  erscheinen  unter  diesem 
Gesichtspunkte  häufig  als  in  erster  Linie  gegen  den  bösen  Geist 
gerichtet ;  z.  B.  die  bereits  oben  erwähnte  Trepanation  des  Schädels. 
Gerade  dieser  Eingriff  zeigt  besonders  deutlich,  wie  innig  mitunter 
die  beiden  Formen  der  primitiven  jMedizin  miteinander  verflochten 
sind:  wird  doch  mit  dem  hypothetischen  Zweck  der  Dämonenaus- 
treibung gleichzeitig  der  reale  Erfolg  einer  Loslösung  etwaiger 
Verwachsungen  des  Schädels  mit  der  Hirnhaut  erreicht,  und  damit 
unter  Umständen  eine  Heilung  epileptischer  Anfälle  (bei  sogenannter 
traumatischer  Epilepsie)  erzielt. 

Zauberärzte. 

Die  Mannigfaltigkeit  der  Heilbetätigungen  und  der  ihnen  zu- 
grunde liegenden  Vorstellungen  verlangte  schon  auf  einer  frühen 
Kulturstufe  besondere  Individuen,  die  sich  der  Medizin  berufsmäßig 
widmeten.  Man  kann  sich  zwar  sehr  wohl  einen  Urzustand  denken, 
in  welchem  die  Heilkunst  lediglich  nach  dem  Grundsatze  „Eine  Hand 
wäscht  die  andere"  ausgeübt  wurde,  ohne  daß  es  zur  Ausbildung 
besonderer  heilkundiger  Personen  gekommen  wäre.  Sobald  aber  die 
Medizin  in  den  Bann  dämonistischer  Vorstellungen  gerät,  geht  auch 
hierin  ein  Wandel  vor  sich.  Diejenigen  Individuen,  welche  sich 
vermöge  besonderer  Fähigkeiten  aus  der  Vielheit  der  anderen 
herausheben  und  zu  Vermittlern  zwischen  dem  übersinnlichen  Wesen, 
dem  Dämon,  und  den  Menschen  aufwerfen,  ziehen  auch  die  Aus- 
übung der  Heilkunst  in  ihren  Betätigungskreis  hinein.  War  die 
Krankheit  nichts  als  die  Einwirkung  eines  mächtigen  bösen  Geistes, 
so  war  der  Dämonenbeschwörer  oder  Zauberer  auch  der  berufene 
Helfer. 

Das  Musterbeispiel  für  diese  Individuen  ist  der  Medizinmann 
der  Indianer.  Dieser  wird  von  Jugend  auf  für  seinen  Beruf  ganz 
regelrecht  vorgebildet.  Ein  Jüngling,  welcher  in  den  Bund  der 
Mide  aufgenommen  zu  werden  wünscht,  hat  vorher  eine  lange 
Lehrzeit  durchzumachen.  Er  wird  durch  einen  bereits  in  seinem 
Berufe  volltätigen  Medizinmann  in  allem  unterrichtet,  was  er  für 
seine  zukünftige  Stellung  nötig  hat.  Dazu  gehört  ebenso  die  Kenntnis 
der  zu  Heilzwecken  verwandten  Stoffe,  die  Art  ihrer  Gewinnung 
und  Zubereitung,  wie  auf  der  anderen  Seite  die  Vertrautheit  mit 
den     verschiedenartigen    Zauberprozeduren     und     mystischen    Maß- 

Meyer-Steineg  u.  Sudhoff,  Illustr.  Geschichte  der  Medizin.  2 


i8  Primitive  Medizin. 

nahmen.  Vielfach  wird  nach  Beendigung  der  Ausbildung  eine 
förmliche  Prüfung  abgehalten,  welche  mit  der  Zulassung  zur  Be- 
rufsausübung schließt.  Den  beiden  Seiten  ihrer  Betätigung  ent- 
sprechend, führen  die  Medizinmänner  bei  der  Krankenbehandlung 
neben  mannigfachen  wirklichen  Arzneimitteln  vor  allem  eine  Menge 
sonderbarer  und  auf  die  Phantasie  des  Kranken  wirkender  Geräte 
und  Dinge  mit  sich,  darunter  namentlich  solche  zur  Erzeugung  von 
Lärm.  Sie  verstehen  es  äußerst  geschickt,  alle  möglichen  ratio- 
nellen Maßnahmen  unter  ihren  mystischen  Handlungen  zu  ver- 
bergen, wie  Massage,  Einreibungen  von  Medikamenten,  Skari- 
fikationen  und  manches  andere  mehr.  So  bietet  schon  die  Kindheit 
der  Medizin  ein  recht  buntes  Bild,  in  dem  einzelne  Züge  bereits 
manche  Linie  der  zukünftigen  Entwicklung  erkennen  lassen. 


Die  Medizin  im  alten  Mesopotamien. 

Im  innigsten  Zusammenhange  mit  den  übrigen  Lebensäuße- 
rungen, diu-ch  tausend  Fäden  mit  ihnen  verknüpft,  geht  mit  der 
allmählichen  Weiterbildung  der  allgemeinen  Kultur  die  Heilkunst 
ihren  Weg  weiter.  Das  Ansammeln  größerer  Erfahrungen,  die 
immer  weiter  fortschreitende  Ausbildung  ärztlicher  Fertigkeiten,  das 
zunehmende  Nachdenken  über  die  Gründe  und  Ursachen  des  Krank- 
seins und  Wiedergesundens,  die  Einreihung  aller  dieser  Vorstellungen 
in  die  allgemeine  Weltanschauung  lassen  nach  und  nach  aus  der  ur- 
sprunghaften ungeordneten  Heilbetätigung  eine  wirkHche  Heilkunde 
erwachsen,  wie  sie  ein  jedes  Volk  auf  einer  gewissen  Kulturstufe 
aufzuweisen  hat. 

Im  alten  Mesopotamien,  das  man  mit  Recht  die  Wiege  unserer 
heutigen  Kultur  nennt,  bildete  die  Medizin  einen  wichtigen  Be- 
standteil der  gesamten  Lebensäußerungen.  Und  ebenso  wie  die 
altbabylonische  Kultur  als  Ganzes  eine  eigentliche  Entwicklung 
nicht  erkennen  läßt,  uns  vielmehr  schon  in  ihren  ältesten  Denk- 
mälern gleichsam  fertig  entgegentritt,  so  ist  uns  auch  über  die  Aus- 
bildung der  Heilkunde  dort  kaum  etwas  bekannt.  Wenn  man 
dabei  noch  bedenkt,  daß  sich  die  Geschichte  des  Zweistromlandes 
über  mindestens  drei  Jahrtausende  erstreckt,  daß  an  ihr  drei  ver- 
schiedene Völker,  die  Sumerer,  Babylonicr  und  Assyrer  beteiligt 
waren,  so  leuchtet  ohne  weiteres  ein,  daß  man  nur  ein  Durch- 
schnittsbild seiner  Kulturerscheinungen  zeichnen  kann. 

Unsere  Kenntnis  über  die  Heilkunde  Altbabyloniens  beruht 
neben  einer  geringfügigen  Zahl  bildlicher  Darstellungen  und  einigen 
wenigen  Funden  chirurgischer  Instrumente  vor  allem  auf  den  zahl- 
reichen Keilschrifttexten,  welche  ärztliche  Dinge  behandeln.  Unter 
diesen  gestatten  uns  vor  allem  solche  aus  der  Bibliothek  Sar- 
danapals  (668—626  v.  Chr.).  welche  durchweg  auf  weit  älteren 
Quellen  basieren,  einen  ziemlich  guten  Einblick  in  das  Denken  und 
Tun  der  babylonischen  Aerzte. 

Die  Aerzte. 

Die  Tatsache,  daß  ein  Herrscher  des  dritten  Jahrtausends  v.  Chr. 
ärztliche    Fragen    in    seiner   Gesetzgebung    zu    berücksichtigen    ge- 

2* 


20 


Die  Medizin  im  alten  Mesopotamien. 


zwungen  war  —  wie  dies  in  dem  sogenannten  Kodex  des  Cham- 
murapi  (etwa  um  22.50  v.  Chr.)  der  Fall  ist  —  zeigt  schon  für 
sich  allein  genommen,  daß  bereits  vor  seiner  Regierungszeit  das 
Aerztewesen  eine  ziemlich  weitgehende  Ausbildung  erfahren  haben 
muß.  Die  Aerzte  scheinen  schon  in  sehr  alter  Zeit  Beziehungen 
zur    Priesterschaft    gehabt    zu    haben,    welche   an   allen    Geschäften 

des  täglichen  Lebens,  auch  an  den 
profansten,  ideellen  und  materiellen 
Anteil  nahm.  In  erster  Linie  waren 
wohl  die  Priester  des  Heilgottes 
Ea  und  seines  Sohnes  Marduk  zu 
Aerzten  berufen. 

Diese  Priesterärzte  haben  sich 
im  übrigen  wahrscheinlich  vor- 
wiegend mit  der  —  bei  fast  allen 
antiken  Völkern  als  vornehmer 
angesehenen  „inneren  Medizin"  be- 
faßt, während  sie  die  Chirurgie 
(im  ursprünglichen  Sinne  ystpoop'cia 
=  Handwerk)  einer  besonderen 
Klasse  von  Heilkünstlern  über- 
ließen. Dafür  spricht  die  Tatsache, 
da.i6  im  Kodex  Chammurapi 
ausschHeßlich  Taxen  für  operative 
Eingriffe  vorgesehen  sind,  während 
sie  für  nichtoperative  fehlen.  Der 
Priesterarzt  bezog  eben  als  Beamter 
des  Königs  ein  festes  Gehalt  und 
war  wahrscheinlich  zur  unentgelt- 
lichen Ausübung  seines  Berufes 
verpflichtet;  die  Chirurgen  dagegen 
lagen  ihrer  Tätigkeit  als  freiem 
Berufe  ob.  Die  Wertschätzung 
ihrer  Leistungen  war  aber,  obgleich 
sie  an  Ansehen  den  Priesterärzten 
nachstanden,  doch  eine  recht  hohe; 
das  zeigt  die  Bemessung  der  ihnen 
nach  dem  genannten  Gesetzbuch  zustehenden  Gebühren.  So  heißt  es 
(§  215):  „Gesetzt  ein  Arzt  hat  an  jemandem  einen  schweren  Eingriff 
mittels  des  bronzenen  Messers  vorgenommen  und  dadurch  den  Be- 
treffenden geheilt,  oder  er  hat  den  Star  jemandes  mittels  des  bronzenen 
Messers  geöffnet  und  dadurch  das  Auge  geheilt,  so  darf  er  zehn  Sekel 
Silber   nehmen."     Es  handelt  sich    demnach  um  ein  geradezu  fürst- 


Abb. 


7.     Stele    mit   dem  Gesetzeskodex 
des  Chammurapi. 


Die  Medizin  im  alten  Mesopotamien. 


21 


liches  Honorar,  denn  fünf  Sekel  Silber  sind  beispielsweise  der  jähr- 
liche Mietpreis  für  ein  besseres  Haus;  V30  Sekel  Silber  ist  der  ganze 
Tagelohn  eines  Handwerksmeisters  (§  274). 

Für  eine  gewisse  Freiheit  des  Arztberufes  sprechen  die  be- 
sonderen Bestimmungen  in  dem  Gesetzbuch  Chammurapis. 
Andererseits  zeigen  spätere  —  assyrische  —  Quellen,  daß  wenigstens 
die  Hofärzte  unter  Umständen 
sich  die  Einmischung  der 
Priester  in  ihren  Beruf  ge- 
fallen lassen  mußten  und  da- 
für ihrerseits  den  weniger 
bevorzugten  Berufsgenossen 
gegenüber  nicht  immer  die 
Gebote  der  Kollegialität  be- 
achtet zu  haben  scheinen. 


fr"  —^ 


:S&^Mj 


Für  die  Ausbildung  der 


Meyei    ues    aiiüaDvionisciien    cninirgen 


Urlugaledinu. 


Aerzte    hatte    schon    in   sehr 
früher   Zeit   der  Staat    durch 

Gründung  und  Unterhaltung  besonderer  Schulen  gesorgt,  deren 
bedeutendste  (nach  Strabo)  zu  Uruk  und  später  zu  Borsippa  waren. 
Daß  das  Honorarwesen  schon  in  sehr  alter  Zeit  geregelt  war, 
wurde  bereits  erwähnt.  Den  dem  Arzte  zugute  kommenden  Be- 
stimmungen entsprach  dann  freilich  auf  der  anderen  Seite  eine  rigo- 
rose Behandlung  der  ärztlichen  Kunstfehler.  Heißt  es  doch  bei 
Chammurapi  {§  218):  „Gesetzt  ein  Arzt  hat  bei  jemandem 
einen  schweren  Eingriff  mittels  des  bronzenen  Messers  vorge- 
nommen und  dadurch  den  Tod  des  Betreffenden  veranlaßt,  oder 
er  hat  jemandes  Star  mit  dem  bronzenen  Messer  eröffnet  und 
dadurch  das  Auge  zerstört,  so  wird  man  ihm  die  Hand  abschneiden. 
Mag  diese  Strafe  auch  wohl  nur  selten  wirklich  ausgeführt  worden 
sein,  so  hatte  doch  der  Arzt  jedes  gröbere  \^ersehen  mit  schwerer 
Geldbuße  wieder  gut  zu  machen. 

Neben  den  beiden  genannten  Gruppen  von  Aerzten  bestand  ein 
niederes  Heilpersonal,  dem  alle  die  Betätigungen  oblagen,  welche 
jene  unter  ihrer  Würde  hielten.  Diese  Leute  —  Bader,  Arznei- 
bereiter und  ähnliche  —  übten  ihren  Beruf  teils  als  Gehilfen  der 
Aerzte,  teils  als  selbständigen  Erwerb  aus. 

Die  medizinischen  Anschauungen  und  Leistungen. 

Der  weitgehenden  Ausbildung  des  Aerztewesens  entsprach  auch 
ein  schon  recht  beträchtlicher  Hochstand  der  Heilkunde,  die  freilich 
nach  unseren  derzeitigen,  noch  ziemlich  unzureichenden  Kenntnissen 
ein    merkwürdig   buntes    Bild    aufweist.     Sein   wesentlicher  Zug   ist 


22 


Die  Medizin  im  alten  Mesopotamien. 


eine   außerordentliche   Abhängigkeit   von    der   allgemeinen   Weltan- 
schauung, wie  sie  sich  sowohl  in  der  medizinischen  Theorie  als  auch 

in  der  ärztlichen  Praxis 
kundgibt.  In  der  erste- 
ren  spielt  eine  Haupt- 
rolle die  Annahme,  daß, 
wie  alles  Geschehen  in 
der  Welt,  die  größten 
und  die  kleinsten  Dinge 
von  dem  Willen  einer 
übergewaltigen  gött- 
lichen Macht  abhängig 
seien,  so  auch  alle  Vor- 
gänge im  und  am 
menschlichen  Körper 
dieser  allgemeinen  Ge- 
setzmäßigkeit unter- 
lägen ;  daß  demnach 
alle  Erscheinungen  des 
Daseins  in  der  gleichen 
Weise  zu  erklären  seien. 
Die  feste  Unterlage 
dieser  großzügigen  An- 
schauungen bildete  die 
Astronomie,  welche  als 
die  das  ganze  Denken 
der  Babylonier  beherr- 
schende Wissenschaft 
auch  die  Medizin  tief 
in  ihren  Bann  ver- 
strickte. Die  Bedeutung 
dieses  Zusammenhangs 
offenbart  sich  an  den 
verschiedenen  Bestand- 
teilen der  altbabyloni- 
schen Heilkunde. 

Alle  Vorgänge  im 
gesunden,  alle  Verän- 
derungen im  kranken 
Körper,  der  Zug  der 
epidemischen  Krankheiten,  der  Wechsel  in  der  Häufigkeit  bestimmter 
Leiden  —  alles  dies  erschien  dem  babylonischen  Arzte  ebenso  ab- 
hängig  von  den  Himmelsvorgängen,   wie  auch   bei   allen    ärztlichen 


Abb.   9.     Keilschrift-Tontäf eichen   mit   dem    sogenannten 

„Zahnwurmtext",    einem    Rezept    gegen    Zahnkaries,    in 

eine  Beschwörungsformel  eingekleidet. 


Die  Medizin  im  alten  Mesopotamien.  23 

Maßnahmen  der  Gang  der  Gestirne  berücksichtigt  sein  will.  Da- 
neben werden  zur  Erklärung  der  Vorgänge  im  Körper  mit  Vor- 
liebe Vergleiche  mit  den  Geschehnissen  in  der  übrigen  großen  Natur 
herangezogen:  die  Durchströmung  des  Körpers  mit  Blut  wird  mit 
der  Befruchtung  des  Landes  durch  die  Ströme,  die  Bedeutung  der 
dem  Körper  innewohnenden  Wärme  wird  mit  dem  Einfluß  der 
Sonne  auf  das  Gedeihen  der  Fluren,  die  Funktion  der  Atmung  mit 
den  Winden  verglichen  u.  a.  m. 

Die  eigentliche  Ursache  des  Krankwerdens  wird  fast  durch- 
weg außerhalb  des  Körpers  gesucht.  Für  das  Kranksein  da- 
gegen werden  auch  innere  Vorgänge  zur  Erklärung  herangezogen. 
Ausgehend  von  der  Erfahrung,  daß  gewisse,  als  Parasiten  im 
Körper  lebende  Tiere,  die  man  sich  aus  faulender  Substanz  ent- 
standen vorstellte,  unter  Umständen  Krankheitserscheinungen  her- 
vorrufen können,  suchte  man  auch  für  mancherlei  Leiden,  deren 
Symptome  irgendwelche  x\nalogie  darboten,  einen  solchen  „Wurm" 
als  L'rsache,  z.  B.  bei  der  Zahnkaries.  Daneben  scheint  man  vor 
allem  den  im  Körper  kreisenden  Flüssigkeiten  (humores),  nament- 
lich dem  Blute,  eine  besondere  Rolle  bei  den  I>ebensfunktionen  zu- 
geteilt zu  haben. 

Wir  haben  also  bei  den  alten  Babyloniern  eine  Mischung  ver- 
schiedener Krankheitstheorien :  dämonistische ,  kosmische ,  parasi- 
täre, humoralpathologische ;  eine  Mischung  von  übersinnlichen  und 
rationellen  Vorstellungen,  deren  einzelne  Komponenten,  wahrschein- 
lich zu  verschiedenen  Zeiten  entstanden,  allmählich  die  eine  als  Er- 
gänzung der  anderen  erkannt  und  ohne  Rücksicht  auf  die  ihnen 
untereinander  anhaftenden  Widersprüche  zu  einem  Gesamtbilde  ver- 
einigt wurden. 

Bei  weitem  nicht  so  bunt  wie  die  Krankheitstheorie  erscheint 
die  Lehre  von  den  Krankheitssymptomen.  Zwar  findet  sich  auch 
hier  eine  Verquickung  mystischer  und  nüchterner  Anschauungen; 
aber  die  ersteren  erweisen  sich  fast  durchweg  als  bloße  Einkleidung 
der  letzteren.  Und  wenn  man  in  den  überlieferten  Texten  dieses 
mystische  Kleid  entfernt  oder  auch  nur  etwas  lüftet,  so  treten  fast 
überall  Krankheitsschilderungen  zutage,  welche  eine  nüchterne  Be- 
obachtungsgabe und  die  Fähigkeit  bezeugen,  das  Wesentliche  vom 
Unwesentlichen  zu  trennen.  Ohne  daß  geradezu  Krankheitsbilder 
im  heutigen  Sinne  umrissen  werden,  ist  doch  die  Zusammenfassung 
der  verschiedenen  Symptome  vielfach  recht  anschaulich.  Dabei 
herrscht  das  Bestreben  vor,  möglichst  jeder  kleinen  Abweichung 
Beachtung  zu  schenken,  und  sie  als  einen  besonderen  Fall  zu  be- 
handeln; ein  Verfahren,  das  —  übrigens  auch  im  Gesetzbuchc 
Chammurapis  durchgeführt  —  seine  zwei  Seiten  hat:  auf   der  einen 


24  Die  Medizin  im  alten  Mesopotamien. 

führt  es  zu  einer  ausgesprochenen  Individualisierung,  auf  der 
anderen  aber  zu  einer  ins  Endlose  gehenden  Spalterei,  die  einer 
Gewinnung  höherer  allgemeiner  Gesichtspunkte  durchaus  abträg- 
lich ist.  So  erklärt  es  sich  auch,  daß  die  ganze  medizinische 
Literatur  Altbabyloniens  von  der  sumerischen  bis  in  die  assyrische 
Zeit  hinein  nicht  über  die  Abfassung  kasuistischer  Sammlungen 
hinausgegangen  ist. 

Um  so  anerkennenswerter  ist  die  wohldifferenzierte  Sym- 
ptomatologie, welche  eine  große  Anzahl  der  verschiedensten  Krank- 
heitserscheinungen in  lebendiger  Weise  wiedergibt  und  im  ein- 
zelnen Falle  zu  einer  Krankheitsdiagnose  zu  gelangen  sucht.  Sie 
setzt  eine  gute  Beobachtungsgabe  und  ein  feines  Unterscheidungs- 
vermögen voraus,  wie  sie  nur  auf  Grund  einer  langen  Ausbildung 
denkbar  sind.  Ein  recht  charakteristisches  Krankheitsbild  mit 
mannigfaltigen  Einzelzügen  ist  z.  B.  folgendes:  „Wenn  einem 
Menschen,  ohne  daß  er  etwas  geniefi^t,  sein  Inneres  zum  Erbrechen 
neigt,  er  Auswurf  in  Menge  auswirft,  Wasser  in  seinen  Mund 
kommt  wie  .  .  .,  sein  Antlitz  rot  geworden  ist,  seine  inneren  Teile 
entzündet  sind,  seine  Körpermitte  sich  erweitert,  seine  Kniee  an 
einem  kalten  Tage  ...  er  Speise  und  Rauschtrank  (wieder  er- 
bricht?), kaltes  Wasser  in  Menge  trinkt,  es  wieder  erbricht,  in 
seinem  After  .  .  ..  die  Muskeln  seines  Fleisches  ihm  ("erschlafft  sind  ?), 
seine  Fleischteile  wie  gelähmt,  wer  immer  ißt,  ihm  zuwider  er- 
scheint, usw.  usw." 

Auch  der  Prognose  in  dem  Sinne  einer  Vorhersag'e  des 
Krankheitsausganges  wird  in  der  babylonischen  Medizin  ein  Platz 
eingeräumt.  Sie  wird  äußerlich  vollkommen  von  astrologischen 
Einflüssen  beherrscht,  welche  sich  nicht  auf  die  allgemeine  Vor- 
ausbestimmung beschränken,  sondern  sich  auf  alle  möglichen  Einzel- 
vorgänge im  Körper  erstrecken.  Daneben  aber  besteht  —  wenig- 
stens im  Keim  ^  eine  rein  ärztliche  Prognostik,  die  sich  ausschließ- 
lich auf  die  im  Einzelfall  vorliegenden  Krankheitssymptome  stützt. 
So,  wenn  es  in  einem  alten  Keilschrifttext  heißt:  „Wenn  ein  Mensch 
an  einem  Ahhazu  krank  ist,  sein  Haupt,  sein  Antlitz,  sein  ganzer 
Körper  und  sogar  die  Wurzel  seiner  Zunge  ergriffen  ist,  an  selbigen 
Kranken  soll  der  Arzt  seine  Hand  nicht  legen,  selbiger  Mensch 
wird  sterben  und  nicht  genesen."  Dieser  Text  enthält  gleichzeitig 
eine  ethische  Forderung  an  den  Arzt,  daß  er  nämlich  in  den  von 
vornherein  aussichtslosen  Fällen  nicht  erst  seine  Kunst  anwenden  soll. 

Die  Art  der  Krankenbehandlung  hat  viele  gemeinsame 
Züge  mit  der  primitiven  Medizin.  Bei  ihr  herrscht  beim  ersten  An- 
blick ein  bunter,  aus  verschiedensten  Bestandteilen  zusammen- 
gesetzter Wirrwar,  der  scheinbar  dem  Arzte  keinerlei  zuverlässige 
Handhabe  bietet.   Immer  wiederkehrende  Beschwörung-s-  und  Zauber- 


Die  ^ledizin  im  alten  ^lesopotamien. 


25 


Abb.  lo.    Altbaby Ionische  chirurgische  Instrumente,  gefunden  zu  Xinive.    Von  links  nach 

rechts:    zweischneidiges  Skalpell,  Säge,  Trepan,  2  Messer,   sämtlich  aus  Bronze,    1  kleines 

Obsidianmesser.     (Sammlung  Prof.  Meyer-Steineg.) 


26  Die  Medizin  im  alten  Mesopotamien. 

formein  machen  vielfach  die  ganze  Therapie  aus.  Und  doch,  sieht 
man  näher  hin,  so  ändert  sich  das  Bild  außerordenthch :  der  Arzt 
überläßt  in  Wirklichkeit  keineswegs  immer  der  Gottheit  oder  der 
blind  waltenden  Natur  das  Heilgeschäft.  Er  greift  vielmehr,  inner- 
lich wohl  selbst  viel  freier  von  Aberglauben  als  es  den  Anschein 
hat,  durch  eigne  Handlungen  energisch  ein,  wenn  er  diese  auch, 
um  dem  allgemeinen  Glauben  Rechnung  zu  tragen,  meist  mit  allerlei 
mystischem  Beiwerk  umkleidet.  Das  zeigen  uns  zahlreiche  Texte, 
wie  etwa  der  oben  schon  erwähnte  „Zahnwurm-Text".  Während 
in  diesem  die  Beschwörungsformel  fast  den  ganzen  Raum  einnimmt, 
und  die  Heilmaßnahme  nur  als  „Handlung  dabei"  bezeichnet  wird, 
ist  in  Wahrheit,  abgesehen  von  der  Suggestivwirkung,  das  eigent- 
lich wirksame  Prinzip  die  Ausfüllung  des  Zahnes  mit  einer  schmerz- 
stillenden Plombe  aus  Hyoscyamus  und  Mastix. 

So  weist  auch  der  Arzneischatz  der  Bab)4onier  eine  ziem- 
lich reichhaltige  Sammlung  aus  allen  drei  Reichen  auf:  Pflanzen-, 
Tierstoffe  und  Mineralien.  Und  ihre  Anwendung  geschieht  in 
mannigfaltiger  Form :  als  Trank,  Mixtur,  Paste,  Einreibung,  Um- 
schlag, Bad,  Klistier  u.  a.  m. 

Auch  die  Chirurgie  scheint  —  und  zwar,  wie  oben  erwähnt, 
als  Sonderfach  —  bereits  wohlausgebildet  gewesen  zu  sein.  Denn 
wenn  im  Kodex  Chammurapi  neben  schlechthin  „schweren  Opera- 
tionen" die  Star-,  Tränenfisteloperation  mit  Namen  erwähnt  werden, 
wenn  für  die  Behandlung  von  Knochenbrüchen  oder  schmerzhaften 
Geschwülsten  besondere  Taxen  aufgestellt  werden,  so  muß  in  dieser 
alten  Zeit  bereits  eine  ganze  Reihe  verschiedener  chirurgischer  Be- 
handlungsmethoden vorgelegen  haben.  Dafür  sprechen  auch  die 
—  freilich  spärlichen  —  Funde  chirurgischer  Instrumente. 


Die  altägyptische  Medizin. 


Die    altäg}ptische    Heilkunde    ähnelt   —    trotz    mancher    Ab- 
weichungen im  einzelnen  —  in  ihren  Grundzügen  jener  Babyloniens; 

wie  ja   auch  diese   beiden  Kul-  

turkreise  überhaupt  mancherlei 
verwandte  Züge  aufweisen.  Rein 
äußerlich  betrachtet,  läßt  sich 
bei  den  Aeg}"ptern  zwar  deut- 
licher eine  Art  von  Entwick- 
lungsgang der  Medizin  fest- 
stellen, der  in  Bab3ionien  fehlt, 
oder  besser:  zu  fehlen  scheint, 
weil  die  Literatur  der  letzteren 
chronologisch  weit  unsicherer 
ist.  Die  Quellen  der  äg\'ptischen 
Medizin  zeigen,  ihrem  verschie- 
denen Alter  entsprechend,  auch 
ein  verschiedenes  Gepräge.  Die 
ältesten,  unter  dem  „Alten  Reich" 
entstandenen,  also  in  das3.  Jahr- 
tausend hinein  reichenden  Pa- 
pyrosfunde  (namentlich  der  so- 
genannte „Veterinär  -  Papyros" 
und  der  „gynäkologische  PapATos 
von  Kahun")  stellen  im  wesent- 
liehen  einfache  Rezeptsam  m-  ' 
lungen  mit  kurzen  Krankheits-      | 

bildern    dar.     Diese    sind    voU- 

j 

kommen  frei  von  religiös-mysti- 
schen Beimengungen  und  be- 
weisen durch  ihre  gute  Erfassung 
der  Symptomenkomplexe  und 
ihre  einfachen,  aber  rationellen 
Behandlungsmaßnahmen  einen 
ziemlich  hohen  Stand  des  ärzt-     .^^  ,  ,  ,     _       .  .     „  .. 

, .  Abb.    1 1 .     Imhotep,  der  ägyptische   Hetigott 

liehen    Könnens    und    der    ärzt-     ^„ach  Holländer.  Plastik  und  Medizin,  mit 
liehen   Erfahnmg.  Genehmigung  des  Verf.). 


28  Die  altägyptische  Medizin. 

Die  zweite  Epoche,  die  mit  dem  „Mittleren  Reich"  zusammen- 
fällt, wird  am  besten  durch  den  berühmten  „Papyros  Ebers"  be- 
leuchtet, dessen  Niederschrift  zwar  erst  um  1550  v.  Chr.  erfolgt  ist, 
dessen  Vorlagen  aber  weit  älter  sind.  Sie  zeigt  deutlich  das  Ein- 
dringen religiöser  Vorstellungen  in  die  Medizin ;    doch   bleibt  überall 


Abb.   12.     Eine  Kolumne  ans  dem  ,, Papyros  Ebers". 

der  empirische  Grundcharakter  noch  sichtbar,  und  ganze  Abschnitte 
der  aus  dieser  Zeit  stammenden  Papyri,  insbesondere  des  erwähnten, 
tragen  vollkommen  das  Gepräge  der  ersten  Epoche  und  erweisen 
damit  ihre  Herkunft  aus  der  Vergangenheit. 

Mit    dem    Uebergange    des    , .Mittleren    Reiches"    zum   „Neuen 
Reiche",   also   etwa   von    1500   v.  Chr.   ab,   nehmen   dann  die   aber- 


Die  altägyptische  Medizin. 


29 


gläubischen  Elemente  in  der  ägyptischen  Heilkunde  immer  mehr 
zu,  wie  dies  der  Papyros  Brugsch  mit  seinem  starken  Hervortreten 
magischer  Prozeduren  zeigt. 

Mit  dem  Beginn  des  i.  Jahrtausends  verschwindet  sodann  der 
empirische  Einschlag-  fast  vollkommen  und  macht  einem  Wust  von 
krassem  Aberglauben  und  Geheimniskrämerei  Platz. 

Aber  auch  die  Literatur  der  Blütezeit  besteht,  wie  der  Pap^Tos 
Ebers  beweist,  nur  aus  Kompilationen  aus  der  älteren  Zeit.  ^lag 
auch  den  altägj^ptischen  x\erzten  selbst  ein  derartiges  Buch  als  eine 
Art  Handbuch  erschienen  sein,  so  fehlt  ihm  nach  unseren  Begriffen 
dazu  vor  allem  jede  kritische  Sichtung  und  jegliche  Durchtränkung 
mit  dem  eigenen  Geist  des  Verfassers,  Im  Gegenteil  war  dessen 
ganzer  Ehrgeiz  offenbar  darauf  gerichtet,  seinem  Wissen  durch 
Zurückführung  auf  möglichst  weit  zurückliegende  Zeiten  und  Ver- 
knüpfung mit  göttlichen  Dingen  eine  größere  Autorität  zu  verleihen. 

Der  Aerztestand. 

Einen  Aerztestand  hat  Aegypten  schon  in  sehr  alter  Zeit  her- 
vorgebracht. Ursprünglich  scheint  die  Heilkunde  in  den  Händen 
von  Laienärzten  g^elegen  zu  haben. 
Diese  waren  aber  vielleicht  hierar- 
chisch gegliedert,  denn  uns  ist  ein 
unter  der  fünften  Dynastie  lebender 
„Oberarzt"  überliefert.  In  der  Blüte- 
zeit ist  dann  die  Heilkunde  in  die 
Hände  der  Priester  übergegangen 
—  ganz  ebenso  wie  in  Altbaby- 
lonien.  Dabei  steht  aber  nicht  fest, 
ob  —  wie  die  einen  behaupten  — 
jeder  Priester  gleichzeitig  ärztliche 
Funktionen  ausgeübt  hat,  oder  ob 
umgekehrt  nur  alle  Aerzte  der 
Priesterkaste  angehört  haben.  Sicher- 
lich war  ihre  Zahl  sehr  groß;  und 
schon  in  sehr  früher  Zeit  wurden 
gewisse  Sonderfächer  der  Medizin 
von  entsprechenden  Spezialisten  aus- 
geübt. Nach  Herodot  gab  es  solche 
„Fachärzte",  von  denen  die  einen 
nur  Augen,  andere  nur  Kopfleiden, 
wieder  andere  Krankheiten  der  Zähne 
oder  des  Unterleibes  oder  bestimmter  ^bb.  13.  Der  ägyptische  Oberarzt 
innerer    Organe    behandelten.     Im  jamatearch. 


30 


Die  altägyptische  Medizin. 


übrigen  waren  wohl  die  Verhältnisse  der  ägyptischen  Aerzte  denen  der 
bab3'lonischGn.  Aerzte   ähnlich.     Sie  waren   als  Priester  Beamte,   die 

ihr  festes  Gehalt  aus  den 
Tempeleinkünften  be- 
zogen. Ihre  Ausbildung 
genossen  sie  in  den  den 
Tempeln  angeglieder- 
ten Schulen,  deren  be- 
rühmteste die  von  On, 
Sais,  Memphis  und 
Theben  waren.  Ihr  An- 
sehen war  sehr  hoch, 
gründete  sich  aber  we- 
niger auf  ihre  eigentlich 
ärztlichen  Leistungen 
als  vielmehr  auf  ihre 
Fähigkeit,  diese  in  die 
Form  einer  religiösen 
Handlung  einzukleiden. 
Deshalb  nehm.en  unter 
den  drei  Gruppen,  in 
die    sich    die   Priester- 


Abb.   14.     Der  altägyptische  Arzt  IWTI  (19.  Dynastie). 


Abb.  15.   Altägyptisches  Votiv 

eines      Augenkranken      (nach 

Erman). 


ärzte  gliederten  —  innerer  Arzt,  Chirurg,  Beschwörer  —  die  letzteren 
in  der  Blütezeit  der  ägyptischen  Kultur  den  höchsten  Rang  ein. 

Auffallend  ist,  daß  zwar  viel  von  berühmten  Aerzteschulen, 
aber  nichts  von  bedeutenden  Ärzten  überliefert  ist.  Diese  scheinen 
also  vollkommen  in  der  Gesamtheit  aufgegangen  zu  sein;  eine  Tat- 
sache, welche  neben  anderem  mit  zu  der  Erstarrung  der  ägyp- 
tischen Heilkunst  beisfetrasren  haben  dürfte. 


Die  altägyptische  Medizin.  31 

Die  medizinischen  Anschauungen  und  Leistungen. 

Die  ägyptische  Medizin  selbst  zeigt  trotz  aller  Aehnlichkeit 
mit  der  babylonischen  doch  in  höherem  Grade  das  Bestreben,  für 
das  praktische  Handeln  des  Arztes  gewisse  allgemeine  Unter- 
lagen zu  schaffen.  Die  Kenntnisse  über  den  Bau  und  die  Funktionen 
des  normalen  menschlichen  Körpers  sind  freilich  auch  in  Aegypten 
noch  recht  gering.  Die  bei  der  üblichen  Einbalsamierung  der 
Leichen  gebotene  Möglichkeit,  sich  wenigstens  über  die  dabei  frei- 
gelegten Körperteile  (also  Bauch-  und  Brustorgane)  zu  unterrichten, 
ist  von  den  ägyptischen  Aerzten  auffallend  wenig  benutzt  worden. 
Wahrscheinlich  aus  einer  gewissen  religiösen  Scheu  heraus,  welche 
auch  jede  weitere  Zergliederung  des  Leichnams  streng  verpönte. 
Immerhin  sind  die  Bauch-  und  Brustorgane  einigermaßen  gut  be- 
kannt, während  über  den  Bau  der  Muskeln,  der  Knochen,  Adern, 
Nerven  usw.  ganz  willkürliche  Vorstellungen  herrschten,  die  im 
wesentlichen  auf  dem  Wege  reiner  Spekulation  gewonnen  wurden. 
Das  sieht  man  ganz  klar  aus  dem  Abschnitt  im  Papyros  Ebers,  der 
den  Titel  „Das  Geheimbuch  des  Arztes,  die  Kenntnis  vom  Gang 
des  Herzens  und  die  Kenntnis  vom  Herzen"  trägt  und  mit  einer 
anatomisch-physiologischen  Abhandlung  beginnt. 

Die  Krankheitslehre  ähnelt  in  vielfacher  Beziehung  der  baby- 
lonischen; sie  beruht,  ebenso  wie  diese,  auf  verschiedenen  Vorstel- 
lungen :  obenan  steht  der  Wille  der  Götter  als  Ursache  alles  Krank- 
seins, bei  den  einzelnen  Leiden  spielen  dann  bestimmte  Dämonen 
eine  Rolle,  indem  sie  gleichsam  von  dem  Kranken  Besitz  ergreifen. 
Eine  der  wichtigsten  Ursachen  der  Krankheiten  aber  ist  auch  hier 
der  „Wurm",  Und  zwar  führte  man  auf  jede  einzelne  Form  von 
Schmarotzern  auch  eine  besondere  Art  von  Krankheit  zurück.  Der 
Wurm  erscheint  dem  ägyptischen  Arzte  nicht  einfach  als  ein  Symbol 
der  Krankheit,  sondern  als  ihre  ganz  reale  Ursache.  Als  solche 
werden  auch  Verstöße  gegen  die  normale  Lebensweise,  insbesondere 
falsch  zusammengesetzte  oder  übermäßige  Nahrung  gewürdigt. 

Den  Krankheitsvorgang  selbst  sehen  die  Aegypter  in  Zustands- 
veränderungen  der  verschiedenen  Bestandteile  des  Körpers.  Unter 
diesen  nimmt  das  Blut  wieder  eine  hervorragende  Stellung  ein  (also 
wieder  eine  „humorale"  Betrachtungsweise) ;  aber  über  ihm  steht 
als  höchstes  Prinzip  das  „Pneuma".  Unter  diesem  verstand  man 
oinen  in  der  Luft  enthaltenen  unsichtbaren  Stoff,  welcher,  durch 
die  Atmung  von  der  Lunge  aufgenommen,  von  dieser  zum  Llerzen 
geleitet  wird  und  von  dort  aus  durch  die  Schlagadern,  die  man 
sich  ausschließlich  mit  diesem  Medium  erfüllt  dachte,  dem  ganzen 
Körper   mitgeteilt    wird.     Normale   Beschaffenheit    des   Blutes    und 


32 


Die  altägyptische  Medizin. 


Pneumas  ist  Voraussetzung  der  Gesundheit.  Krankheit  dagegen 
ist  im  letzten  Sinne  eine  Veränderung  dieser  beiden  Stoffe,  die  in 
vielen  Fällen  als  eine  Art  „Fäulnis"  bezeichnet  wird.  Neben  der 
Humoralpathologie  steht  hier  also  als  gleichwertiges  Prinzip  die 
Pneumalehre;  beides  wichtige  Grundlagen  späterer  Krankheits- 
theorien. 

Steckt  in  diesen  Anschauungen  auch  schon  der  Keim  einiger 
rationeller  Gedankengänge,  so  steht  doch  an  Bedeutung  weit  über 
ihnen  die  Auffassung  der  Krankheitsbilder.  Denn  diese  sind,  wenn 
schon    sie   sich   nur   zu   einem   kleinen    Teile   mit   unseren    heutigen 

decken,   so   doch   derart  in  sich 


geschlossen  und  dadurch  gegen- 
einander abgegrenzt,  da.ii  sie 
dem  Arzte  jener  Zeit  eine  recht 
brauchbare  Unterlage  für  die 
Behandlung  boten.  Man  lese 
z.  B.  im  Papyros  Ebers  (XXVI) : 
„Wenn  du  eine  Person  unter- 
suchest, die  an  einer  Verstopfung 
ihres  Leibes  leidet;  sie  fühlt  sich 
beschwert,  wenn  sie  Nahrung  zu 
sich  nimmt,  ihr  Leib  schwillt  auf, 
ihr  Herz  ist  matt,  wenn  sie  geht, 
wie  bei  einer  Person,  die  an  Ent- 
zündung im  After  leidet:  laß  sie 
sich  ausgestreckt  hinlegen  und 
untersuche  sie.  Findest  du  dann, 
daß  ihr  Leib  heiid,  ihr  Unterleib 
hart  ist,  so  sage  du  zu  ihr:  es 
ist  ein  Leberleiden.  Mache  ihr 
das  geheimnisvolle  Pflanzen- 
mittel   ,  damit  du  ihren  Leib 

ausleerest.  Wenn  du,  nachdem 
dies  geschehen  ist,  die  beiden  Seiten  an  ihrem  Leib,  die  rechte 
heiß,  die  linke  kühl  findest,  so  sag  du  dazu:  das  ist  eine  Krank- 
heit, die  dabei  ist  zu  heilen,  sie  verzehrt  sich.  Besuche  sie  wieder. 
Findest  du,  daß  ihr  Leib  überall  abgekühlt  ist,  so  sag  du: 
deine  Leber  hat  sich  zerteilt  und  gereinigt,  du  hast  die  Arznei  an- 
genommen." 

In  ähnlicher  Weise  werden  eine  ganze  Reihe  von  Krankheits- 
zuständen  gezeichnet;  zumeist  freilich  beschränkt  sich  der  Verfasser 
des  Pap3'ros  auf  eine  bloße  Benennung  der  Krankheit  oder  doch 
auf  die  hervorstechendsten  Symptomenangaben. 


Abb.   i6.     Reiseapotheke    der  Königin  Men- 
tuhotep  (2000  V.  Chr.).     Berl.  Museum. 


Die  altägj^ptische  Medizin.  33 

Jedenfalls  bauen  sich  alle  diese  Krankheitsbilder  —  wie  schon 
das  eine  Beispiel  ersichtlich  macht  —  auf  einer  recht  vielseitigen 
S3*mptomatologie  auf,  wie  sie  nur  auf  Grund  einer  gut  entwickelten 
Beobachtung  sich  ausbilden  und  mit  Hilfe  einer  fortgeschrittenen 
Diagnostik  praktisch  verwertet  werden  kann.  Und  in  der  Tat  läßt 
diese  bereits  deutlich  die  wichtigsten  Elemente  unserer  heutigen 
Untersuchungsmethoden  erkennen:  die  Besichtigung,  die  Betastung 
und  die  Behorchung.  Die  erstere  dient  dem  ägyptischen  Arzte  zur 
Feststellung  von  Veränderungen  der  Form,  Farbe  und  Lage  äußerer 
Körperteile,  der  Haut,  Haare,  Xägel  usw.,  ferner  des  Urins  und 
anderer  Ausscheidungen.  Die  Betastung,  welche  besonders  bezüg- 
lich der  Bauchorgane  ziemlich  fein  ausgebildet  ist,  erstreckt  sich  vor 
allem  auf  die  Erkennung  aller  Abweichungen  der  Konsistenz,  der 
Lage,  Form,  Temperatur  usw.  So  wird  z.  B.  das  Gefühl  der  „Fluk- 
tuation" im  Papyros  Ebers  (CVII)  sehr  gut  charakterisiert:  „Wenn 
du  eine  Geschwulst  in  einem  beliebigen  Körperteile  einer  Person 
antriffst  und  findest,  daß  sie  unter  den  Fingern  geht  und  kommt, 
indem  es  zittert,  auch  wenn  deine  Hand  still  ist "  Die  Be- 
horchung scheint  ebenfalls  als  Untersuchungsmittel  angewandt  worden 
zu  sein,  denn  der  Satz,  „das  Ohr  hört  darunter"  kann  kaum  anders 
verstanden  werden. 


In  der  Therapie  kommt  die  Vermeng^ng  rationell-empirischer 
mit  abergläubisch-theurgischen  Elementen  deutlich  zum  Ausdruck 
jedenfalls  wenn  man  die  Blütezeit  der  ägyptischen  Heilkunde  dabei 
in  Betracht  zieht.  Aber  wenn  man  von  der  späteren  Verfallzeit  ab- 
sieht, so  erscheinen  die  religiösen  Verrichtungen,  welche  zumeist  die 
ärztliche  Behandlung  begleiten,  sehr  häufig  als  eine  bloße  Einkleidung 
ganz  vernünftiger,  auf  Erfahrung  beruhender  Maßnahmen  und  dienen 
dann  vor  allem  zu  deren  Unterstützung,  indem  sie  als  suggestive 
Faktoren  mitwirken.  Daß  der  altägyptische  Arzt  auf  sie  nicht  ver- 
zichtet, erklärt  sich  ohne  weiteres  aus  seiner  Zugehörigkeit  zur 
Priesterkaste.  Die  Grundsätze,  auf  die  sich  die  eigentliche  Therapie 
stützt,  sind  zwar  nirgends  in  der  auf  uns  gekommenen  Literatur  aus- 
drücklich aufgestellt,  sie  lassen  sich  aber  ohne  weiteres  aus  den  zahl- 
reichen Verordnungen  entnehmen  und  entsprechen  den  Anschau- 
ungen über  das  Wesen  der  Krankheiten:  sie  richten  sich  nämlich 
vielfach  auf  eine  Ausscheidung  der  im  Körper  gebildeten  „Fäulnis- 
stoffe" und  bestehen  somit  vor  allem  in  Mitteln,  welche  die  Magen- 
und  Darmentleerung,  die  Urin-  und  Schweißabsonderung  befördern 
oder   das    „schlechte  Blut"    entleeren.     Insoweit  stellen  diese  M<iß- 

Mey er-Steineg  u.  Sudboff,  lllustr.  Geachichte  der  Medizin.  3 


34  Die  altägyptische  Medizin. 

nahmen  die  praktischen  Folgerungen  der  humoralpathologischen  Be- 
trachtung dar. 

Andere  Behandlungsmethoden,  welche  auf  Erregung  von  Auf- 
stoßen und  Abgang  von  Blähungen,  d.  h.  also  auf  die  Entfernung- 
der  „verdorbenen  Luft"  abzielten,  lassen  die  pneuma-pathologische 
Grundvorstellung  erkennen.  Wieder  andere  richten  sich  gegen  die 
wirklich  vorhandenen  tierischen  Schmarotzer  oder  gegen  die  ange- 
nommenen „Würmer". 

Der  von  den  ägyptischen  Aerzten  verwandte  Arzneischatz  ist 
bereits  außerordentlich  reichhaltig  und  weist  neben  einer  großen 
Zahl  nach  unserer  Anschauung  wertloser  Dinge  —  darunter  nament- 
lich auch  solcher  der  Dreckapotheke  —  eine  ganze  Reihe  wert- 
voller, noch  heute  im  Gebrauch  befindlicher  Stoffe  auf.  Dazu  ge- 
hören z.  B.  Lactuca,  Absinth,  Mohn  (Opium),  Rizinusöl,  Granat- 
wurzelrinde, Hyoscyamos,  Stychnos,  Natron,  verschiedene  Kupfer-  und 
Zinksalze,  Kanthariden,  verschiedene  Arten  von  Tierfett  und  manches 
mehr. 

Ebenso   mannigfaltig   wie  die  Stoffe  selbst  ist  ihre  Zubereitung- 
und   Därreichungsform :    einfache    oder  zusammengesetzte   Auszüge, 
Abkochungen,  Elektuarien,  Salben,  Pasten  u.  v.  m.  werden  als  Tränke^ 
Klistiere,    Gurgel-    oder    Spülwässer,    Einreibungen,    Einspritzungen, 
Umschläge,  Stuhlzäpfchen  und  Räucherungen  verwandt.  Die  Rezeptur 
mutet   ganz   modern   an:   sie   enthält   häufig   neben  dem  Grundstoff 
ein  sogenanntes  Hilfsmittel  (Adjuvans)  und  Geschmacksverbesserungs- 
mittel (Corrigens),   So  lautet  ein  Rezept  zur  Ausleerung  des  Darms: 
Absinth 
Datteln 
Bitteres  Bier 
Brotteig 
Wein 
Eselsmilch 

Kochen,  Durchseihen  und  4  Tage  Einnehmen. 
Ueber  die  Zeit  und  wichtigen  Umstände  der  Darreichung  werden 
gewöhnlich  genaue  Vorschriften  gemacht.  Für  bestimmte  Krank- 
heitsgruppen werden  besondere  Kuren  verordnet,  welche  sich  aus 
einer  fortlaufenden  Reihe  von  einzelnen  über  die  verschiedenen 
Krankheitstage  verteilten  Maßnahmen  zusammensetzen.  So  besteht 
die  Behandlung  der  akuten  Leiden  in  einer  eintägigen  Vorbereitungs- 
und einer  4-tägigen  Hauptkur. 


Ueber  die  chirurgischen  Leistungen  der  alten  Aeg3^pter  ist  leider 
wenig  bekannt.   Doch  lassen  schon  die  Grundsätze  der  Wundbehand- 


Vs 

denä. 

Vs 

V2 

Vs 

V.S 

I 

Die  altägyptische  Medizin. 


35 


lung  erkennen,  daß  dieses  Gebiet  keinesfalls  hinter  der  inneren 
Medizin  zurückgestanden  hat.  Den  einzelnen  Stadien  der  Wund- 
heilung entspricht  eine  verschiedene  Behandlung.  „Reine"  und  „ver- 
unreinigte" Wunden  werden  voneinander  getrennt.  Auch  die  Eigenart 
der  Verletzungen  an  den  verschiedenen  Teilen  des  Körpers  wird 
beachtet.  Im  übri- 
gen ist  uns  Ge- 
naueres nur  über 
die  Therapie  der 
Geschwülste  be- 
kannt, welcher  der 
Pap3'ros  Ebers  ( 1 04) 
einen  Abschnitt 
widmet.  Je  nach 
dem  Sitz  der  Ge- 
schwulst und  je 
nach  ihrer  Eigenart 
wechselt  die  da- 
gegen verordnete 
Behandlung.  Xeben 
dem  Messer  wird 
dabei  auch  dem 
Kauter  ein  Platz 
eingeräumt,  teilszur 
Zerstörung  der  Ge- 
schwulst selbst,  teils 
aber  —  wie  bei 
Adergeschwülsten 
—  um  nach  der 
blutigen  Entfer- 
nung die  Blutung 
zu  stillen.  Gerade 
diese  Aufgabe 

scheint  —  begreif- 
licherweise —  dem 

altägyptischen 
Arzte       besondere 

Schwierigkeiten  bereitet  zu  haben,  denn  bei  dieser  Gelegenheit  werden 
zur  Unterstützung  Zauberworte  empfohlen. 

Bei  ganz  aussichtslosen  Leiden  dagegen  wird  ausdrücklich  ge- 
raten, gar  nichts  zu  unternehmen.  Ob  und  welcher  Art  größere 
chirurgische  Eingriffe  ausgeführt  worden  sind,  läßt  sich  mangels 
literarischer  Quellen   nicht   mit  Bestimmtheit   sagen,   höchstens  kann 

3* 


Abb.  17.   Altägyptische  chirurgische  Instramente:  oben  2  Skari- 

fikationsinstramente.     Unten  und  rechts   3  Messer   (Sammhing 

Prof.  Meykr-Steineg). 


36 


Die  altägyptische  Medizin. 


Abb.   i8.     Operationsszene  (Zirkumzission)    aus    der  Nekropole  von  Sakkarah  (mit  Geneh- 
migung des  Verf.  aus  Holländer,  Plastik  und  Medizin). 


Die  altägyptische  Medizin.  37 

man  aus  einer  gewissen  Reichhaltigkeit  des  Instrumentariums,  wie 
sie  in  einer  Reihe  von  Funden  zutage  tritt,  einige  Rückschlüsse 
auf  die  damit  vorgenommenen  Operationen  ziehen.  Für  die  chirur- 
gischen Leistungen  bei  der  Behandlung  von  Knochenbrüchen  haben 
wir  greifbare  Zeugnisse  in  zahlreichen  gut  verheilten  ^lumienknochcn. 
Unter  den  bereits  oben  (S.  29)  erwähnten  Sondergebieten  der 
äg}^ptischen    Medizin    steht    obenan    die    Augenheilkunde.      Welche 


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Abb.   19.     Instrumentenschrank.     Relief  vom  Tempel  zu  Köm  Omboi  in  Ägypten  (nach 
Holländer,  Plastik  und  Medizin,  mit  Genehmigimg  des  Verf.). 

Wichtigkeit  ihr  eingeräumt  wurde,  sieht  man  daraus,  daß  der  Ver- 
fasser des  Papyros  Ebers  ihr  einen  ziemlich  umfangreichen  Abschnitt 
widmet.  Von  den  Augenleiden  sind  in  erkennbarer  Weise  geschildert 
mehrere  Arten  von  Erkrankungen  der  Lider,  der  Bindehaut,  der 
Hornhaut,  der  Regenbogenhaut  sowie  das  Schielen.  Sie  scheinen 
sämtlich  als  rein  örtliche  Leiden  aufgefaßt  worden  zu  sein.  Einzelne 
Symptome  sind  durchaus  richtig  dargestellt.  Auch  die  Therapie 
zeigt  im  allgemeinen  einen  rationellen  Charakter,  wenn  auch  einzelne 


38 


Die  altägyptische  Medizin. 


Beschwörungsformeln  eingestreut  sind.  Sie  weist  einige  noch  heute 
gebräuchliche  Mittel  auf,  wie  vor  allem  Blei-  und  Kupfersalze  in 
verschiedener  Zubereitung.  Gegen  Ohren-  und  Zahnkrankheiten 
finden  sich  im  Pap3Tos  Ebers  nur  einige  Rezepte. 


Dagegen  nimmt  die  Gynäkologie  und  Geburtshilfe  in  der  äg3^p- 
tischen  Medizin  einen  ziemlich  breiten  Raum  ein.  Namentlich  be- 
faßt sich  mit  diesen  Zweigen  der  bereits  oben  erwähnte  (S.  27)  Pap3T0s 
von  Kahun.  Die  Diagnostik  der  Schwangerschaft  wird  unter  ver- 
schiedenen Gesichtspunkten  behandelt.  Ferner  finden  sich  Verord- 
nungen zur  Beförderung  der  Konzeption,  zur  Anregung  der  Wehen- 
tätigkeit und  der  Milchabsonderung ;  sie  bestehen  vorwiegend  in  ört- 
lichen   Applikationen.      Von    Frauenleiden    werden    namentlich    die 


■^^-^Trf^f^"^ 


Abb.  20.     Altägyptische  Darstellung  einer  Niederkunft  (aus  Sakkarah).     Aus  Holländer, 
Plastik  und  ISIedizin,  mit  Genehmigung  des  Verf. 

Störungen  der  Menstruation  behandelt,  aber  auch  die  Erkrankungen 
der  Brüste  und  Genitalorgane.  Die  gynäkologische  Diagnostik  kenn- 
zeichnet folgende  Vorschrift  des  Pap3^ros  Ebers  (97):  ,,\Venn  du  ein 
Weib  untersuchst,  das  viele  Jahre  gelebt  hat,  ohne  daß  ihre  Men- 
struation eingetreten  ist,  sie  bricht  etwas  wie  Schlamm  aus,  und  ihr 
Leib  ist,  wie  wenn  Feuer  darunter  wäre,  aber  sie  erholt  sich  wieder 
nach  dem  Brechen,  so  sag  du  zu  ihr:  ,es  ist  ein  Steigen  von  Blut 
in  ihre  Gebärmutter  u.  s.  w.'."  Die  Behandlung  ist  in  fast  allen  Fällen 
vorwiegend  örtlich  und  besteht  in  Spülungen,  Sitzbädern,  Räuche- 
rungen, Einführen  von  arzneilichen  Pessaren  u.  ä.  m. 


Ist  nach  den  vorstehenden  Ausführungen  das  Wissen  und  Können 
der  altägyptischen  Aerzte  in  der  Beurteilung  und  Behandlung  der 
Krankheiten   bereits  recht   ansehnlich,   so   wird   es   doch   weit  über- 


Die  altägyptische  Medizin.  39 

troffen  auf  einem  Gebiete,  das  in  jener  alten  Zeit  nur  zum  geringsten 
Teile  unter  den  ärztlichen  Beruf  fiel:  der  Hygiene.  Wenn  Herodot 
die  Aeg3'pter  für  das  gesundeste  Volk  (neben  den  L3^biern)  erklärt, 
wenn  DiODOR  sagt :  „Die  ganze  Lebensweise  (der  Aegypter)  war  so 
gleichmäßig  geordnet,  daß  man  hätte  meinen  können,  sie  wäre  nicht 
von  einem  Gesetzgeber  vorg^eschrieben,  sondern  von  einem  tüchtigen 
Arzte  nach  den  Regeln  der  Gesundheit  berechnet",  so  zeugt  das 
beides  von  der  Wertung,  deren  sich  die  äg3'ptische  Hygiene  schon 
im  Altertum  erfreute.  Durchführbar  war  sie  freilich  nur  dadurch, 
daß  ihren  Regeln  die  Form  religiöser  Gebote  gegeben  wurde.  Das 
gilt  für  das  Bestattungswesen,  für  die  streng  gehandhabte  Fleisch- 
beschau, für  die  Gebote  über  die  Reinhaltung  der  Wohnungen, 
der  Kleidung  und  des  Körpers,  über  die  Ernährung,  den  Geschlechts- 
verkehr, kurz  für  fast  die  gesamte  Lebensführung  des  einzelnen  wie 
der  Allgemeinheit.  Alle  diese  Vorschriften  beweisen,  daß  die  Er- 
kenntnis, man  könne  leichter  Krankheiten  verhüten  als  heilen,  bei 
den  alten  Aeg}^ptern  v^oUkommen  Gemeingut  war.  Daß  auch  die 
Aerzte  auf  dem  gleichen  Standpunkte  standen,  ergibt  sich  aus  der 
prophylaktischen  Empfehlung,  daß  auch  der  Gesunde  in  gewissen 
Zwischenräumen  seinen  Körper  durch  Brech-  und  Abführmittel  ent- 
leeren solle. 

Wir  haben  also,  alles  in  allem  genommen,  in  der  ägyptischen 
ebenso  wie  in  der  altbabylonischen  Medizin  Leistungen  vor  uns,  die 
bei  ihrer  Vermengung  von  empirischem  Rationalismus  und  religiösem 
Mysticismus  zwar  der  äußeren  Form  nach  sich  nicht  sehr  weit 
über  das  Können  mancher  begabter  Naturvölker  erheben,  ihren  tat- 
sächlichen Wirkungen  nach  aber  eine  vortreffliche  Grundlage  für 
die  weitere  Entwicklung  einer  höheren  Medizin  abgaben.  Und  wenn 
diese  altorientalischen  Völker  über  die  Ansammlung  von  Einzelkennt- 
nissen und  einzelnen  Heilmaßnahmen  nicht  herausgekommen  sind, 
so  lag  dieses  vor  allem  daran,  daß  die  bei  ihnen  herrschende  Ueber- 
schätzung  der  Tradition  durch  fortwährendes  Mitschleppen  des  Alt- 
hergebrachten das  Neue  nur  so  weit  aufkommen  ließ,  wie  es  sich 
ohne  weiteres  dem  Alten  anfügte.  Es  bedurfte  also  eines  von  einem 
anders  gearteten  Geiste  beseelten  Volkes,  um  diese  Hemmungen  zu 
überwinden  und  dadurch  die  Medizin  auf  eine  höhere  Stufe  der  Voll- 
endung zu  heben.     Dieses  Volk  aber  waren  die  Griechen. 


Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 

Die  vorhippokratische  Zeit. 

Wie  die  Zusammenhänge  zwischen  der  griechischen  und  der 
altorientalischen  Kultur  überhaupt  noch  wenig  aufgeklärt  sind,  so 
fehlt  uns  einstweilen  auch  noch  jede  genauere  Kenntnis  von  den 
Beziehungen,  welche  zwischen  der  Heilkunde  der  beiden  Kultur- 
bereiche bestanden  haben.  Die  Tatsachen  aber,  welche  man  heute 
als  feststehende  betrachten  darf,  beweisen  immerhin  zur  Genüge, 
daß  die  griechische  Heilkunde  nicht  ohne  Anlehnung  an  die- 
jenige des  alten  Orients,  namentlich  Babyloniens  und  Aegyptens, 
sich  entwickelt  hat.  Das  ist  ja  auch  keineswegs  verwunderlich; 
denn  zuverlässigen  Nachrichten  zufolge  haben  schon  in  früher  Zeit 
griechische  Aerzte  teils  freiwillig,  teils  gezwungen  die  Länder  des 
Ostens  besucht.  Und  weiterhin  macht  die  Entstehung  der  ältesten 
und  bedeutendsten  griechischen  Aerzteschulen  von  Rhodos,  Kos 
und  Knidos  —  gerade  an  den  Hauptverkehrspunkten  mit  dem 
Orient  —  einen  Zusammenhang  wahrscheinlich. 

Trotz  unbestreitbarer  Einflüsse  der  altorientalischen  Medizin  und 
vielfach  ganz  im  Gegensatz  zu  ihr  hat  sich  aber  die  griechische 
Heilkunde  in  einer  durchaus  selbständigen  Weise  bis  zu  einer  Höhe 
der  Auffassung  und  des  Könnens  entwickelt,  wie  sie  erst  in  der 
neuesten  Zeit  wieder  erreicht  worden  ist.  Es  ist  schwer  zu  sagen, 
worauf  diese  Tatsache  beruht.  Waren  es  völkische  Eigenarten  des 
Griechenstammes,  eine  besondere  geistige  Veranlagung,  überhaupt 
irgendwelche  inneren  Gründe?  Oder  waren  es  mehr  oder  weniger 
zufällige  äußere  Verhältnisse  ?  Sicher  ist,  daß  die  ganz  andere  Rolle, 
welche  die  Religion  in  Griechenland  spielte,  bei  der  Ausgestaltung 
ihrer  Heilkunst  mitbestimmend  gewirkt  hat.  Denn  niemals  haben 
in  Griechenland  religiöse  Vorstellungen  einen  so  starken  Einfluß 
auf  das  geistige  Leben  und  Fühlen  ausgeübt,  wie  bei  den  alt- 
orientalischen Völkern ;  und  zu  keiner  Zeit  hat  das  gesamte  Handeln 
des  griechischen  Menschen  in  einer  solchen  Abhängigkeit  von  einer 
mächtigen  Priesterkaste  gestanden.  Das  macht  sich  zwar  nicht  so- 
gleich in  dem  früheren  Kulturstadium  bemerkbar,  wohl  aber  in 
einem   gewissen    Punkte   der   Entwicklung:    in   dem   entscheidenden 


Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 


41 


Augenblick,  in  welchem  das  Nachdenken  über  das  Warum  und 
Wie  der  Dinge  an  sich  die  Gefahr  einer  Beeinflussung  durch  die 
Religion  nahegerückt  hatte. 

Die  älteste  Form,  in  der  uns  die  Heilkunde  bei  den  Griechen 
entgegentritt,  ist  wieder  eine  einfache,  dabei  aber  gesunde  Empirie, 
wie  sie  eben  bei  einem  jeden,  in  inniger  Gemeinschaft  mit  der 
Natur  lebenden  Volke  sich  findet.  Die  Medizin  der  Ilias,  der  ältesten 
griechischen  Quelle  (sie  führt  uns  in  die  Zeit  um  oder  vor  1 000  v.  Chr.) 


Abb.  21.     Altgriechisches  Vasenbild:   ein  Kri^er  I^t  dem  anderen  einen  kunstgerechten 

Oberarmverband  an. 


trägt  ganz  den  Charakter  der  Volksmedizin.  Was  war  selbstver- 
ständlicher, als  daß  ein  jeder,  so  gut  er  konnte,  im  Notfälle  Heil- 
hilfe leistete?  Und  solche  Fälle  treten  bei  dem  wildbewegten  Leben 
der  Homerischen  Helden  recht  oft  ein,  Sie  erheischen  nicht  nur 
Darreichung  stärkender  Tränke,  sondern  vor  allem  auch  chirurgische 
Hilfe  bei  den  vielfachen  Verwundungen.  Und  Leute,  die  sich  durch 
besondere  Uebung  oder  Erfahrung  in  dem  Bereiten  von  Arznei- 
mitteln her\ortaten,  waren  begreiflicherweise  besonders  gesucht  und 


42  Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 

wurden  mit  dem  Titel  „TroXD'^äpp.axoi"  ausgezeichnet,  worunter  frei- 
lich immer  wirkliche  Aerzte  zu  verstehen  sind. 

Solche  Berufsärzte  erscheinen  dann  häufiger  in  der  Odyssee, 
dem  jüngeren  der  beiden  Heldengedichte,  das  im  ganzen  eine  bereits 
weiter  fortgeschrittene  Kultur  und  namentlich  einen  sozial  höheren 
Standpunkt  widerspiegelt.  Diese  ,Jatroi",  welche  man  zu  den  so- 
genannten Demiurgen,  d.  h.  den  im  öffentlichen  Interesse  tätigen 
Leuten  zählte,  erfreuten  sich  eines  hohen  Ansehens.  „Denn  der 
Arzt"  —  so  singt  Homer  —  „ist  ein  Mann,  der  viele  andere  auf- 
wiegt." Sie  übten  ihren  Beruf,  wie  die  anderen  Demiurgen,  ge- 
wöhnlich in  der  Weise  aus,  daß  sie  sich  von  den  Kranken,  die 
ihrer  bedurften,  ins  Haus  rufen  ließen,  wofür  ihnen  dann  ein  Ehren- 
sold —  sehr  oft  wohl  in  Naturalien  —  zuteil  wurde. 

Die  Medizin  selbst  in  der  Odyssee  enthält  noch  die  gleichen 
Elemente,  wie  in  der  llias;  nur  beginnen  bereits  religiös  -  aber- 
gläubische Gebräuche  in  sie  einzudringen:  neben  den  rein  empi- 
rischen Heilmaßnahmen  wird  in  schlimmen  Fällen  der  Zauberspruch 
(sTTwSy])  angewandt. 

Im  einzelnen  betrachtet  sind  die  Schilderungen  mancher  Krank- 
heitszuständc,  namentlich  aber  der  Verletzungen,  von  äußerster 
Lebendigkeit  und  Naturtreue,  ohne  daß  dabei  die  nach  unserer 
'Auffassung  erforderlichen  anatomisch  -  physiologischen  Grundkennt- 
nisse über  das  hinausgehen,  was  man  gelegentlich  einer  Verwun- 
dung sehen  konnte. 

Der  Arzneischatz  ist  freilich  noch  recht  wenig  reichhaltig; 
wenigstens  ist  die  Zahl  der  mit  Namen  benannten  Mittel  sehr  gering. 
Im  allgemeinen  begnügt  sich  der  Dichter  damit,  schlechthin  von 
den  „Heiltränken"  oder  den  „lindernden  Mitteln"  zu  sprechen. 


In  der  folgenden  Zeit  sind  dann  —  soweit  man  dies  nach  der 
verhältnismäßig  spärlichen  Literatur  von  HesiüD  im  8.  Jahrhundert 
an  beurteilen  kann  —  mystische  Ideen  und  Gebräuche  in  steigen- 
dem Maße  in  die  griechische  Medizin  eingedrungen.  Die  Ver- 
sorgung des  Volkes  mit  wirklichen  Berufsärzten  war,  wie  es  scheint, 
so  wenig  zureichend,  daß  der  gewöhnliche  Mann  im  Notfalle,  wo 
ärztliche  Hilfe  nicht  zur  Stelle  war,  zu  Zaubersprüchen  und  Be- 
schwörungen seine  Zuflucht  nahm.  Diese  Neigung  wurde  sicher- 
lich nicht  wenig  unterstützt  durch  die  Einrichtung  besonderer  Heilig- 
tümer, in  denen  eine  heil-  und  gesundheitbringende  Gottheit  verehrt 
und  von  den  Kranken  um  Rat  befragt  wurde.  So  entwickelten 
sich  in  den  verschiedenen  Gegenden  Griechenlands  eine  ganze 
Menge   von    Kultstätten,    die    bald  dieser,    bald  jener   Gottheit    ge- 


Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 


43 


weiht   waren:   wie  Trophonius  zu  Lebadea,   Amphiaraos  zu  Oropas 


u.  a.  m. 

nur    als 

trieben. 

Als 


Gottheiten, 
Nebenberuf 


die 
be- 


aber  die  Hcilunsf  von  Kranken  cfleichsam 


wirklicher  Heil- 
gott wurde  vom  7.  Jahr- 
hundert V.  Chr.  an  wahr- 
scheinlich Asklepios 
verehrt  und  die  ihm  ge- 
weihten Kultstätten  ver- 
breiteten sich  dann  im 
Laufe  der  folgenden  Jahr- 
hunderte über  ganz  Grie- 
chenland und  nahmen  der- 
art an  Ansehen  zu,  daß 
sie  als  Wallfahrtsorte;  für 
Kranke  alle  anderen  in 
den  Schatten  stellten.  In 
diesen  Kultstätten  ging 
daim  ein  Zweig  der  grie- 
chischen Heilkunde  seiner 
weiteren  Entwicklung  ent- 
gegen :  die  sogenannte 
Tempelmedizin.  An  und 
für  sich  bestand  somit 
auch  für  die  griechische 
Heilkunde  die  gleiche  Ge- 
fahr wie  für  diejenige 
Aeg}'ptens  und  Babylo- 
niens,  daß  nämlich  durch 
ein  Ueberwuchern  des 
religiös  -  mystischen  Ele- 
ments ihre  gesunden  Ent- 
wicklungskeime abgetötet 
wurden.  Dieser  Gefahr  ent- 
gingen die  Griechen  da- 
durch, daß  neben  dem  in 
den  Asklepiostempeln  auf- 
blühenden Heilbetrieb  die 
alte  empirische  Medizin 
ihren  ruhigen  Gang  weiter 
ging,  daß  neben  den  Heilkunde  treibenden  Priestern  ein  wirklicher 
Aerztestand    sich    ausbildete,    der    trotz    der    mannigfachen    Fäden, 


Abb. 


32.      Antike    Asklepios-Statue    aus    Epidauros. 
Nach  HoliAnder.  Plastik  und  Medizin. 


44 


Die  Medizin  im  klassischen  Altertum 


welche  zwischen  beiden  Berufsgruppen  herüber  und  hinüber  liefen, 
seine  ganz  selbständigen  Wege  einschlug,  welche  weit  ab  von  denen 
des  Asklepioskultes  führten. 

Dieser  Kult  selbst  wuchs  sich  an  manchen  der  ihm  geweihten 
Stätten  zu  einem  wahren  Heilschwindel  aus,  nicht  nur  nach  unseren 
heutigen  Begriffen,  sondern  —  wie  wir  aus  den  Mitteilungen  mancher 
alten  Schriftsteller  und  den  Anzüglichkeiten  vieler  Dichter  sehen  — 
auch  in  den  Augen  der  Griechen  selbst.    Ein  Ort  wie  das  alte  Epi- 

dauros  auf  der  Halbinsel 
Argolis,  das  im  4.  Jahr- 
■  hundert  v,  Chr.  das 
-  Musterbeispiel  eines  der- 
artigen Asklepiosheilig- 
tums  (man  nannte  diese 
Stätten  „Asklepieien") 
war,  ist  durchaus  mit 
manchem  unserer  mo- 
dernen Wallfahrtsorte  zu 
vergleichen,  wie  etwa 
Lourdes  oder  Kevelaar. 
Schon  die  ganze  An- 
lage von  Epidauros  ver- 
rät seinen  Charakter  als 
Ktiltstätte.  Die  vorhan- 
denen natürlichen  HeiU 
mittel  sind  geringfügig 
und  würden  schwerlich  Veranlassung  zur  Gründung  des  Heilig- 
tums gerade  an  dieser  Stelle  gegeben  haben.  Gutes  Trinkwasser 
mußte  ziemlich  weither  geführt  werden,  und  die  geringe  Erhebung 
des  Talgrundes  über  Meereshöhe  wurde  im  Altertum  ebensowenig^ 
wie  heute  als  gesundheitlich  günstig  angesehen.  Der  Grund  für  die 
Entstehung  des  Asklepieions  war  vielmehr  ein  religiöser:  der  Heil- 
gott sollte  an  diesem  Orte  geboren  sein. 

Den  Mittelpunkt  der  ganzen  Anlage  bildete  ein  großer  Asklepios- 
tempel,  einer  der  schönsten  und  kostbarsten  des  Altertums  über- 
haupt. Um  ihn  gruppierten  sich  dann  eine  Reihe  anderer  Gebäude, 
welche  zum  Teil  ebenfalls  kultischen  Zwecken,  zum  anderen  Teil  zur 
Unterbringung  und  Unterhaltung  der  Besucher  dienten.  Dazu 
gehörten  ein  schönes  Theater,  ein  Stadion,  ein  Hippodrom  u.  a.  m. 
Nach  dort  zogen  nun  tagtäglich  aus  der  ganzen  Umgebung,  teilweise 
sogar  aus  den  entferntesten  Teilen  Griechenlands  Kranke  und  Ge- 
brechliche zu  Fuß,  zu  Wagen  und  auf  Reittieren. 

Einen  besonderen  Umfang  aber  nahm  der  Zustrom  der  Heilung- 


Abb.  23. 


Ansicht  von  Epidauros,  im  Vordergrunde  das 
berühmte  Theater. 


Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 


45 


suchenden  an  den  dem  Gotte  geweihten  Festtagen  an.  Während  die 
Kranken  durch  religiöse  Zeremonien  —  zu  denen  Waschungen, 
Bäder,  Gebete,  Opfer,  Fasten  u.  ä.  gehörten  —  vorbereitet  wurden, 
suchten  die  Priester  durch  allerlei  Mittel  einen  geeigneten  Boden  für 
die  eigentliche  göttliche  Betätigung  des  Asklepios  vorzubereiten. 
Hierzu  rechnete  vor  allem  die  Betrachtung  und  das  \"orlesen  der 
sogenannten  Trtvaxs?,  wie  sie  die  Ausgrabungen  in  Epidauros  zutage 
gefördert  haben.  Dies  waren  Marmortafeln,  auf  denen  eine  große 
Zahl  von  wunderbaren  Heilungen  des  Asklepios  aufgezeichnet  waren. 
Solche  Berichte  (täftata)  lauteten  beispielsweise: 

„Ambrosia  aus  Athen,  auf  einem  Auge  blind.  Sie  kam 
hilfesuchend  zum  Gotte,  aber  beim  Umhergehen  im  Heiligtum 
spottete  sie  über  manche  Heilberichte.  Es  sei  unglaublich  und 
unmöglich,  daß  Lahme  und  Blinde  durch  bloßes  Träumen  gesund 
werden  könnten.  Aber  im  Schlafe  hatte  sie  einen  Traum.  Es 
däuchte  ihr,  der  Gott  trete  zu  ihr  und  verspreche  ihr,  sie  gesund 
zu  machen;  nur  müsse  sie  als  Lohn  ein  Weihgeschenk  in  den 
Tempel  stiften,  und  zwar  ein  silbernes  Schwein,  zum  Andenken 
an  ihre  Dummheit.  Xach  solcher  Rede  habe  er  ihr  das  kranke 
Auge  aufgeschnitten  und  Balsam  eingeträufelt.  Als  es  Tag  ge- 
worden, ging  sie  gesund  von  dannen." 

„Mann  mit  Geschwür  im  Unterleib.  Er  sah  im  Schlafe 
ein  Gesicht.  Es  däuchte  ihm,  der  Gott  gebe  seinen  ihm  folgen- 
den Dienern  den  Befehl,  ihn  zu  fesseln  und  festzuhalten,  damit 
er  den  Leib  aufschneiden  könne.  Er  selbst  habe  fliehen  wollen, 
jene  aber  hätten  ihn  ergriffen  und  an  dem  Türring  festgebunden. 
Darauf  habe  Asklepios  den  Leib  aufgeschnitten,  das  Geschwür 
herausgeschnitten,  ihn  wieder  zugenäht,  und  er  sei  der  Fesseln 
entledigt  worden.  Und  danach  kam  er  gesund  heraus.  Der 
Fußboden  des  Allerheiligsten  aber  war  voller  Blut." 

Wenn  nun  auf  diese  Weise  die  Kranken  in  die  erforderliche 
mystisch-religiöse  Stimmung  versetzt  waren,  so  folgte  der  wichtigste 
Akt:  der  sogenannte  Tempelschlaf  (incubatio,  i^xot^j-T^ot?).  Man  ver- 
brachte die  Kranken  in  das  Abaton,  einen  dem  Tempel  angegliederten, 
wahrscheinlich  in  eine  größere  Zahl  von  Einzelgemächern  geteilten 
Raum,  und  ließ  sie  dort  über  Nacht.  Unter  dem  Einfluß  des  vorher 
Erlebten  und  in  ihrer  ganzen  Phantasie  völlig  auf  die  wunderbare 
Heilung  eingestellt,  die  ihrer  wartete,  träumten  begreiflicherweise 
die  Hilfesuchenden  sehr  oft  etwas  auf  ihr  Leiden  Bezügliches,  Unter- 
stützt wurde  diese  Suggestion  häufig  noch  durch  die  Priester,  welche 
nachts  in  der  Maske  des  Gottes  selbst,  begleitet  von  Priesterinnen 
und   Dienern,  den   Kranken   im   Abaton   erschienen.     Vielfach  sind 


46 


Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 


die  Kranken  sogar  gleich  von  dem  Pseudo-Gotte  behandelt  worden. 
Einstreichen  von  Augenmitteln,  ja  sogar  blutige  Operationen  scheinen 
vorgenommen  worden  zu  sein.  Wenigstens  deuten  manche  von  den 
Heilberichten  darauf  hin.  Natürlich  würde  dieses  entweder  eine  ge- 
wisse Sachkenntnis  der  Priester  oder  aber  deren  Unterstützung  durch 
wirkliche  Aerzte  voraussetzen.  Beide  Möglichkeiten  bleiben  offen. 
Wenn  nun  aber  die  ^^^^^^^^^  '^uf  hysterisch-neurasthe- 
Heilung  des  Kranken  ^^^^^^!^H  nischer  Grundlage  einge- 
nicht  gleich  während  des  ^^^^r  WM  treten  sein  —  so  pflegten 
Tempelschlafes  erfolgte  —     ^^^  '^B    die  Priester  sich  anderen 

dieser    Erfolg    wird     be-    ^^^i|"       v    Tages    Bericht     erstatten 
sonders     oft     bei    Leiden    B^^k         m    zu   lassen    über   das,   was 


Abb.  24. 


Abb.   25. 


Abb.  26. 


Abb.   24.     Votive  aus  Alt-Kreta,  Frau  mit  Kind  im  Mutterleib  und  "Wickelkind    (Samm- 
lung Prof.  Meyer-Steineg). 
Abb.  25.     Altkretisches  Votiv,  halbseitige  Lähmung  darstellend. 
Abb.  26.     Altkretisches  Votiv,  Frauenkörper  mit  sichtbarer  Gebärmutter. 


der  Kranke  etwa  geträumt  habe.  Der  mitgeteilte  Traum  wurde  dann 
gedeutet,  d.  h.  in  Wirklichkeit  mit  dem  bereits  vorher  festgelegten 
Heilplan  in  Uebereinstimmung  gebracht,  und  darauf  eine  Behand- 
lung aufgebaut,  welche  angeblich  im  Auftrage  des  Gottes  befohlen 
und  mit  irgendwelchem  religiösen  Mäntelchen  umkleidet  wurde. 
Den  Kern  solcher  Verordnungen  bildeten  gewöhnlich  Diätvor- 
schriften, Bäder,  Luftveränderung,  Bewegung,  psychische  Mittel  ver- 
schiedenster Art,  wie  namentlich  geistige  Ablenkung.  Arznei- 
liche Behandlung  war  eine  Ausnahme.  Hatte  dann  die  „Kur"  Erfolg 
gehabt,  die  wundertätige  Kraft  des  Asklepios  sich  also  wieder  be- 
tätigt,  so    war   es  fromme  Pflicht  für  den  Kranken,   sich  dem  Gotte 


Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 


47 


erkenntlich  zu  zeigen.  Und  das  geschah  mit  Rücksicht  darauf,  daß, 
wenn  auch  nicht  Asklepios  selbst,  so  doch  seine  Priester  einen 
irdischen    Machen    und    die    sonstigen    Bedürfnisse    der    Sterblichen 


Abb.  27. 


Abb.    2J 


Abb.  29. 


Abb.  30. 


Abb.  27.     Altgriechisches  Aiigenvotiv  (Sammlung  Prof.  Meyer-Steineg). 

Abb.  28.   Altgriechisches  Votiv,  Wickelkind  darstellend  (Sammlung  Prof.  Meyer  Steineg). 

Abb.   29.     Altgriechische   Terrakott- Weihgabe    einer   unterleibskranken    Frau   Archestrate 

(Sammluug  Piof.  Meyer-Steineg). 

b.  30.    Altgriechisches  Votiv :  Gebärmutter  und  Blase  (Sammlung  Prof.  Meyer-Steineg). 

hatten,  durch  Darbringung  einer  Dankesgabe,  welche,  zumeist  den 
ehemals  kranken  Körperteil  des  Geheilten  darstellend,  je  nach  dessen 
Vermögen  in  (xold,  Silber,  Elfenbein  usw.  verfertigt  wurde. 


48  Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 

Mag  nun  auch  in  den  zahlreichen  Kultstätten  des  Asklepios 
nicht  überall  in  der  gleichen  Weise  verfahren  worden  sein,  mag  in 
der  einen  mehr  unbewußter  frommer  Betrug,  in  den  anderen  beab- 
sichtigter .Schwindel  die  Grundlage  des  Heilbetriebes  gewesen  sein 
—  man  denke  auch  hier  wieder  zum  Vergleiche  an  moderne  Wall- 
fahrtsorte —  sicherlich  war  überall  das  hauptsächlichste  Mittel  zum 
Zweck  eine  planvolle  suggestive  Beeinflussung  des  Kranken,  hinter 
der  alles  andere  weit  zurücktrat. 

Trotz  alledem  entwickelten  sich  einzelne  derartige  Asklepieien 
zu  wirklichen  Heilstätten  im  ärztlichen  Sinne,  eine  Tatsache,  die  mehr 
als  alles  andere  die  unbeirrbare  Selbständigkeit  des  ärztlichen  Ge- 
dankens bei  den  Griechen  dartut.  Freilich  waren  dann  diese  Stätten, 
w^elche  allen  mystisch-religiösen  Aufputz  verschmähten,  den  Priestern 
von  Epidauros  ein  Dorn  im  Auge.  Der  Asklepioskult  hatte  an 
solchen  Orten  eine  ganz  andere  Bedeutung.  Er  entsprang  lediglich 
den  religiösen  Bedürfnissen  der  Aerzte  selbst.  Die  ruhige  Frömmig- 
keit, deren  sich  auch  der  gebildete  Grieche  keineswegs  schämte, 
ferner  die  Erkenntnis  der  Grenzen,  welcher  seiner  Kunst  gesteckt 
waren,  ließen  den  Arzt  dort,  wo  er  nicht  mehr  weiter  konnte,  willig 
den  Gott  eintreten,  den  er  als  seinen  Schutzpatron  verehrte.  Und 
ebenso  wie  wir  genau  wissen,  daß  an  vielen,  dem  Asklepios  ge- 
weihten Orten  rein  ärztlich  behandelt  worden  ist,  ebenso  können  wir 
uns  sehr  wohl  den  HiPPOKRATES  vorstellen,  wie  er  dem  Gotte  für 
eine  gelungene  Heilung  ein  Dankopfer  darbringt. 

Die  Heimat  des  HiPPOKRATES  selbst  war  es  denn  auch,  welche 
eine  der  berühmtesten  derartigen  Stätten  aufzuweisen  hatte:  die 
Insel  Kos  an  der  Südwestspitze  Kleinasiens,  wo  sich,  wie  oben 
schon  erwähnt  wurde,  dicht  beieinander  mehrere  Pflegestätten  der 
Medizin  entwickelten.  Man  kann  geradezu  von  einem  Brennpunkte 
der  medizinischen  Kultur  sprechen,  denn  von  hier  gingen  seit  dem 
6.  Jahrhundert  v.  Chr.  wie  leuchtende  Strahlen  eine  große  Menge 
tüchtiger  und  hochangesehener  Aerzte  aus,  um  weithin  ihre  Kunst 
zu  verbreiten. 


Wenn  nun  auch  die  Heilkunde  sich  vollkommen  selbständig 
entwickelte,  so  bestanden  doch  zwischen  ihr  und  der  altgriechischen 
Philosophie  mannigfache  Beziehungen,  welche  zum  Teil  einen  be- 
fruchtenden Einfluß  ausgeübt  haben.  Die  naturforschenden  Philo- 
sophen haben  von  ältester  Zeit  her  als  eines  der  wichtigsten 
Probleme  die  Erklärung  der  Lebens  Vorgänge  behandelt.  Als  einer 
der  ersten  befaßte  sich  Pythagoras  mit  der  Entstehung  der  Lebe- 
wesen,  die   er   als   vom  Samen   bedingt   erkannte.     Alkmaion  von 


Die  Medizin  im  klassischen  Altertum.  4g 

Kroton  war  der  erste,  der  Sektionen  von  Tieren  und  mannigfache 
anatomisch-ph3'siologische  Untersuchungen  vornahm.  Er  erkannte 
im  Gehirn  das  Zentralorgan  aller  Geistestätigkeit.  Ihm  folgte  Axaxa- 
GORAS,  der  namentlich  die  ersten  Versuche  der  Gehirnzergliederung 
machte  und  die  meisten  akuten  Krankheiten  dadurch  zu  erklären 
glaubte,  daß  Galle  in  die  Blutbahn  oder  in  einzelne  Organe  dringe. 
Demokritos  beschäftigte  sich  eingehendst  mit  den  verschiedensten 
naturwissenschaftlich-medizinischen  Fragen.  Seine  Atomlehre,  seine 
Beobachtungen  über  den  Puls,  seine  Theorie  der  Entzündung,  welche 
diese  Krankheitserscheinungen  auf  Ansammlung  schleimiger  Sub- 
stanz zurückführte,  seine  Erklärung  der  Hundswut  als  einer  Ent- 
zündung der  Nerven  lassen  die  Vielseitigkeit  dieses  Mannes  er- 
kennen. 

Die  Aerzte  und  die  Krankenpflege. 

Es  ist  ohne  weiteres  zu  begreifen,  daß  die  Anschauungen  dieser 
Männer,  die  zum  Teil  selbst  Aerzte  waren,  einen  nicht  geringen 
Einfluß  auf  die  Lehren  der  griechischen  Aerzteschulen  gehabt  haben. 
Es  waren  aber  in  erster  Linie  die  in  enger  Nachbarschaft  liegenden 
Städte  Kos  und  Knidos,  die  Orte,  welche  den  Werdegang  der 
griechischen  Medizin  auf  das  nachhaltigste  beeinflußt  haben.  In 
diesen  beiden  Städten  hatten  sich  etwa  um  600  v.  Chr.  eine  ganze 
Reihe  von  „Asklepiaden"  niedergelassen.  Diese  Leute,  die  ihren  Ur- 
sprung auf  den  Gott  Asklepios  selbst  zurückführten,  waren  ursprüng- 
lich eine  Familie  blutsverwandter  ^Männer,  bei  denen  der  ärztliche 
Beruf  auf  dem  sicheren  Grunde  einer  ererbten  Anlage  vom  Vater 
auf  den  Sohn,  vom  Oheim  auf  den  Xeffen  überging.  Die  patriarcha- 
lischen Beziehungen  zwischen  den  einzelnen  Familienmitgliedern 
machten  jede  Festlegung  besonderer  ärztlicher  Vorschriften  entbehr- 
lich. Die  Familienüberlieferung  ersetzte  sie  vollkommen.  Als  dann 
aber  dem  steigenden  Bedürfnis  nach  ärztlicher  Hilfeleistung  die  As- 
klepiadenfamilie  nicht  mehr  nachzukommen  vermochte,  als  sie  sich 
vielmehr  gezwungen  sah,  auch  Jünglinge  fremden  Blutes  aufzunehmen 
und  sich  so  zu  einer  Aerztezunft  erweiterte,  da  blieb  auch  diese  den 
alten  Ueberlieferungen  treu:  sie  hielt  die  Vorstellung  von  der  Ver- 
wandtschaft ihrer  Mitglieder  aufrecht.  Aber  was  früher  selbstver- 
ständlich war  in  einer  durch  Bande  des  Blutes  zusammengehaltenen 
Gemeinschaft,  das  wurde  nun  von  den  fremden  Eindringlingen  aus- 
drücklich verlangt  und  satzungsgemäß  festgelegt.  Die  diesem  Zwecke 
dienende  Satzung  ist  uns  unter  dem  Titel  des  „Hippokratischen 
Eides"  erhalten  und  lautet: 

„Ich  schwöre  bei  ApoUon,  dem  Arzte,  bei  Asklepios,  Hygieia 

und  Panakeia  und  bei  allen  Göttern  und  Göttinnen,  indem  ich 

Meyer-Stcineg  u.  Sudhoff,  Illustr.  Geschichte  der  Medizin.  4 


50  Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 

sie  zu  Zeugen  mache,  daß  ich  diesen  meinen  Eid  und  diese 
meine  -Verpflichtung  erfüllen  werde  nach  Vermögen  und 
Verständnis,  nämlich  denjenigen,  welcher  mich  in  dieser  (ärzt- 
lichen) Kunst  unterwiesen  hat,  meinen  Eltern  gleich  zu  achten, 
sein  Lebensschicksal  zu  teilen,  ihm  auf  Verlangen  dasjenige, 
dessen  er  bedarf,  zu  gewähren,  das  von  ihm  stammende  Ge- 
schlecht gleich  meinen  männlichen  Geschwistern  zu  halten,  sie 
diese  Kunst,  wenn  sie  dieselbe  erlernen  wollen,  ohne  Entgelt 
und  ohne  schriftliche  Schuldverpflichtung  zu  lehren  und  die  Vor- 
schriften, Kollegien  und  den  ganzen  übrigen  Lehrstoff  meinen 
Söhnen  sowie  denen  meines  Lehrers  und  den  Schülern,  welche 
eingetragen  und  verpflichtet  sind  nach  ärztlichem  Gesetze,  mit- 
zuteilen, sonst  aber  niemandem. 

Diätetische  Maßnahmen  werde  ich  treffen  zu  Nutz  und  Frommen 
der  Kranken  nach  meinem  Vermögen  und  Verständnisse;  drohen 
ihnen  aber  Fährnis  und  Schaden,  so  werde  ich  sie  davor  zu  be- 
wahren suchen.  Auch  werde  ich  keinem,  und  sei  es  auf  Bitten, 
ein  tödliches  Mittel  verabreichen,  noch  einen  solchen  Rat  er- 
teilen, desgleichen  werde  ich  keiner  Frau  ein  Abtreibungsmittel 
geben.  Lauter  und  fromm  will  ich  mein  Leben  gestalten  und 
meine  Kunst  ausüben.  Auch  will  ich  bei  Gott  keinen  Blasen- 
steinschnitt  machen,  sondern  ich  werde  diese  Verrichtung  den- 
jenigen überlassen,  in  deren  Beruf  sie  fällt.  In  alle  Häuser  aber, 
in  welche  ich  auch  gehen  mag,  will  ich  kommen  zu  Nutz  und 
Frommen  der  Patienten,  mich  fernhaltend  von  jederlei  vorsätz- 
lichem und  schadenbringendem  Unrechte,  insbesondere  aber  von 
geschlechtlichem  Verkehre  mit  Männern  und  Weibern,  Freien 
und  Sklaven.  Was  ich  aber  während  der  Behandlung  sehe  oder 
höre  oder  auch  außerhalb  der  Behandlung  im  gewöhnlichen 
Leben  erfahre,  das  will  ich,  soweit  es  außerhalb  nicht  weiter- 
erzählt werden  soll,  verschweigen,  indem  ich  Derartiges  für  ein 
Geheimnis  ansehe." 

So  streng  sich  hiermit  die  altgriechische  Aerztezunft  in  dem  Be- 
streben, alle  ungeeigneten  und  unlauteren  Elemente  von  sich  fern- 
zuhalten, nach  außen  hin  abschloß,  so  fielen  unter  denen,  die  einmal 
in  die  heiligen  Hallen  der  Kunst  aufgenommen  worden  waren,  alle 
Schranken.  Nur  die  aus  eigenem  Willen  geborenen  Gesetze  regelten 
die  Beziehungen  zwischen  ihnen. 

Eine  derart  organisierte  Gemeinschaft  konnte  auch  dem  Staate 
die  Sorge  um  ihrer  Mitglieder  Verhalten  nach  außen  hin  abnehmen. 
Und  in  .der  Tat  bildeten  die  Verpflichtungen,  welche  dem  Jünger 
der  Heilkunst  bei  seinem  Eintritt  auferlegt  wurden,  einen  vollen  Er- 


Die  Medizin  im  klassischen  Altertum.  51 

satz  für  staatliche  Rechtssätze.  Neben  den  allgemeinen  moralisch- 
ethischen Gesetzen,  welche  die  Lebensführung  des  Arztes,  sein  Ver- 
halten gegen  seine  Kranken,  die  berufliche  Schweigepflicht  zum 
Gegenstand  haben,  stehen  besondere,  dem  ärztlichen  Berufe  ent- 
springende Gebote  und  Verbote.  Die  Verpflichtung  zur  Bevorzugung 
von  Diätverordnungen  bedeutet,  daß  der  Arzt  zunächst  die  einfachen 
Mittel  versuchen  soll.  Das  Verbot,  niemandem  zum  Selbstmord  oder 
zur  Fruchtabtreibung  behilflich  zu  sein,  entsprang  der  Notwendigkeit, 
diesen  beiden  im  Altertum  nicht  seltenen  Verbrechen  einen  Riegel 
vorzuschieben.  Und  schließlich  die  Ablehnung  der  „Blasenstein- 
operation" heißt  nichts  anderes,  als  daß  der  Arzt  Funktionen,  welche 
nach  den  damaligen  Anschauungen  zu  der  Betätigung  niederer  Heil- 
gehilfen gehörten,  nicht  selbst  übernehmen  soll. 

Die  Ausbildung  der  Aerzte  geschah  in  der  Weise,  daß  sich  der 
junge  Adept  einem  anerkannten  Arzte  anschloß  und  von  diesem 
vollkommen  in  seinen  Beruf  eingeführt  wurde.  Nach  vollendeter 
Ausbildung  scheinen  dann  mehr  oder  weniger  weite  Reisen  zur  Er- 
weiterung der  Kenntnisse  und  des  Gesichtsfeldes  vorgenommen 
worden  zu  sein.  Der  ganze  ärztliche  Unterricht  war  aber  lediglich 
eine  private  Angelegenheit. 

Dasselbe  gilt  in  älterer  Zeit  im  allgemeinen  auch  für  die  Aus- 
übung der  ärztlichen  Praxis.  Nur  bei  besonderen  Anlässen,  wie 
Feldzügen,  Belagerungen  und  Epidemien  pflegten  die  Gemeinden, 
in  denen  kein  Arzt  vorhanden  war,  sich  an  eine  der  Aerzteschulen 
zu  wenden  mit  der  Bitte  um  Uebervveisung  eines  ihrer  Mitglieder. 
In  einzelnen  griechischen  Kolonien  freilich  ist  offenbar  schon  um 
600  V.  Chr.  die  Schaffung  von  Gemeindearztstellen  (5rj[töaiot  larpot) 
üblich  gewesen.  Erst  gegen  Ende  des  5.  Jahrhunderts  war  diese 
Einrichtung  ziemlich  überall  auf  griechischem  Boden  eingebürgert. 
Die  Gemeinden  erhoben  eine  besondere  Aerztesteuer  (larpixöv),  aus 
deren  Erlös  die  Aerzte  nicht  nur  besoldet,  sondern  auch  oft  mit  der 
notwendigen  beruflichen  Einrichtung  versehen  wurden.  Im  übrigen 
stand  es  den  Aerzten  frei,  für  ihre  Tätigkeit  ein  Entgelt  anzunehmen, 
aber  sie  hatten  keinen  rechtlichen  Anspruch  darauf.  In  der  Regel 
wird  dieser  freiwillige  Ehrensold  in  der  Form  von  Naturalien  ge- 
leistet worden  sein.  Doch  erhielten  manche  Aerzte,  namentlich  für 
die  Behandlung  hochstehender  Leute,  namhafte  Honorare.  Neben 
den  eigentlichen  Aerzten  bestanden  besondere  Hilfskräfte,  welche 
die  mehr  mechanischen  Tätigkeiten  des  Sammeins  und  Her- 
richtens von  Arzneistoffen,  der  Unterstützung  bei  der  Ausübung 
des  Berufes,  Verabreichung  von  Bädern,  Umschlägen,  Einrei- 
bungen, Schröpfen  und  andere  Maßnahmen  der  niederen  Chirurgie 
versahen. 

4* 


52 


Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 


Die  Tätigkeit  der  Aerzte  spielte  sich  zu  einem  Teil  in  den  Woh- 
nungen ihrer  Kranken  selbst  ab,  zum  anderen  Teil  in  ihrer  eigenen 
Behausung.  Bei  Schwerkranken  scheint  das  erstere  die  Regel  ge- 
wesen zu  sein.  Und  daraus  erklärt  sich  auch  das  vollkommene 
Fehlen  öffentlicher  Krankenanstalten  in  älterer  Zeit.   Auch  die  Bereit- 


Abb.  31.    Das  sogenannte  „Haus  des  Chirurgen"  in  Pompeji  (nach  J.  Overbeck).    Raum  r 

Vorraum,  2  ärztlicher  Behandlungsraum,  6  Krankenräume,  5  Tnnenhof,  9  Operationsraum; 

die  übrigen  zum  Teil  Wirtschafts-  und  Nebenräume. 


Stellung  von  Unterkunfts-  und  Behandlungsräumen  für  ihre  Patienten 
war  lediglich  eigene  Angelegenheit  des  Arztes.  Dieser  sah  sich  also 
gezwungen,  seine  Behausung  so  einzurichten,  daß  er  in  ihr  nicht  nur 
ambulant  behandeln,  sondern  im  Notfalle  auch  Kranke  aufnehmen 
konnte. 

In   der  Tat   war  im  4.  Jahrhundert  v.  Chr.  die  Einrichtung  von 


Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 


53 


Krankenräumen  im  Hause  des  Arztes  allgemein  üblich,  so  daß  sehr 
viele  von  ihnen  ihre  eigene  Privatklinik  besaßen.  Man  nannte  diese 
Einrichtungen  schlechthin  „Jatreien"  (latpsia),  obwohl  darunter  ur- 
sprünglich nur  das  ärztliche  Arbeitszimmer  verstanden  wurde.  Dieses 
letztere  bildete  natürlich  den  wichtigsten  Teil  des  Ganzen.  Ein  !Muster- 
beispiel    für    ein    derartiges,    zur   Aufnahme    von    Kranken    mitein- 


nafssiab 


>c      a     -le      '■c     io     v)      >o      10     V      ;(»« 


Abb.  32.  Plan  des  Asklepieions  von  Kos  (nach  Herzog).  Der  Grundriß  vereinfacht  und 
etwas  schematisiert,  indem  die  meisten,  nicht  mit  dem  Heilbetrieb  in  Verbindung  stehen- 
den Anlagen  fortgelassen  sind,  und  die  Einteilung  der  um  die  Hallen  liegenden  Räume 
nur  annähernd  dem  Ausgrabungsbefunde  entspricht.  Der  Plan  gibt  den  ungefähren  Zu- 
stand der  Anlage  etwa  im  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  wieder. 

gerichtetes  Arzthaus  bildet  das  sogenannte  „Haus  des  Chirurgen"  zu 
Pompeji,  das  zwar  einer  viel  späteren  Epoche  entstammt,  in  seiner 
ganzen  Anlage  aber  vollkommen  dem  altgriechischen  Vorbilde  ent- 
spricht 

Neben  diesen  privaten  Kliniken  bestanden  nun,  wie  bereits  oben 
erwähnt  wurde,  vereinzelte  Asklepieien  als  öffentliche  Anstalten,  in 
welchen  Kranke  aufgenommen  und  von  wirklichen  Aerzten  behandelt 


54 


Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 


wurden.  Doch  kann  man  sie  keineswegs  als  staatliche  Kranken- 
anstalten bezeichnen;  denn  ihr  eigentlicher  Zweck  war  der,  jungen 
Aerzten  die  Möglichkeit  zur  Ausbildung  zu  gewähren.  Sie  waren 
also  ärztliche  Lehranstalten.  Das  Musterbeispiel  einer  solchen  Anlage 
ist  das  bereits  erwähnte  Asklepieion  zu  Kos. 


Abb.  33.     Lageplan  des  Asklepieions  von  Kos  (nach  einem  Gipsmodell  des  Verf.). 

Dieses  läßt  ganz  im  Gegensatz  zu  Epidauros  in  seiner  Anlage 
klar  erkennen,  daß  bei  ihr  ärztliche  Gesichtspunkte  die  Hauptrolle 
gespielt  haben.  Es  lag  eine  Stunde  von  der  gleichnamigen  Hafen- 
stadt in  100  m  Höhe  an  dem  die  ganze  Insel  durchziehenden,  un- 
gefähr 1000  m  hohen  Gebirgszug,  der  neben  der  fieberfreien  Lage 
einen  trefflichen  Schutz  gegen  die  bereits  im  Altertum  als  gesund- 
heitsschädlich gefürchteten  Südwinde  bot.  Vortreffliches  Quellwasser 
aus    einer    höher    gelegenen   Quelle   nahm    seinen    natürlichen    Lauf 


.Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 


03 


gerade  dort,  wo  das  Asklepieion  angelegt  wurde.  Sie  wurde  schon 
in  alter  Zeit  durch  ein  weitverzweigtes  Wassernetz  erweitert,  welches 
die  ganze  Anlage  versorgte.  Die  Gebäude  —  das  Bild  gibt  den  Zu- 
stand etwa  im  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  wieder  —  waren  vor  allem  zur 
Aufnahme  von  Kranken  eingerichtet.  Man  kann  geradezu  sagen, 
daß  (nach  Herzog)  „eine  Klinik  der  Asklepiaden  der  Kern  ist,  um 
den  sich  die  Heilanstalt  des  Asklepieions  gebildet  hat"  und  muß  als 
bestimmt  annehmen,  daß  diese  den  Aerzten  als  Unterrichtsanstalt 
gedient   hat.     Auf   beides   weisen   eine  Reihe   von  Funden  hin.     So 


Abb.  34.  Abb.  35. 

Abb.   34.     Altgriechisches  Votiv,   bauchwassersüchtige  Frau   darstellend   (Sammlung  Prof. 

Me  ver-Steineg)  . 
Abb.  35.     Altgriechisches  Votiv,   Frau   mit  Brusttumor   (Abguß  aus  der  Sammlung  Prof. 

Meyer-Steineg). 

waren  also  hier  alle  Vorbedingungen  für  eine  Aerzteniederlassung 
erfüllt,  welche  aus  sich  heraus  den  größten  Arzt  des  Altertums  her- 
vorbringen sollte,   HiPPOKRATES. 

Wenn  man  dessen  Bedeutung  vollkommen  verstehen  will,  so 
muß  man  vor  allem  auch  die  übrigen  Aerzteschulen,  besonders  die 
von  Knidos,  in  Betracht  ziehen,  welche,  in  unmittelbarer  Nachbar- 
schaft von  Kos  gegründet,  schon  im  6.  Jahrhundert  v.  Chr.  mit  ihm  in 
lebhaften  Wettbewerb  traten.  Denn  nur  aus  dem  Gegensatz  der  beiden 
hervorragendsten  Schulen   kann   man  Hippokrates   ganz   erfassen. 


56 


Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 


Abb.    36.     Votivrelief   aus    dem    Asklepieion   zu   Athen.     Mann    mit   krampfaderkrankem 
Bein  (nach  Holländer,  Plastik  und  Medizin). 


Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 


57 


Die  altgriechischen  Aerzteschulen. 

Mögen  beide  Gründungen  auch  in  ihrer  äußeren  Anlage  und 
ihrem  Betriebe  sich  sehr  ähnlich  gewesen  sein,  so  kann  man  sich, 
was  ihre  Lehren  anbetrifft,  kaum  größere  Gegensätze  denken.  Und 
diese  Gegensätze,  die  hier  zum  ersten  Male  deutlich  in  die  Erschei- 
nung treten,  um  dann  dauernd  durch  den  ganzen  Entwicklungsgang 
der  Medizin  bald  schroff  und  unvermittelt  gegeneinander,  bald  mehr 
friedlich  nebeneinander  zu  stehen,  verkörpern  sich  in  der  unterschied- 
lichen Betrachtung  der  Heilkunde  als  Kunst  oder  als  Wissenschaft. 

Die  Aerzte  von  Knidos  haben  zweifellos  die  letztere  Auffassung 
vertreten.  Sie  gingen  bewußt  darauf  aus,  eine  medizinische  Wissen- 
schaft zu  begründen.  Sie 
glaubten  dieses  Ziel  erreichen 
zu  können,  indem  sie  vor  allem 
bestrebt  waren,  eine  möglichst 
fein  ausgearbeitete  theore- 
tische Krankheitslehre  zu 
schaffen,  um  auf  ihr  dann  eine 
ebensolche  Therapie  aufzu- 
bauen, welche  sich  auf  ein 
für  alle  Male  festgelegte 
Grundsätze  stützte.  ^Mangels 
ausreichender  Kenntnisse  über 
den  Bau  und  die  Funktionen 
des  Körpers  sahen  die  Knidier 
sich  gezwungen,  ihre  Zuflucht 
zu  allerlei  Spekulationen  zu 
nehmen,  in  denen  die  An- 
schauung, daß  die  Krank- 
heiten zum  größten  Teile  auf 
der  Ansammlung  schädlicher 
Stoffe  in  bestimmten  Körper- 
teilen beruhten,  und  daß  je 
nach  der  Art  der  „materia 
peccans"  an  demselben  Kör- 
perteile die  verschiedenartig- 
sten Leiden  auftreten  könnten, 
<lie  erste  Rolle  spielte.  Dieses 
Theorem  führte  zu  einer  star- 
ken  Betonung  des  örtlichen  ^^b.  36  a.  Instrumentenkastcn-Deckd  aus  Elfen- 
(  harakters  der  Krankheiten,  bein  mit  Hippokrates-Bildnis  (Echtheit  ange- 
auf  der  anderen  Seite  aber  zu     zweifelt).     (Sammlung  Prof.  Meyer -Steineg.) 


58  Die  Medizin  im  klassischen  Altertum. 

einer  weitgehenden  Schematisierung  der  gesamten  Krankheitslehre. 
Der  Versuch,,  möghchst  viele  Krankheitstypen  voneinander  abzu- 
grenzen, brachte  zwar  eine  Verfeinerung  der  Diagnostik  mit  sich,  zu- 
gleich aber  auch  eine  vollkommene  Vernachlässigung  des  kranken 
Individuums  zugunsten  des  Krankheitsbegriffs. 

Nichtsdestoweniger  haben  einzelne  Alitglieder  der  Knidischen 
Schule  Bedeutendes  geleistet,  namentlich  die  beiden  großen  Zeit- 
genossen des  HiPPOKRATES:  EURYPHON  und  Ktesias  (5.  Jahr- 
hundert V.  Chr.). 

Wollten  die  Knidier  durchaus  —  ihrer  Zeit  weit  vorauseilend  — 
eine  medizinische  Wissenschaft  begründen,  so  tritt  in  dem  Bestreben 
der  Koischen  Schule  eine  auf  nüchterner  Schätzung  der  vorhandenen 
Möglichkeiten  begründete  bewußte  Selbstbeschränkung  hervor.  Sie 
urteilten  ganz  richtig,  daß  die  wahre  Aufgabe  des  Arztes  weniger 
darin  bestehe,  den  Erkenntnistrieb  möglichst  befriedigende  Ein- 
sichten zu  erlangen,  als  vielmehr  gewisse  allgemeine  Grundsätze  für 
die  Krankenbehandlung.  Deshalb  verschmähten  sie  es,  aus  der  Heil- 
kunde eine  für  jeden  erlernbare  Wissenschaft  zu  machen,  sie  forderten 
vielmehr,  daß  jeder,  der  Arzt  werden  wollte,  gewisse  besondere  Eig- 
nungen für  diesen  Beruf  mitbringen  müsse,  die  sich  nicht  durch 
fleißiges  Lernen  ersetzen  ließen.  Kurz,  sie  betrachteten  die  Medizin 
als  eine  Kunst,  die  nur  der  geborene  Arzt  wahrhaft  ausüben  könne. 
Diese  Auffassung  geht  als  leitender  Gesichtspunkt  durch  die  meisten 
der  Schriften  hindurch,  die  wir  als  echtes  Gut  der  Schule  von  Kos 
ansehen  dürfen  und  die  den  gewichtigeren  Teil  der  Sammlung  bilden, 
welche  den  Namen  des  größten  der  Koischen  Aerzte  trägt,  des 
HiPPOKRATES. 


Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin. 


Wenn  man  den  Namen  des  Hippokrates  nennt  und  ihn  mit 
dem  Zusätze  des  „Vaters  der  Heilkunde"  schmückt,  so  entsteht  bei 
dem  der  Medizingeschichte  Unkundigen  leicht  der  Eindruck,  als  be- 
deute dieser  Mann  den  Anfang 
aller  Medizin,  als  sei  vor  ihm 
ein  Xichts  gewesen.  Die  vor- 
stehenden Ausführungen  zeigen 
aber,  daß  er  lediglich  das  Glied 
einer  Kette  bildet,  deren  Anfang 
weit  vor  ihm  liegt.  Freilich  ein 
gewichtiges  Glied,  in  gewisser 
Hinsicht  sogar  ein  Endglied. 


Abb.  37.  Abb.  38. 

Abb.  37.    Angeblicher  Hippokrates.    Antike  Büste.    Nach  HoLL.\NDER,  Plastik  und  Medizin. 
At)b.  38.     Bildnis  des  Hippokrates  (Athen,  Nationalmuseum).   Nach  Holländer,  Phistik 

und  Medizin. 

Was  wir  über  das  Leben  des  Hippokrates  wissen,   ist  wenig. 
Sein  Vater,  selbst  Arzt  und  Abkömmling  einer  alten  Asklepiaden- 


6o  Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin. 

familie,  hieß  Herakleides  und  führte,  der  Sitte  jener  Zeit  ent- 
sprechend, den  im  Jahre  460  v.  Chr.  geborenen  Sohn  schon  früh  in 
seine  Kunst  ein,  natürlich  im  Sinne  der  Schule  von  Kos,  aus  der  er 
selbst  hervorgegangen  war.  Dann  begab  sich  Hippokrates  auf 
Reisen,  die  ihn  in  die  verschiedensten  Gegenden  Griechenlands  führten. 
Dabei  kam  er  mit  mancherlei  berühmten  Leuten  in  Berührung,  wie 
mit  dem  Philosophen  Demokritos,  dem  Rhetor  GORGIAS  und  dem 
Gymnasten  Herodikos  von  Selymbria.  Im  Jahre  377  v.  Chr.  ist 
er  zu  Larissa  in  Thessalien  gestorben.  Alles  andere,  was  über  sein 
Leben  erzählt  wird  —  und  die  Legende  hat  schon  wenige  Jahrzehnte 
nach  seinem  Tode  einen  mystischen  Schleier  um  ihn  gewoben  —  ist 
unsicher,  meist  sogar  nachweisbare  Erfindung. 

Auch  über  den  persönlichen  Anteil  des  Hippokrates  an  den 
seinen  Namen  tragenden  Schriften  ist  trotz  eifriger  Forschertätigkeit 
noch  wenig  Zuverlässiges  bekannt.  Doch  atmen  viele  von  ihnen  so 
deutlich  seinen  Geist,  daß  man  sie  in  diesem  Sinne  als  eine  Einheit 
betrachten  kann.  Dazu  gehören  vor  allem  die  Schriften:  „Ueber  die 
alte  Medizin",  eine  kurze  Abhandlung  über  Aufgaben  und  Ziele  der 
Heilkunde;  „Ueber  Luft  und  Wasser  und  Bodenbeschaffenheit",  eine 
knappe  Würdigung  des  Einflusses  dieser  Faktoren  auf  den  allgemeinen 
Gesundheitszustand;  „Ueber  die  Prognostik",  d.  h.  die  Beziehungen 
der  einzelnen  Krankheitssymptome  zum  voraussichtlichen  Verlauf  der 
Krankheit,  ferner  2  Bücher  „Ueber  epidemische  Krankheiten",  ein 
zum  Teil  in  Tagebuchform  gehaltenes  Werk  über  den  Einfluß  des 
sogenannten  „genius  epidemicus"  auf  den  Verlauf  der  einzelnen 
Leiden ;  sodann  die  Schrift  „Ueber  die  Diät  bei  akuten  Krankheiten", 
und  von  den  chirurgischen  Werken  diejenigen  „Ueber  die  Knochen- 
brüche", und  „Ueber  die  Verrenkungen".  Schließlich  noch  „Die 
Aphorismen",   kurze  Sätze  über  alle  möglichen  Fragen  der  Medizin. 

Wenn  man  die  Auffassung  des  Hippokrates  über  die  Medizin 
mit  kurzen  Worten  kennzeichnen  will,  so  kann  man  diese  etwa  in 
folgenden  Sätzen  zusammenfassen:  die  Medizin  ist  eine  Kunst.  Als 
solche  hat  sie  in  ihren  Leistungen  ihre  Grenzen,  und  eine  Haupt- 
aufgabe des  Arztes  besteht  darin,  sich  dieser  Grenzen  stets  bewußt 
zu  bleiben.  Die  Ausübung  des  ärztlichen  Berufes  verlangt  eine  Reihe 
von  moralisch-ethischen  Eigenschaften,  wie  Uneigennützigkeit,  Rück- 
sichtsnahme,  Schamhaftigkeit,  Würde,  Bereitwilligkeit,  kurzum  die 
Fähigkeit,  das  eigene  Ich  den  Interessen  des  Kranken  stets  unter- 
zuordnen. Das  Ärzten  selbst  beruht  in  erster  Linie  auf  der  Erfah- 
rung. Erfahrung  ist  die  Grundlage  alles  ärztlichen  Wissens.  Sie 
lehrt  den  Arzt,  im  einzelnen  Falle  auf  Grund  dessen,  was  er  schon 
früher  erlebt  hat,  den  voraussichtlichen  Verlauf  des  Krankheitsvor- 
ganges zu  beurteilen.   Die  Krankheit  ist  ein  Kampf  der  dem  Körper 


Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin.  6i 

innewohnenden  natürlichen  Heilkraft  gegen  die  krankmachende 
Schädigung.  Der  Zweck  des  Arztens  ist  also  die  Unterstützung  des 
Organismus  in  seinem  Kampfe  gegen  die  Krankheit,  und  das  Ziel 
besteht  in  ihrer  Ueberwindung.  Die  Ausbildung  der  Aerzte  hat  dem- 
nach eine  ganz  vorwiegend  praktische  zu  sein,  die  Hauptsache  ist 
die  Sammlung  eigener  Erfahrungen  durch  Selbstbeobachtung  am 
Krankenbette. 

Unter  diesen  Grundgesichtspunkten  bildet  in  der  Hippokratischen 
Medizin  die  Krankheitslehre  nur  die  Unterlage,  welche  dem  Arzte 
gewisse  allgemeine  Handhaben  für  die  Behandlung  geben  soll.  Die 
Hauptsache  für  den  Arzt  bleibt  immer  die  Beobachtung  des  ein- 
zelnen Falles,  da  jeder  einzelne  Organismus  in  einer  nur  ihm  eigen- 
tümlichen Weise  reagiert.  Der  Hippokratiker  ist  sich  vollkommen 
klar  darüber,  daß  eine  wirkliche  Einsicht  in  den  Krank  hei  ts  Vorgang 
nicht  zu  erreichen  ist.  Trotzdem  verzichtet  er  nicht  etwa  auf  jedes 
Nachdenken  über  die  Frage,  jedoch  bleibt  er  sich,  während  er 
gewisse  Spekulationen  der  Xaturphilosophen  sich  zu  eigen  macht, 
doch  stets  klar  bewußt,  daß  dies  eigentlich  nicht  zur  engeren  Auf- 
gabe des  Arztes  gehöre. 

Aus  diesem  Grunde  interessierte  auch  den  Hippokratischen  Arzt 
der  gesunde  Mensch  in  weit  geringerem  Maße  als  der  Kranke,  und 
die  normale  Anatomie  tritt  sehr  stark  in  den  Hintergrund.  Dazu 
trug  noch  erheblich  das  religiöse  Vorurteil  bei,  welches  die  Zer- 
gliederung menschlicher  Leichen  verbot.  Die  Kenntnisse  über  den 
Bau  des  Körpers  waren  deshalb  noch  gering.  Zu  einem  Teil  be- 
ruhten sie  auf  Analogien  mit  Befunden  beim  Tier,  zum  anderen  auf 
gelegentlichen  Beobachtungen  bei  Verletzungen,  Verbrechern  usw. 
Am  besten  bekannt  war  das  Knochensystem  nebst  Bändern  und  Ge- 
lenken, weil  man  diese  Dinge  bei  Skelettfunden  ohne  Verletzung 
des  religiösen  Gefühls  kennen  lernen  konnte;  über  die  Eingeweide, 
das  Gehirn,  Nervensystem,  über  die  Adern  und  die  Muskeln  dagegen 
wußten  sie  zwar  eine  Reihe  von  Einzelheiten,  aber  doch  eben  nur 
so  viel,  als  für  die  praktische  Krankenbehandlung,  namentlich  für  ihre 
chirurgischen  Eingriffe,  erforderlich  war.  Bezeichnend  ist  dafür  eine 
Stelle  im  ersten  Kapitel  des  Buches  „Ueber  die  Einrichtung  der  Ge- 
lenke": „Gesetzt,  man  entblößt  den  oberen  Teil  der  Schulter  von 
Weichteilen,  und  zwar  an  der  Stelle,  wo  sich  der  Muskel  (Delta)  hin 
erstreckt,  entblößt  dann  weiter  die  sich  an  der  Achselhöhle  und  dem 
Schlüsselbein  entlang  nach  der  Brust  hinziehende  Sehne  (Pectoralis 
maior),  so  würde  sich  zeigen,  daß  der  Kopf  des  Oberarmknochens 
usw.  usw." 

Auch  von  physiologischen  Kenntnissen  im  heutigen  Sinne  ist 
bei   den  Hippokratikern   nicht  die  Rede.    Trotzdem  lehnten  sie  das 


62  Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin. 

Nachdenken  und  Untersuchungen  über  die  normalen  Funktionen 
des  Körpers  keineswegs  grundsätzlich  ab.  Neben  allgemeinen  Fragen 
über  die  Ursachen  des  Lebens  wurden  auch  Einzelprobleme  von 
ihnen  aufgeworfen.  Das  zeigt  beispielsweise  der  Vorschlag,  die  Tätig- 
keit der  Herzklappen  an  einem  herausgenommenen  Herzen  kennen 
zu  lernen,  ferner  der  Versuch,  die  Frage,  ob  normalerweise  beim 
Trinken  auch  ein  Teil  der  Flüssigkeit  in  den  Kehlkopf  gelangen 
könne,  durch  Eingießen  gefärbter  Flüssigkeit  in  das  Maul  eines 
Schweines  zu  entscheiden.  Im  allgemeinen  aber  sind  die  physio- 
logischen Betrachtungen  ganz  auf  die  Krankheitslehre  abgestellt. 

Diese  ist  ausgesprochen  humoralpathologisch :  die  Säfte  (humores) 
bedingen  durch  ihr  qualitatives  und  quantitatives  Verhalten  Gesundheit 
und  Krankheit.  Die  vier  Kardinalsäfte  sind  das  Blut,  der  Schleim, 
die  gelbe  Galle  und  die  schwarze  Galle.  Jedem  dieser  Säfte  wohnen 
bestimmte  Eigenschaften  inne:  dem  Blute  das  Feucht- Warme,  dem 
Schleime  das  Kalt-Feuchte,  der  gelben  Galle  das  Warm-Trockene, 
der  schwarzen  Galle  das  Kalt-Trockene.  Eine  richtige  Mischung 
dieser  Säfte  (eoxpaoia)  bedingt  Gesundheit.  Fehlerhafte  Mischung 
(Soaxpaaia)  ruft  Krankheit  hervor.  Und  zwar  ziehen  derartige 
Mischungsänderungen,  auch  wenn  sie  zunächst  nur  örtlich  auftreten, 
doch  stets  allgemeine  Krankheitserscheinungen  nach  sich. 

Es  entstand  nun  ganz  von  selbst  für  den  Hippokratiker  die  vereitere 
Frage:  Welches  sind  die  Ursachen,  durch  die  derartige  Verände- 
rungen im  Körper  hervorgerufen  werden?  Und  es  ist  bemerkens- 
wert, daß  sie  bei  der  Beantwortung  dieses  schwierigen  Problems 
sich  keineswegs  in  uferlose  Spekulationen  verlieren,  sondern  fast 
durchweg  streng  auf  dem  Boden  der  beobachtbaren  Tatsachen 
bleiben.  Die  meisten  Krankheitsursachen  sehen  sie  in  mancherlei 
ohne  weiteres  sinnlich  wahrnehmbaren  äußeren  Einflüssen:  fehler- 
hafte Ernährung,  gewisse  Schädigungen,  welche  der  Beruf  oder  die 
Lebensweise  des  Einzelnen  mit  sich  bringt,  dann  das  Klima,  die  ver- 
schiedenen Temperaturen,  namentlich  ihr  schroffer  Wechsel,  ferner 
werden  ungesundes  Wasser,  die  Beschaffenheit  des  Bodens,  besonders 
bestimmte  giftige  Ausdünstungen  (miasmata),  der  Einfluß  der  Jahres- 
zeiten und  noch  vieles  andere  als  ätiologisches  Moment  richtig  ge- 
würdigt. Dabei  vergessen  sie  aber  nie,  daß  alle  diese  Faktoren  ver- 
schieden auf  die  einzelnen  Individuen  wirken,  indem  dieser  Mensch 
seiner  Anlage  nach  mehr  zu  der  einen,  jener  mehr  zu  der  anderen 
Krankheit  neige.  Besonders  betont  wird  die  „hereditäre  Disposition", 
d.  h.  die  Tatsache,  daß  manche  Menschen  die  Hinneigung  zu  be- 
stimmten Leiden  kraft  einer  ererbten  Anlage  mit  auf  die  Welt  bringen. 

Diese  Anschaimngen  der  Hippokratiker  erhalten  ihre  praktische 
Ergänzutig  durch  ihre  Lehre  vom  Krankheitsverlauf,  wie  sie  sie  auf 


^  Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin.  63 

Grund  der  Beobachtung  der  akut-fieberhaften  Krankheiten  ausbauten. 
Bei  diesen  Leiden  glaubten  sie  in  besonders  deutUcher  Weise  den 
zwischen  der  krankmachenden  Schädigung  und  dem  Körper  des 
Patienten  sich  abspielenden  „Kampf"  beobachten  und  feststellen  zu 
können.  Dieser  Kampf  geht  nach  ihrer  Vorstellung  in  drei  Stadien 
vor  sich.  Im  ersten  Stadium  wird  durch  irgendeine  schädliche  Ein- 
wirkung eine  Veränderung  der  Körpersäfte  hervorgerufen,  welche 
sich  in  einer  Art  „Schärfe"  (äzs(|>ia)  derselben  äußert.  Die  Absonde- 
rungen zeigen  eine  dementsprechende  Eigenschaft,  wie  z.  B.  das 
Xasensekret  oder  der  Urin.  Durch  diese  Störung  des  Mischungs- 
verhältnisses der  Säfte  wird  dann  im  Organismus  eine  Reaktion 
hervorgerufen,  welche  äußerlich  in  der  Form  einer  Temperatursteige- 
rung (Fieber)  in  die  Erscheinung  tritt.  Ihr  Wesen  besteht  darin,  daß 
die  ..verdorbenen"  Säfte  durch  die  Erhitzung  gleichsam  gekocht  d.  h. 
in  eine  andere  Form  umgewandelt  werden.  So  kann  sich  durch  eine 
derartige  Umwandlung  aus  Blut  Eiter  bilden.  Dieses  zweite  Stadium 
wird  deshalb  auch  als  das  der  „Kochung"  (TCS'Lt?)  bezeichnet.  Die 
weitere  Tätigkeit  des  Organismus  zeigt  sich  dann  darin,  daß  er  ver- 
sucht, die  umgewandelten  Säfte  zur  Ausscheidung  zu  bringen.  Des- 
halb wird  das  dritte  Stadium,  das  diesen  Vorgang  ausmacht,  als  das 
Stadium  der  Krisis  (xptai?  =  Ausscheidung)  bezeichnet.  Sie  kann 
örtlich  auftreten  (Urinausscheidung)  oder  allgemein  (vor  allem  kri- 
tischer Schweißausbruch!),  sie  kann  in  einer  vollkommenen  Entleerung 
der  schädlichen  Materie  bestehen,  oder  in  einer  Ablagenmg  in  un- 
wichtigen Organen.  Sie  kann  plötzlich,  im  Verlaufe  weniger  Stunden, 
auftreten  —  dann  handelt  es  sich  um  Krisis  im  engeren  Sinne  — 
oder  allmählich  durch  Auflösung  der  Krankheitsstoffe  (Xoon;). 

Diese  Grundstadien  der  akuten  Krankheiten  sind  nun  nach  hippo- 
kratischer  Anschauung  gewöhnlich  an  bestimmte  Tage  gebunden, 
die  für  die  einzelnen  Krankheitsformen  in  einem  typischen,  bei  allen 
Patienten  wiederkehrenden  Verhältnis  zueinander  stehen.  Diese  so- 
genannten kritischen  Tage  sind  die  Termine,  an  denen  die  einzelnen 
Stadien  der  Krankheit  sich  deutlich  manifestieren.  Die  Siebenzahl 
und  die  Vierzahl  spielen  dabei  eine  Hauptrolle. 

Bei  der  Beobachtung  des  Ablaufes  der  Krankheiten  drängte 
sich  nun  den  Hippokratikern  begreiflicherweise  die  Frage  auf,  welche 
Kraft  bei  dem  sich  im  Körper  abspielenden  Kampfe  wirksam  sei. 
Die  Antwort  auf  diese  Frage  ist  einer  der  besten  Beweise  für  die 
nüchterne  Ueberlegung,  welche  sie  selbst  bei  Dingen  obwalten  ließen, 
die  der  unmittelbaren  Beobachtung  unzugänglich  waren.  Sie  nahmen 
nämlich  an,  daß  dem  Körper  eine  ihm  angeborene  Kraft  innewohne, 
welche  unter  normalen  Verhältnissen  alle  Funktionen,  also  nament- 
lich das  richtige  Mischungsverhältnis  der  Säfte  regelte,  bei  einer  krank- 


64  Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin.  ^ 

haften  Störung  des  Gleichgewichts  aber  gleichsam  den  Kampf  mit 
dem  schädigenden  Agens  aufnehme.  Sie  nannten  diese  Kraft  Physis 
{9001?  =  Natur),  und  glaubten,  daß  jedem  einzelnen  Menschen  eine 
besondere  derartige  Kraft  eigentümlich  sei. 


Abb.    39.     Hellenistisches    Relief:    Der   Arzt  Jason,    eine    „Palpation"    der   Lebergegend 
vornehmend.      Charakteristische    Stellung    des    Patienten.      (Rechts     unten    ein     riesiger 

Schröpfkopf.) 


Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin. 


6.5 


Die  starke  Betonung  des  kranken  Individuums  mit  seinen  nur 
ihm  allein  zukommenden  Erscheinungen  gegenüber  dem  schemen- 
haften Begriff  der  „Krankheit"  ließ  bei  den  Hippokratikern  die 
Diagnose  hinter  der  Prognose  zurücktreten.  Da  für  sie  der  einzelne 
Kranke  ein  Ding  für  sich  war,  dasselbe  Leiden  bei  den  einzelnen 
sich  ganz  verschieden  äußerte  und  ablief  kraft  der  ihm  ureigensten 
Xatur,  so  mußte  es  ihnen  weit  wichtiger  sein,  festzustellen,  wie  in 
jedem  einzelnen  Falle  sich  das  krankhafte  Individuum  gegenüber 
der  krankmachenden  Schädigung  verhielt,  als  darüber  nachzudenken, 
welchem  Typus  von  Krank- 
heit der  einzelne  Fall  unter- 
zuordnen sei.  Also  steht  dem 
Hippokratiker  eine  indivi- 
duelle Prognose  vor  einer 
schematischen  Diagnose. 

Damit  ist  durchaus  nicht 
gesagt,  daß  die  Diagnostik 
vernachlässigt  worden  wäre. 
Im  Gegenteil  werden  alle 
Krankheitssymptom.e  auf  das 
sorgfältigste  beobachtet,  aber 
eben  nicht  mit  dem  ausschließ- 
lichen Zweck,  dadurch  ein 
scharf  umrissenes  Krankheits- 
bild zu  gewinnen,  sondern  um 
dem  natürlichen  Gang  des 
Krankheitsprozesses  nach- 
gehen zu  können.  Das  Aufsammeln  der  einzelnen  Krankheits- 
zeichen geschieht  in  ganz  systematischer  Weise,  welche  —  in  einem 
gegenüber  den  Aegyptern  weiter  entwickelten  Maße  —  bereits  deut- 
lich eine  Dreiteilung  der  Untersuchung  erkennen  läßt.  Betrachtung 
(Inspektion),  Betastung  (Palpation)  und  Behorchung  (Auskultation). 
Mit  Hilfe  des  Auges  unterrichtet  sich  der  Hippokratiker  über  alle 
sichtbaren  Erscheinungen:  den  Gesichtsausdruck,  die  Haltung,  die 
Beschaffenheit  der  Haut,  Haare,  Nägel,  das  Aussehen  der  verschie- 
denen Körperausscheidungen,  wie  Urin,  Schweiß,  Kot,  Sputum,  Nasen- 
schleim usw.  Der  heute  noch  den  Namen  des  HiPPOKRATES  tragende 
"^Nmptomenkomplex,  die  sogenannte  „Facies  Hippocratica",  gibt  ein 
ciiischauliches  Bild  von  der  sorgfältigen  Beobachtung. 

„Spitze  Nase,  hohle  Augen,  eingefallene  Schläfen,  kalte  und  zu- 
sammengezogene Ohren,  abstehende  Ohrläppchen,  eine  harte,  straffe, 
trockene  Stirnhaut,  eine  gelbe,  schwärzliche,  Hvide  oder  bläuliche  Fär- 
bung des  ganzen  Gesichts"  gelten  als  prognostisch  bedenkliches  Zeichen. 

Meyer-Stcineg  u.  Sudhoff,  Illustr.  Geschichte  der  Medizin.  5 


Abb.  40.    AUgriechisches  Votiv,  Brustkrebs  dar- 
stellend (Sammlung  Prof.  ^Meyer-StejnEG^. 


66 


Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin. 


Die  Betastung"  wird  in  erster  Linie  zur  Feststellung  von  Form- 
iind  Lageveränderungen  gewisser  Teile,  namentlich  der  Unterleibs- 
organe, angewandt.  Besonders  fein  ausgebildet  ist  sie  bei  der  Unter- 
suchung der  Knochenbrüche  und  Verrenkungen.  Sodann  dient  sie 
zur  Prüfung  des  Pulses,  von  dem  zwar  noch  nicht  einzelne  feinere 
Unterschiede  festgestellt  werden,  wohl  aber  die  deutlicheren.  Sehr 
wichtig  ist  die  Palpation  auch  für  die  Beobachtung  der  Körperwärme. 
Zumeist  wird  zu  diesem  Zweck  die  Hand  auf  die  Brust  gelegt. 

Auch  eine  einfache  Form  der 
Behorchung  gehört  zu  den  hippo- 
kratischen  Untersuchungsmetho- 
den. Mit  ihrer  Hilfe  werden  vor 
allem  die  Atmungsorgane  geprüft. 
So  wird  beispielsweise  das  „Tra- 
chealrasseln"  als  Geräusch  über 
der  Luftröhre  behorcht,  die  klein- 
blasigen Rasselgeräusche  werden 
in  bezeichnender  Weise  geschil- 
dert :  „Wenn  man  das  Ohr  an  die 
Seite  (des  Kranken)  legt  und 
längere  Zeit  horcht,  so  siedet  es 
innen  wie  Essig."  Das  pleuritische 
Reiben  wird  sehr  charakteristisch 
mit  dem  Knarren  eines  Leder- 
riemens verglichen. 

Neben  diesen  Untersuchungs- 
arten wird  dem  Geruch  und  dem 
Geschmack  noch  eine  gewisse 
Rolle  eingeräumt,  um  bestimmte 
Eigenschaften  des  Blutes,  des 
Urins,  des  Sputums  u.  ä.  festzu- 
stellen. Außerdem  verwenden  die 
Hippokratiker  auch  einige  beson- 
dere Proben.  Hierhin  gehört  die 
Prüfung  des  Auswurfes  Schwind- 
süchtiger dadurch,  daß  man  ihn  auf  glühende  Kohlen  schüttet:  Der 
besonders  widrige  Geruch  galt  dann  als  schlechtes  prognostisches 
Zeichen,  weil  man  ihn  als  durch  die  im  Sputum  enthaltenen  Gewebs- 
fasern  erzeugt  ansah.  Ebenso,  wenn  das  Sputum  von  Phthisikern  in 
Meerwasser  untersank,  also  eine  auf  dem  spezifischen  Gewicht  be- 
ruhende Probe.  Auch  das  Umrühren  des  Urins  mit  einem  Strohhalm 
zur  Untersuchung  seiner  Konsistenz  ist  eine  solche  Probe.  Vor  allem 
aber  die  noch  heute  nach  Hippokrates  benannte  „Succussio  Hippo^ 


Abb.    41.     Altgriechisches   Votiv,  Leisten- 
drüsen-Vereitemng    lind    Oberschenkel-Ge- 
schwür darstellend  (Sammlung  Prof.  Meyer- 
Steineg). 


Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin. 


67 


kratis",  die  ^Methode,  welche  durch  Schüttelbewegungen  und  gleich- 
zeitiges Behorchen  des  Thorax  den  Sitz  eines  vorhandenen  Empvems 
zu  ergründen  sucht.  Schließlich  zählt  hierzu  noch  die  absichtliche 
Hervorrufung  gewisser  Symptome.  „Wenn  die  Krankheitszeichen 
nicht  deutlich  zutage  treten,  so  hat  die  Xatur  Zwangsmaßregeln  er- 
funden," Das  heißt,  in  solchen  Fällen  erzeugten  die  Hippokratiker 
bestimmte  Reaktio- 
nen, aus  denen  sich 
Rückschlüsse  auf  das 
bestehende  Leiden 
ziehen  ließen :  sie 
verabreichten  zur 
Probe  Brech  oder- 
Abführmittel,  ließen 
heftige  Körperbe- 
wegungen ausführen 
u.  ä.  m. 

In  ihren  Behand- 
lungsgrundsätzen 
schließen  die  Hippo- 
kratiker sich  an  ihre 
Krankheitslehre  an. 
Sie  stellen  gewisse 
allgemeingültige  Re- 
geln auf,  die  für  be- 
stimmte, bei  den  ver- 
schiedensten Krank- 
heitsfällen stets  in 
gleicher  Weise  wie- 
derkehrendeErschei- 
nungen  gewisser- 
maßen einen  Unter- 
bau der  Therapie  zu 
schaffen  gestatten. 
Im  übrigen  aber  soll 
der  Arzt  von  Fall  zu  Fall  je  nach  dessen  Besonderheiten  seine 
einzelnen  Behandlungsmaßnahmen  auf  Grund  freier  Intuition  ein- 
richten. Dieses  Grundgesetz  der  hippokratischen  Therapie  wird  ge- 
kreuzt von  einem  anderen  Prinzip,  welches  von  der  Erkenntnis  seinen 
Ausgang  nimmt,  daß  nicht  der  Arzt  die  Krankheit  heile,  sondern 
daß  dies  durch  die  dem  Körper  innewohnende,  natürliche  Heilkraft, 
die  Physis,  geschehe.  Hieraus  wird  als  höchste  Aufgabe  des  Arztes 
die  Unterstützung  der  Physis  oder,    wo  diese  ihm  nicht  den  zweck- 

5* 


Abb.  41a.     Altgriechisches  Terrakotta- Votiv,  einen  Leisten- 
bruch darstellend  (Sammlung  Prof.  Meyer-Steineg). 


68  Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin, 

mäßigsten  Weg  einzuschlagen  scheint,  ihre  Lenkung  abgeleitet: 
„Nützen  oder  doch  nicht  schaden,  nichts  zwecklos  unternehmen,  aber 
doch  nichts  iibersehen",  das  sind  zwei  Leitsätze  des  ärztlichen  Handelns. 

Somit  gliedern  sich  die  ärztlichen  Verordnungen  von  vornherein 
in  zwei  Gruppen:  allgemeine  und  besondere.  Zu  den  ersten  gehört 
vor  allem  die  ganze  diätetische  Therapie  im  weitesten  Sinne.  Denn 
unter  §iatTa  verstanden  die  Alten  nicht  nur  die  Regelung  der  Nah- 
rungsaufnahme, sondern  des  ganzen  täglichen  Lebens  überhaupt.  Es 
zählen  dazu  also  auch  Vorschriften  über  die  Kleidung,  das  Lager, 
über  Körperbewegungen,  Bäder,  Leibesübungen,  Redeübungen  und 
manches  mehr.  Dabei  galt  den  Hippokratikern  aber  stets  eine  weise 
Mäßigung  und  Vermeidung  jedes  schroffen  Uebergangs  als  wichtige 
Forderung.  „Jedes  Zuviel  ist  dem  natürlichen  Heilungsbestreben 
feindlich,  das  Allmähliche  dagegen  ist  gefahrlos."  Ferner  werden 
Brech-,  Abführmittel  u.  ä.,  auch  der  Aderlaß  und  das  Schröpfen,  aus 
dem  allgemeinen  Gesichtspunkt  der  Entleerung  der  Krankheits- 
materie angewandt.  Im  Gegensatz  dazu  werden  die  „besonderen 
Maßnahmen"  von  dem  hippokratischen  Arzte  erst  dann  getroffen, 
wenn  es  gilt,  die  einzelnen  Krankheitserscheinungen  zu  bekämpfen. 
Sie  sind  also  im  wesentlichen  symptomatisch,  wenn  sie  auch  nach 
Möglichkeit  die  Krankheitsursache  —  vorausgesetzt  daß  diese  be- 
kannt ist  —  berücksichtigen. 

Gerade  bei  der  ätiologischen  Behandlung  tritt  nun  ein  weiterer 
Grundsatz  hervor,  der  später  in  den  Satz  „contraria  contrariis"  gefaßt 
wurde;  d.  h.  man  bekämpfte  gewisse  Krankheitsschädigungen  mit 
entgegengesetzten  Mitteln:  Ueberfüllung  mit  Entleerung,  die  A'^er- 
härtung  mit  erweichenden  Maßnahmen  usw. 

Was  die  Mittel  der  Behandlung  selbst  betrifft,  so  ist  der  Arznei- 
schatz —  im  Vergleich  mit  der  orientalischen  Medizin  —  verhältnis- 
mäßig einfach.  Neben  den  einheimischen  Mitteln,  wie  Nieswurz, 
Rettig,  Wolfsmilch,  Eselsgurke,  Sellerie,  Seidelbastbeeren,  Essig,  Ysop, 
Thapsiawurzel,  Meerzwiebel,  Kanthariden,  Lactuca,  Mandragoras, 
Baldrian,  Wermut,  Koriander,  Myrrhe,  Galbanum,  Granatäpfeln, 
Granatwurzel,  Soda,  Alaun,  Schwefel,  Kupferblüte,  Eisenrost  u.  a.  m. 
finden  sich  auch  einzelne  aus  Aegypten  bezogene:  wie  Sesam,  Carda- 
momum  usw.  Die  Anwendung  dieser  Mittel  erfolgt  bald  äußerlich 
in  P^orm  von  Umschlägen,  Einreibungen,  Pflastern,  Stuhl-  und 
Mutterzäpfchen  u.  a.  m.,  bald  innerlich  als  einfacher  Aufguß  oder 
Abkochung,  Auszug,  Latwerge  u.  ä.  Ihrer  Wirkung  nach  scheiden 
sich  die  Arzneimittel  in  Brechmittel,  Abführmittel,  zusammenziehende, 
schweiß-  und  urintreibende,  schmerzstillende,  kräftigende  Mittel  usw. 

Ein  großes  Gebiet  für  sich  bildet  bei  den  Hippokratikern  die 
Chirurgie,  die  man  mit  Recht  vom  heutigen  Standpunkte  aus  als 


Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin. 


69 


ihre  bedeutendste  Leistung  bezeichnet.  Eine  gewisse  Geschicklich- 
keit wurde  als  Mindestforderung  aufgestellt:  sie  galt  als  nichterfüllt, 
wenn  der  Arzt  nicht  merkt,  daß  Eiter  in  einer  Wunde  oder  einem 
Abszeß  ist;  wenn  man  Brüche  und  Verrenkungen  nicht  erkennt; 
wenn  man  beim  Sondieren  am  Kopf  nicht  merkt,  ob  der  Knochen 
einen  Bruch  hat;  wenn  man  es  nicht  fertig  bringt,  einen  Katheter 
in  die  Blase  einzuführen  und  das  Vorhandensein  eines  Blasensteins 
nicht  erkennt  usw. 

Die  allgemeinen  Grundsätze  über  die  Herrichtung  des  Operations- 
zimmers, die  Lagerung  der  Patienten,  die  Stellung  des  Arztes  und 
seiner  Gehilfen,  die  Reinigung  der  Hände,  namentlich  der  Nägel, 
die  Beleuchtung  usw.  lassen  die  tiefe  Einsicht  in  die  wichtigsten  Er- 
fordernisse der  Chirurgie  erkennen.     Nicht  minder  gilt  dies  von  den 


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Abb.  42.     Illustration   aus    dem  Kommentar   des  Apollonios    von  Kilium    /.u    dci   Ilippo* 
kratischen   Schrift   „Ueber   die   Verrenkungen",    die   Einrichtung   einer  Wirbelverrenkung 

darstellend. 


70 


Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin. 


Grundsätzen  über  die  Wundbehandlung.  Hier  war  oberstes  Gesetz : 
möglichst  wenig  mit  den  Wunden  vorzunehmen.  Frische,  nicht 
eiternde  Wunden  ließ  man  zunächst  gehörig  ausbluten.  Sodann 
wurden  sie  entweder  vernäht  oder  möglichst  trocken  verbunden ;  nur 
im  Notfall  werden  Umschläge  verordnet,  denn  „trockene  Substanzen 
verhindern  das  Eitern  der  Wunden".  Als  wichtig  sah  man  vor  allem 
die  Ruhigstellung   und   richtige  Lagerung   des  verletzten  Teiles   an. 


Abb.  43.     Aus    dem   gleichen  Werke  Darstellung  einer  Wiedereinrenkung  einer  Schuller- 
verrenkung. 

Die  Blutstillung  erzielte  man  durch  Hochlagerung,  Kälte,  Kom- 
pression, styptische  Arzneimittel,  manchmal  auch  durch  das  Glüh- 
eisen. Die  Unterbindung  wurde  noch  nicht  vorgenommen.  Wunden, 
bei  denen  eine  glatte  Heilung  ausgeschlossen  erschien  —  wie  Quetsch- 
und  Rißwunden  —  wurden  von  vornherein  wie  Geschwüre  behandelt; 
man  versuchte  sie  zur  Eiterung  zu  bringen  und  unterstützte  dann  die 
Reinigung  durch  Umschläge  und  Abspülungen  mit  verschiedenen 
pflanzlichen  und  mineralischen  Stoffen. 


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72  Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin. 

Geradezu  hervorragend  war  die  Behandlung  der  Knochenbrüche 
und  Verrenkungen.  Ihre  Diagnostik  stützte  sich  auf  eine  recht  gute 
Kenntnis  des  Skeletts  und  auf  vortreffliche  Beobachtungen.  Bei  den 
Knochenbrüchen  wurden  einfache  und  offene  unterschieden,  bei  den 
letzteren  trennte  man  den  Verlauf  in  drei  Stadien,  nach  denen  die 
Behandlung  sich  zu  richten  hatte.  Diese  bestand  hauptsächlich  in 
der  Anlegung  geschickter  Verbände,  deren  Technik  vortrefflich  aus- 
gebildet war.  Neben  allgemeinen,  für  jede  Art  von  Verband  gül- 
tigen Grundsätzen  bestanden  noch  für  jede  einzelne  Form  von 
Knochenbrüchen,  namentlich  mit  Rücksicht  auf  ihren  Sitz,  ins  ein- 
zelne gehende  Vorschriften.    Neben  dem  Verband  fand  die  Schiene 


Abb.    45.     Altgriechisches   Relief   aus    dem  Asklepieion    zu  Athen:    aufgeklapptes   chirur- 
gisches Besteck  mit  Messern  (s.  Abb.  46,  Messer  in  der  Mitte)    und  einem  Doppelhaken. 
Zu  beiden  Seiten  ein  Schröpfkopf. 

in  weitestem  Umfange  Verwendung,  namentlich  in  der  Form  der 
Hohlschiene.  Die  Reposition  wurde  entweder  durch  genauest  vor- 
geschriebene Handgriffe  oder  durch  besondere  mechanische  Vorrich- 
tungen bewerkstelligt.  Auch  die  dauernde  Extension  war  den  Hippo- 
kratikern  bekannt.  Für  die  Verrenkungen  gilt  —  mutatis  mutandis 
—  das  gleiche.  Ihre  Symptomatologie  ist  teilweise  geradezu  meister- 
haft und  selbst  heute  nicht  übertroffen.  Ihre  Behandlung  entspricht 
auch  hohen  Anforderungen. 

Die  operative  Chirurgie  umfaßte  bereits  eine  ganze  Reihe  nicht 
nur  leichterer,  sondern  zum  Teil  selbst  gewagter  Eingriffe.  Neben 
Eröffnung   von    Abszessen,   Entfernung   von    äußeren  Geschwülsten, 


Hippokrates  und  die  hippokratische  ^Medizin. 


73 


Poh'pen,  Hämorrhoiden  u.  ä.  gingen  die  Hippokratiker  selbst  an  so 
eingreifende  Operationen  heran  wie  Resektion  einzelner  Glieder, 
Trepanation    des    Schädels,    Nephrotomie    bei   Xierenabszeß,    Bauch- 


Abb.    46.     Chinirgische    Instrumente    aus    hippokratischer    Zeit;    von    links    nach    rechts: 
Hakenpinzette,   Knochenzange,   Doppelinstrument    (oben    bronzenes   halbscharfes    Myrten- 
blatt-Messer, unten  eingelassene  Stahlklinge) ;  Skalpell  mit  hohler  Klinge,  Löffel,  Katheter 
(Sammlung  Prof.  Meyer-Steineg). 

schnitt  und  manches  andere.  Die  von  ihnen  selbst  dabei  gezogene 
Grrenze  war  vor  allem  durch  die  Schwierigkeit  der  Blutstillung  bedingt. 
Von  der  Kauterisation  wurde  in  vielen  Fällen  Gebrauch  gemacht. 


74 


Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin. 


Nach  der  Vielheit  und  Mannigfaltigkeit  der  chirurgischen  Maß- 
nahmen sollte  man  bei  den  Hippokratikern  an  sich  auch  ein  reich- 
haltiges Instrumentarium  erwarten.     In  dieser  Hinsicht  aber  bestand 


Abb.    47.     Chirurgische    Instrumente    aus    hippokratischer    Zeit;    von    ünks   nach   rechts: 

Wundhaken,    Meißel   (oben),   Messer   (unten),   Salbenspatel,    Knochensäge,    Löffel    (oben), 

Nadel  (unten),  verschiedene  Sonden  (Sammlung  Prof.  Meyer-Steineg). 


Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin. 


75 


der  Grundsatz,  mit  möglichst  wenigen  und  einfachen  Werkzeugen 
möglichst  verschiedenartige  Eingriffe  vorzunehmen.  Die  Instrumente 
bestanden  zum  größten  Teile  aus  Bronze,  nur  die  Schneideinstrumente, 
teilweise  sogar  nur  deren  Kling^en,  waren  aus  Stahl.  Sie  waren 
durchweg  unter  Vermeidung  jedes  überflüssigen  Zierrats  ganz  schlicht 
gearbeitet  und  ließen  sich  somit  sehr  leicht  sauber  halten.  Im  ein- 
zelnen benutzte  man  nur  einige  wenige  Messer,  Lanzetten,  Pinzetten, 
eine  Knochenzange,  Wundhaken,  Spatel, 
Nadeln,  Zahnzangen,  ein  Raspatorium, 
einen  Kronen-  und  Perforativtrepan, 
Katheter.  Als  Untersuchungsinstru- 
mente dienten  Sonden  verschiedener 
Form  aus  verschiedenen  Metallen  und 
das  Mastdarmspeculum. 

Eine  nach  unseren  Begriffen  eigen- 
tümliche Stellung  nahmen  die  Hippo- 
kratiker  gegenüber  der  Frauenheilkunde 
und  Geburtshilfe  ein.  Sie  war  bedingt 
durch  eine  gewisse  Scheu  gegenüber  der 
Berührung  der  weiblichen  Geschlechts- 
organe. Der  Arzt  gab  infolgedessen  zwar 
seine  Anordnungen,  aber  die  ihnen  zu- 
grunde liegenden  Untersuchungen  und 
die  Ausführung  der  Behandlung  selbst 
war  in  die  Hände  der  Hebammen  ge- 
legt, die  freilich  infolge  dieses  unmittel- 
baren Zusammenarbeitens  mit  den 
Aerzten  eine  recht  gute  Ausbildung  ge- 
habt zu  haben  scheinen.  Von  den 
Frauenleiden  finden  in  den  hippokra- 
tischen  Schriften  die  Amennorrhoe,  Dys- 
mennorrhoe,  Entzündungen  der  verschie- 
denen Genitalteile,  Lageveränderungen 
der  Gebärmutter,  Geschwülste  usw.  Er- 
wähnung und  Behandlung.  Diese  ist 
teilweise  eine  allgemeine,  teils  örtlich  und  besteht  dann 
bädern.  Räucherungen,  Einspritzungen,  Spülungen,  Einlegen 
Mutterzäpfchen  u,  a.  m. 

In  der  Geburtshilfe  waren  verschiedene  Kindslagen  gut  bekannt, 
ebenso  die  dabei  zu  beobachtenden  Handgriffe.  Namentlich  wurde 
die  Wendung  durch  äußerliche  oder  innerliche  oder  durch  kombi- 
nierte Handgriffe  ausgeführt.  In  den  Fällen,  in  denen  die  Geburt 
eines  lebenden  Kindes  unmöglich  erschien,  griff  man  zur  Zerstücke- 


Abb.  48.   Altgriechisches  dreiteiliges 
Speculum  (Athen). 


in  Sitz- 
von 


7  6  Hippokrates  und  die  hippokratische  Medizin. 

lung  desselben  innerhalb  der  Gebärmutter,  Hierzu  dienten  besondere 
Instrumente,  vor  allem  das  Embryotom  und  der  „Zermalmer".  Bei 
Verhaltung  der  Nachgeburt  entfernte  man  diese  in  vorsichtiger  Weise, 
indem  man  das  Kind  zu  Füßen  der  auf  einem  Lehnstuhl  sitzenden 
Mutter  auf  wassergefüllte  Schläuche  legte,  diese  anstach  und  so  das 
Kind  durch  eigenen  Zug  auf  die  Placenta  wirken  ließ. 

Als  Ganzes  betrachtet,  bietet  uns  so  die  hippokratische  Medizin 
das  Bild  einer  hochentwickelten  Kunst,  und  zwar  einer  Kunst,  deren 
Eindruck  nicht  nur  auf  ihren  Leistungen,  sondern  nicht  minder  auf 
der  ganzen  Auffassung  ihrer  Vertreter  beruht.  Bei  einem  theore- 
tischen Wissen,  das  im  Vergleich  zu  unseren  heutigen  Kenntnissen 
zumeist  primitiv  anmutet,  verfügten  die  Hippokratiker  über  ein  bereits 
reiches  Können,  das  sie  ebenso  befähigte,  selbst  vortreffliche  Aerzte 
zu  sein,  als  auch  solche  auszubilden.  Und  wenn  die  Medizin  durch 
den  Lauf  von  zwei  Jahrtausenden  bis  zum  heutigen  Tage  dem  Hippo- 
kratismus  so  vieles  verdankt,  so  beruht  dies  vor  allem  anderen  darauf, 
daß  er  zum  ersten  Male  die  ewig  wahren  Grundgedanken  der  Heil- 
kunde aller  Zeiten  ausgesprochen  und  betätigt  hat:  daß  das  Haupt- 
ziel die  praktische  Behandlung  des  kranken  Individuums  sei,  daß 
dieses  durch  eigene  Beobachtung  am  Krankenbette  zu  erreichen,  und 
daß  die  Erfahrung  die  wahre  Lehrmeisterin  des  Arztes  sei. 


Die  nachhippokratische  Zeit  und  die  dogmatische 

Schule. 

Die  hohen  Anforderungen,  welche  die  hippokratische  Auffassung 
der  Medizin  an  ihre  Jünger  stellte,  brachten  es  mit  sich,  daß  ihr  Ein- 
fluß nur  so  lange  im  vollen  Maße  wirksam  sein  konnte,  als  die  über- 
wiegende Mehrheit  der  Aerzte  ihren  Ansprüchen  gewachsen  war. 
Solange  HiPPOKRATES  selbst  und  seine  Lehre  lebendig  waren,  ver- 
mochte auch  die  Schule  von  Kos,  deren  Gipfelpunkt  sie  bedeutete, 
die  übrigen  Aerzteschulen  in  den  Schatten  zu  stellen.  Sobald  aber  das 
Unmittelbare  seines  Geistes  in  Fortfall  kam,  ging  auch  seine  be- 
herrschende Wirkung  verloren.  Dazu  kam  noch,  als  äußeres  Mornent, 
daß  das  Bedürfnis  nach  Aerzten  in  immer  zunehmendem  Maße  wuchs. 
Es  wurde  allmählich  immer  schwieriger  und  schließlich  zur  Unmög- 
lichkeit, unter  den  zum  ärztlichen  Berufe  sich  drängenden  Jünglingen 
nur  die  ihrer  geistigen  und  körperlichen  Anlage  nach  wirklich  ge- 
eigneten auszuwählen.  Die  Aerzteschulen  sahen  sich  immer  mehr 
gezwungen,  den  Kreis  ihrer  Schüler  zu  erweitern.  Alles  dies  hatte 
zur  Folge,  daß  man  sich  gezwungen  sah,  die  Anforderungen  den 
Verhältnissen  anzupassen ;  und  diese  verlangten  vor  allem  die  Mög- 
lichkeit, daß  sich  ein  jeder,  der  sich  dem  ärztlichen  Beruf  widmen 
wollte,  die  dazu  erforderlichen  Kenntnisse  aneignen  konnte.  Diesem 
Streben  trug  die  Schule  von  Knidos  weit  mehr  Rechnung,  als  die 
von  Kos.  Ihre  Auffassung  der  Medizin  als  einer  erlernbaren  Wissen- 
schaft kam  den  neuen  Bedürfnissen  auf  halbem  Wege  entgegen,  und 
ihr  Einfluß  war  es,  unter  dem  schon  die  unmittelbaren  Nachfolger 
des  Hippokrates  dessen  Bahnen  verließen,  um  ein  wissenschaftliches 
System  der  Heilkunde  zu  begründen,  in  welchem  die  Theorie  —  als 
Grundlage  —  mit  der  Praxis  zu  einem  einheitlichen  Ganzen  ver- 
bunden sein  sollte. 

Von  nicht  geringer  Bedeutung  für  diese  Bestrebungen  waren 
die  beiden  großen  Philosophen  des  4.  Jahrhunderts  v.  Chr.,  Platon 
(427 — 347)  und  Aristoteles  (384 — 32^,  beide  ihrerseits  von  den 
zeitgenössischen  Aerzten  beeinflußt.  Bei  Platon  war  es  hauptsäch- 
lich eine  Schrift  „Timaios",  welcher  die  medizinische  Theorie  manchen 
Gedanken  entnommen  hat.  Freilich  haben  diese  Ideen,  welche  zu- 
meist ohne  alle  reale  Grundlage  lediglich  auf  Spekulationen  aufgebaut 


78  Die  nachhippokratische  Zeit  und  die  dogmatische  Schule. 

sind,  der  Medizin  keinerlei  Förderung  gebracht.  Im  Gegenteil  sind 
sie  ihr  in  mancher  Hinsicht  hindernd  in  den  Weg  getreten. 

Der  Einfluß  des  Aristoteles  hat  sich  in  doppelter  Weise 
geltend  gemacht;  seine  nüchterne  Sammlung  und  Darstellung  eines 
ungeheuren  naturwissenschaftlichen  Tatsachenmaterials  wäre  geradezu 
das  Ideal  für  eine  Grundlegung  der  Medizin  gewesen  und  hat  auch 
zweifellos  außerordentlich  anregend  gewirkt.  Die  Methodik  seines 
Denkens  hingegen  hat,  so  bestechend  sie  in  ihren  Ergebnissen  viel- 
fach war,  die  medizinische  Forschung  auf  Irrwege  geführt,  von  denen 
sie  sich  mehr  als  anderthalb  Jahrtausende  nie  ganz  frei  zu  machen 
vermochte.  Solange  Aristoteles  nur  beschreibt,  was  er  sieht,  da 
bilden  seine  Schriften  eine  wahre  Fundgrube  für  den  naturforschen- 
den Arzt.  Seine  vergleichenden  anatomischen  Schilderungen,  seine 
Aufdeckung  des  Stufenganges  im  ganzen  Naturreiche,  seine  natür- 
liche Einteilung  der  Tiere  in  solche  mit  Blut  und  solche  mit  einem 
Ersatzstoffe  sind  für  die  Heilkunde  von  größtem  Wert  gewesen. 
Aber  seine  teleologische  Betrachtungsweise,  welche  in  allem  die 
Zweckmäßigkeit  jeder  Einrichtung  als  gegebene  Tatsache  nahm,  und 
seine  deduktive  Art  der  Beweisführung,  welche  aus  allgemeinen,  nur 
mit  dem  Verstände  erschlossenen  Voraussetzungen  die  einzelnen 
Schlußfolgerungen  abzuleiten  bestrebt  war,  schließlich  seine  willkür- 
liche Uebertragung  von  Ergebnissen  der  Tiersektion  auf  den  Men- 
schen —  alles  dies  hat  auf  die  medizinische  Forschung  geradezu  ver- 
hängnisvoll gewirkt. 

Es  ist  nun  sicherlich  kein  bloßer  Zufall,  daß  viele  der  Männer, 
die  in  der  nachhippokr.atischen  Zeit  den  Gang  der  Heilkunde  am 
stärksten  beeinflußt  haben,  zu  der  Schule  von  Knidos  in  mehr  oder 
minder  enger  Beziehung  gestanden  haben.  Aristoteles  und  Eudoxos 
selbst  durch  ihre  Abkunft  von  Knidischen  Asklepiaden,  Chrysippos 
u.  a.  durch  ihre  Zugehörigkeit  zur  Schule  selbst.  Allen  gemeinsam 
ist  das  den  Knidiern  von  jeher  innewohnende  Streben,  über  die  Auf- 
fassung der  Medizin  als  Kunst  hinauszukommen  und  eine  ärztliche 
Wissenschaft  zu  begründen.  Bei  allen  diesen  Männern  nimmt  daher 
auch  die  Betrachtung  des  normalen  Menschen  einen  weit  breiteren 
Raum  ein  als  in  der  hippokratischen  Medizin.  Sie  versuchten  in 
den  normalen  Bau  und  in  die  normalen  Funktionen  tiefer  einzu- 
dringen, in  der  Hoffnung,  daß  dabei  auch  etwas  für  die  praktische 
Krankenbehandlung  herauskommen  werde. 

Dies  hohe  Streben,  das  den  Aerzten  dieser  Richtung  in  späterer 
Zeit  den  Namen  der  Dogmatiker  (SoY[xattxot)  eintrug  —  man  spricht 
sogar  von  einer  dogmatischen  Schule  —  fand  seinen  vollkommensten 
Ausdruck  in  dem  bedeutendsten  Arzte  der  nachhippokratischen  Zeit, 
dem  „zweiten  Hippokrates",  DiOKLES  von  Karystos,  dessen  Lebens- 


Die  nachhippokratische  Zeit  und  die  dogmatische  Schule. 


79 


zeit  in  die  erste  Hälfte  des  4.  Jahrhunderts  fällt,  also  an  die  des 
HiPPOKRATES  immittelbar  anschliefit.  Dieser  Mann,  der  die  hippo- 
kratischen  Schriften  zur  Grundlage  seines  ärztlichen  Wissens  machte 
und  überhaupt  in  mancher  Hinsicht  hippokratischen  Geist  zeigte,  ver- 
falite  gleichzeitig  als  erster  ein  selbständiges  anatomisches  Werk 
(avaTO{jn])  und  beschäftigte  sich  mit  mancherlei  physiologischen  Pro- 
blemen, die  ihn  weit  über  das  hinausführten,   was  die  Hippokratiker 


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,  Abb.  49.     Eine  Seite  des  sogenannten  „Anonymus  Londinensis" 


auf  diesem  Gebiete  aufzuweisen  hatten.  Seine  Lehre  von  der  Ver- 
dauung beispielsweise,  über  die  er  ein  besonderes  Buch  (repi  Tci'^cOiq) 
verfaßt  hat,  ist  von  nachhaltiger  Wirkung  auf  fast  alle  auf  diesem 
Gebiete  sich  beschäftigenden  Aerzte  gewesen,  unter  anderen  auch 
auf  den  großen  Galenos.  Die  Verdauung  der  Nahrung  erfolgt 
seiner  Meinung  nach  im  Magen,  indem  die  mit  der  Magen flüssigkeit 
durchsetzten  Speisen  unter  Einwirkung  der  mit  ihnen  aufgenommenen 


8o  Die  nachhippokratische  Zeit  und  die  dogmatische  Schule. 

Luft  einen  Gärungs-  und  Fäulnisprozeß  durchmachen,  der  durch  die 
dem  Körper  innewohnende  Wärme  befördert  wird.  Die  verdauten 
Teile  der  Nahrung  gelangen  dann  in  die  Adern  und  durch  diese  in 
den  ganzen  Körper,  die  „Ueberschüsse"  kommen  in  den  Darm.  Auch 
die  übrigen  Schriften  des  Diokles,  unter  denen  noch  ein  „Pro- 
gnostikon"  und  eine  über  „Pathologie,  Aetiologie  und  Therapie"  be- 
sonders bemerkenswert  sind,  zeigen  deutlich,  wie  er,  trotz  seiner 
nahen  Berührung  mit  den  Lehren  des  Hippokrates  doch  versucht, 
in  jeder  Hinsicht  über  sie  hinauszukommen.  Ihm  verdankte  auch  die 
Sikelische  Schule,  die  mit  der  von  Knidos  sehr  viel  gemeinsam  hat, 
und  für  eine  Zeitlang  jedenfalls  der  Hauptsitz  der  dogmatischen 
Richtung  war,  ihre  Bedeutung, 

Ein  wichtiges  Merkmal  dieser  Schule  lag  vor  allem  in  der  Rolle, 
welche  sie  in  ihrer  Physiologie  und  ihrer  Pathologie  dem  Pneuma 
einräumte.  Hierin  ist  der  Hauptgegensatz  gegenüber  der  fast  aus- 
schließlich humoralen  Theorie  der  Hippokratiker  zu  sehen,  Sie  er- 
kennen zwar  die  Bedeutung  der  Säfte  für  Gesundheit  und  Krank- 
heit an,  lassen  die  Zustände  aber  in  noch  höherem  Maße  von  der 
Beschaffenheit  des  Pneumas  —  d.  h.  des  mit  der  Atmung  aufge- 
nommenen und  durch  die  Adern  im  Körper  verteilten  luftförmigen 
Stoffes  abhängen. 

Je  mehr  nun  die  einzelnen  Anhänger  der  dogmatischen  Schule 
sich  vom  reinen  Hippokratismus  entfernten,  je  bewußter  sie  die 
theoretischen  Grundlagen  der  Medizin,  also  vor  allem  Anatomie, 
Physiologie,  Pathologie  und  Aetiologie  in  den  Vordergrund  schoben, 
um  so  mehr  bildeten  sie  den  Uebergang  zu  einer  Entwicklung,  die 
in  der  Folgezeit  die  Heilkunde  auf  eine  Höhe  zu  führen  berufen 
war,  wie  sie  dann  bis  in  die  neueste  Zeit  kaum  wieder  erreicht  wurde. 
Diese  Entwicklung  sollte  in  Alexandreia  vor  sich  gehen. 


I 


Die  Schule  von  Alexandreia. 

Die  äußeren  Verhältnisse  der  Aerzte. 

Eine  ganze  Reihe  besonders  glücklicher  Umstände  vereinigten 
sich  miteinander,  um  im  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  zu  Alexandreia  eine 
Stätte  erstehen  zu  lassen,  welche  die  verschiedensten  Wissenszweige 
zu  einer  ungeahnten  Entfaltung  brachte.  Die  Ansammlung  gewal- 
tiger Reichtümer  durch  Alexander  und  seine  Nachfolger,  die  Er- 
leichterung in  der  Benutzung  der  orientalischen  Wissensschätze,  nicht 
zum  wenigsten  aber  das  lebhafte  Interesse,  welches  die  Ptolemäischen 
Herrscher  den  Wissenschaften  entgegenbrachten,  alles  dies  schuf 
derartig  günstige  Vorbedingungen  für  einen  großen  kulturellen  Auf- 
schwung, wie  sie  nicht  oft  wieder  in  der  Geschichte  zusammen- 
getroffen sind.  Neben  der  Mathematik,  Astronomie,  der  Physik,  der 
Technik,  der  Literaturgeschichte,  der  Philologie  und  den  beschrei- 
benden Naturwissenschaften  zog  vor  allem  auch  die  Medizin  einen 
gewaltigen  Nutzen  aus  den  Verhältnissen,  wie  sie  Alexandreia  bot. 
Ließen  doch  die  ptolemäischen  Könige  nicht  nur  alle  möglichen,  der 
Pflege  der  Kunst  dienenden  Gebäude  errichten,  sondern  sie  sammelten 
auch  alles,  was  an  Handschriften  zu  erlangen  war,  sie  legten  zoolo- 
gische und  botanische  Gärten  an,  und  vor  allem  begründeten  sie  mit 
fürstlicher  Freigebigkeit  die  beiden  Anstalten,  welche  es  Gelehrten 
und  Forschern  ermöglichten,  ohne  Sorge  um  das  tägliche  Brot  sich 
ganz  ihrer  Arbeit  zu  widmen:  die  alexandrinische  Bibliothek  und 
das  Museion.  Erstere  mit  ihren  über  eine  halbe  Million  Bücher- 
rollen die  gewaltigste  Sammlung  für  viele  Jahrhunderte,  letzteres, 
mit  allen  Vorrichtungen  für  ein  geruhiges  Leben  der  Gelehrten  ver- 
sehen und  der  ungestörten  Forschung  sowohl  wie  dem  Unterrichte 
der  von  allen  Teilen  der  damaligen  Kulturwelt  hier  zusammen- 
strömenden Schüler  gewidmet:  also  zugleich  Forschungsakademie, 
Hochschule  und  Gelehrtenpensionat.  Diesen  Lichtseiten  standen  frei- 
lich auch  Schatten  gegenüber:  denn  die  Gönnerschaft  der  Ptolemäer- 
könige  ließ  unter  den  in  der  Hofluft  aufwachsenden  Männern  nicht 
immer  die  wahrhaft  genialen  und  originellen  Köpfe  an  die  führende 
Stelle  gelangen,  sondern  oft  auch  solche  Männer,  welche  durch  Be- 
redsamkeit und  mancherlei  äußerlich  bestechende  Eigenschaften  sich 
vorzudrängen  verstanden. 

Meyer-Steineg  u.  Sudhoff,  Illostr.  Geschichte  der  Medizin.  6 


82  Die  Schule  von  Alexandreia. 

Für  die  Entwicklung"  der  Medizin  wurde  in  Alexandrien  eine 
Tatsache  vcm  außerordentlicher  Bedeutung,  daß  nämlich  dort  zum 
ersten  Male  das  antike  Vorurteil  gegen  Zerstückelung  menschlicher 
Leichen  überwunden  wurde,  durch  welches  bis  dahin  eine  freie  Ent- 
faltung der  Anatomie  stark  behindert  worden  war.  Wenn  man  den 
Berichten  einiger  Schriftsteller,  wie  Celsus  und  Tertullian  glauben 
darf,  wurde  den  Aerzten  sogar  die  Vivisektion  an  Verbrechern  mög- 
lich gemacht. 

Jedenfalls  waren  auf  dem  Boden  Alexandreias  im  3.  Jahrhundert 
V.  Chr.  Vorbedingungen  für  einen  weiteren  Ausbau  der  Heilkunde 
geschaffen,  wie  niemals  vorher:  die  reichhaltige  Bibliothek  ermög- 
lichte die  Verarbeitung  der  gesamten  medizinischen  Literatur,  die 
Sektion  menschlicher  Leichen  gestattete  tiefere  Einblicke  in  den 
Körperbau  als  je,  die  Förderung"  der  beschreibenden  Naturwissen- 
schaften, der  Zoologie  und  Botanik  sowie  vor  allem  der  Physik  gab 
zum  ersten  Male  eine  zuverlässigere  Unterlage  für  die  physiologische 
Forschung;  und  alle  diese  einzelnen  Faktoren  zusammen  mit  den 
mancherlei  äußeren  fördernden  Einflüssen  boten  auch  für  die  übrigen 
Teile  der  Medizin,  wie  Arzneimittellehre,  Chirurgie  usw.  weit  gün- 
stigere Bedingungen  als  den  früheren  Aerzten. 

So  wurde  Alexandreia  sehr  bald  ein  gewaltiger  Anziehungs- 
punkt für  alle  Aerzte  und  solche,  die  es  werden  wollten.  Die  Folge 
war  eine  starke  Zunahme  derselben,  welche  vor  allem  auch  dadurch 
begünstigt  wurde,  daß  die  ärztliche  Ausbildung  für  jedermann  er- 
möglicht war.  Inwieweit  dies  auf  die  Zusammensetzung  des  Aerzte- 
standes  gewirkt  hat,  darüber  ist  uns  Genaueres  nicht  bekannt.  Sicher 
ist  nur,  daß  die  Spezialisierung"  einzelner  Fächer,  wie  der  Augen- 
und  Zahnheilkunde  und  anderer  einen  immer  größeren  Umfang 
annahm.  Im  übrigen  blieb  der  ärztliche  Beruf  im  Grundsatz  eine 
reine  Privatsache;  nur  breitete  sich  die  Einrichtung  der  Gemeinde- 
ärzte stärker  aus,  so  daß  gegen  Ende  des  3.  Jahrhunderts  v.  Chr. 
jede  auch  kleine  Gemeinde  ihren  eigenen  Amtsarzt  hatte.  Diese 
führten  seit  dem  2.  Jahrhundert  dann  die  neue  Amtsbezeichnung 
„Archiater"  (ap^^tatpöc),  ein  Name,  der  zuerst  am  Seleukidenhofe  den 
Hofärzten  beigelegt  worden  war.  Diese  beamteten  Aerzte,  denen 
wohl  auch  gewisse  Aufsichtsrechte  über  die  nichtbeamteten  zuge- 
standen haben,  mögen  ein  gewisses  Gegengewicht  gegen  die  durch 
die  Berufsüberfüllung  erzeugten  Mißstände  geschaffen  haben. 

In  planmäßiger  Ausnutzung  der  günstigen  Verhältnisse  wandten 
sich  die  hervorragendsten  Vertreter  der  alexandrinischen  Medizin  in 
erster  Linie  den  Forschungsgebieten  zu,  die  bisher  am  meisten  in 
ihrer  Entfaltung  gehindert  waren ;  und  dies  um  so  mehr,  als  sie  gerade 
in  diesen  Fächern  —  nämlich  vor  allem  der  Anatomie  und  Physio- 


Die  Schule  von  Alexandreia. 


83 


logie  —  die  Grundlagen  der  ganzen  Heilkunde  sahen,  auf  denen 
sie  das  Gebäude  eines  in  sich  geschlossenen  wissenschaftlichen 
Systems  aufbauen  zu  können  glaubten.  Diese  Bestrebungen,  die  als 
unmittelbare  Forsetzung  der  Pläne  der  dogmatischen  Richtung  in 
ihren  ersten  bewußten  Anfängen  auf  die  Schule  von  Knidos  zurück- 
gehen, wurden  namentlich  auch  von  den  beiden  bedeutendsten 
Aerzten  der  alexandrinischen  Zeit  vertreten.  Herophilos  und  Era- 
SISTRATOS,  freilich  mit  einer  grundsätzlich  verschiedenen  Einstellung 
gegenüber  den  älteren  Lehren. 

Herophilos  und  Erasistratos  und  ihre  Schulen. 

Ueber  das  Leben  dieser  beiden  Männer  ist  uns  nichts  Näheres 
bekannt.  Von  Herophilos  wissen  wir  nur,  daß  er,  um  300  v.  Chr. 
zu  Chalcedon  geboren.  Schüler  von  Chrysippos  und  Praxagoras 
war  und  unter  den  beiden 
ersten  ptolemäischen  Kö- 
nigen zu  Alexandrien  ge- 
wirkt hat.  Obgleich  er 
das  Wissen  und  die  Leis- 
tungen der  Aerzte  v^orihm 
anerkannte  und  verwer- 
tete, so  war  er  doch  eine 
durchaus  selbständige 
Xatur.  Das  zeigte  er  be- 
sonders deutlich  durch 
seine  Anschauungen  und 
Arbeiten  auf  dem  Gebiete 
der  Anatomie.  Denn  wäh- 
rend alle  seine  Vorgänger 
trotz  mancher  wichtigen 
Einzelergebnisse  doch 
nicht  zu  einer  zusammen- 
hängenden anatomischen 
Betrachtung  gekommen 
waren,  hat  Herophilos 
zum  ersten  Male  in  wirk- 
lich systematischer  Weise 

He  gesamte  Anatomie 
durchgearbeitet.  System 
lag  in   seinem  Vorgehen 

lauptsächlich  insofern,  als  er  sich  nicht  mit  der  Erforschung  der 
einzelnen  Körperteile  und  Organe  begnügte,  sondern  auch  ihre  Be- 
ziehungen zu-  und  untereinander  festzustellen  versuchte.    So  war  er 


Abb.  50.     Hellenistische  Terrakott-Weihgabe :  Lunge 
und  Luftröhre  (Sammlung  Prof.  Meyer-Steineg). 


^4  Die  Schule  von  Alexandreia. 

der  erste,  der  ganz  klar  den  Zusammenhang  des  Nervensystems  mit 
dem  Gehirn  und  Rückenmark  erkannte  und  die  Nerven,  von  ihrer 
Ursprungsstelle  ausgehend,  in  ihrem  weiteren  Verlaufe  verfolgte. 
Auch  den  Zusammenhang  der  Verdauungsorgane  mit  den  Chylus- 
gefäßen  sah  er  zum  ersten  Male  deutlich.  Von  seinen  übrigen  ana- 
tomischen Entdeckungen  ist  noch  die  des  noch  heute  nach  ihm  be- 
nannten „Torcular  Herophili"  des  „Calamus  Herophili",  des  Sehnerven 
in  seinen  Beziehungen  zu  Auge  und  Gehirn  zu  nennen.  Auch  rührt 
von  ihm  die  erste  eingehendere  Beschreibung  des  Auges  her.  Die 
meisten  dieser  Ergebnisse  legte  er  in  seinem  Werke  „avaTO[it>td"  nieder. 

Auch  in  seinen  physiologischen  Anschauungen  suchte  er  über 
das  vorhandene  Wissen  hinauszukommen.  Die  hippokratische  Physis 
als  allgemeines  Erklärungsprinzip  der  körperlichen  Gesamtfunktionen 
befriedigte  ihn  nicht.  Er  strebte  vielmehr  danach,  sie  gleichsam  in 
ihre  einzelnen  Komponenten  zu  zerlegen;  wobei  er  freilich  ebenfalls 
gezwungen  war,  zur  Spekulation  seine  Zuflucht  zu  nehmen.  Er  ließ 
den  Lebensvorgang  als  Ganzes  von  vier  Kräften  beherrscht  sein : 
der  ernährenden  Kraft,  welche  in  der  Leber  und  den  Verdauungs- 
organen sitze,  der  erwärmenden  Kraft  mit  dem  Sitz  im  Herzen,  der 
denkenden  Kraft,  deren  Zentralorgan  das  Gehirn  sei,  und  der  empfin- 
denden Kraft,  welche  in  den  Nerven  ruhe. 

In  seinen  Einzelforschungen  suchte  er  die  Spekulation,  deren 
Gefahr  er  wohl  erkannte,  möglichst  durch  physikalische  Erklärungen 
und  physiologische  Untersuchungen  zu  ergänzen  oder  zu  stützen.  So 
fand  er,  daß  der  Puls  nicht  auf  einer  rätselhaften,  den  Arterien  selbst 
innewohnenden  Kraft  beruhe,  sondern  daß  diese  Kraft  durch  die 
Tätigkeit  des  Herzens,  die  Systole  und  Diastole,  mitgeteilt  werde. 

Wenn  nun  auch  dem  Herophilos  als  Ideal  eine  möglichste 
Vereinigung  von  Theorie  und  Praxis  vorschwebte,  so  erkannte  er 
doch,  daß  eine  zuverlässige  Begründung  der  letzteren  auf  der  ersteren 
mit  Rücksicht  auf  den  ärztlichen  Beruf  noch  nicht  möglich  sei.  Und 
so  nimmt  er  in  seiner  Krankheitslehre  und  Therapie  die  alten  wohl- 
bewährten Prinzipien  des  Hippokratismus  wieder  auf;  allerdings  nicht, 
ohne  sie  auf  Grund  der  fortgeschrittenen  Kenntnisse  und  der  ver- 
mehrten Erfahrung  zu  erweitern.  Das  Verhältnis  zwischen  Diagnose 
und  Prognose  ist  bei  ihm  demnach  das  gleiche  wie  bei  den  Hippo- 
kratikern,  aber  er  sucht  sie  im  einzelnen  zu  verfeinern.  So  tritt  bei 
ihm  die  Pulsbeobachtung  als  Hilfsmittel  der  Krankenuntersuchung 
weit  stärker  hervor  als  bei  irgendeinem  früheren  Arzte.  Unter  Be- 
nutzung der  Wasseruhr,  welche  eine  genaue  Zählung  gestattete, 
untersuchte  er  den  Puls  unter  den  verschiedensten  Bedingungen, 
stellte  seine  Hauptqualitäten  fest  und  brachte  sie  in  Beziehung  zu 
den  einzelnen  Krankheitserscheinungen. 


Die  Schule  von  Alexandreia.  85 

In  seiner  Therapie  steht  Herophilos  ebenso  wie  die  Hippo- 
kratiker  auf  dem  Standpunkte,  daß  der  Arzt  vor  allem  die  Grenzen 
seiner  Macht  kennen  und  berücksichtigen  müsse.  Er  fußt  also  in 
dieser  Hinsicht  auch  auf  der  reinen  Erfalirung.  In  der  Verwendung 
von  Arzneimitteln  geht  er  dagegen  viel  weiter;  sein  Arzneischatz 
ist  bedeutend  reichhaltiger,  was  wohl  weniger  auf  eine  grundsätzlich 
andere  Auffassung  als  vielmehr  auf  den  größeren  Reichtum  Aegyptens 
an  verwendbaren  Stoffen  zurückzuführen  ist.  Den  übrigen  Teilen 
der  Heilkunde,  wie  vor  allem  der  Chirurgie  und  Geburtshilfe,  wandte 
Herophilos  gleichfalls  lebhaftes  Interesse  zu,  wobei  er  durch  seine 
fortgeschrittene  anatomische  Erkenntnis  nicht  wenig  unterstützt  wurde. 

Trotz  mannigfacher  Berührungspunkte  entwickelte  sich  der 
zweite  der  großen  alexandrinischen  Aerzte,  Erasistratos,  in  einer 
stark  abweichenden  Richtung.  Er  wurde  zwischen  310  und  300  v.  Chr. 
als  Sohn  des  Arztes  Kleombrotos  zu  Julis  auf  der  Insel  Keos  ge- 
boren und  von  seinem  hauptsächlichen  Lehrer  Metrodoros,  einem 
Schüler  des  ChrysippoS,  schon  früh  im  Sinne  der  Knidischen  Schule 
in  die  Heilkunde  eingeführt.  Ueber  seinen  weiteren  Ausbildungs- 
gang ist  nichts  Sicheres  bekannt.  Später  war  er  eine  Zeitlang  Arzt 
am  Seleukidenhofe  zu  Antiocheia  und  starb  zwischen  250  und  240 
wahrscheinlich  auf  der  Insel  Samos. 

Eines  der  Hauptmerkmale  seiner  Lehren  ist  der  bewußte  Gegen- 
satz gegen  die  hippokratische  Medizin  sowohl  als  Ganzes  als  auch 
in  ihren  einzelnen  Teilen.  Er  war  ein  folgerichtiger  Abkömmling 
der  Knidischen  Schule  und  verfolgte  als  höchstes  Ziel  die  Begrün- 
dung eines  lückenlosen  medizinischen  Systems  auf  naturwissenschaft- 
licher Grundlage.  Dabei  sah  aber  auch  er  sehr  wohl,  daß  nicht  alle 
Erkenntnisse  über  die  normalen  Funktionen  des  Körpers  für  den 
Arzt  eine  wirklich  praktische  Bedeutung  haben  könnten  und  trennte 
deshalb  absichtlich  seine  dahin  zielenden  Forschungen,  als  der  reinen 
Naturwissenschaft  zugehörig,  von  der  eigentlichen  Medizin.  Zu  jener 
gehören  also  normale  Anatomie  und  Physiologie,  zu  dieser  nur  Patho- 
logie (im  weitesten  Sinne)  und  Therapie. 

Da  es  ihm  nicht  wie  Herophilos  um  die  Darstellung  eines 
anatomischen  Gesamtbildes  zu  tun  war  (er  hat  deshalb  auch  kein  zu- 
sammenfcissendes  Werk  über  dies  Gebiet  geschrieben),  so  beschränkte 
er  seine  anatomischen  Untersuchungen  auf  eine  Zahl  von  Einzel- 
problemen, zu  deren  Klänmg  er  dann  freilich  hervorragend  bei- 
getragen hat.  Sein  Hauptforschungsgebiet  war  das  Gefäß-  und 
Nervensystem,  deren  genaue  Trennung  ihm  allerdings  erst  in 
späteren  Jahren  gelang.  Seine  wichtigste  Entdeckung  war,  daß  es 
zweierlei  Nerven  gäbe,  Empfindungs-  und  Bewegungsnerven,  und 
daß  beide  dieselbe  Substanz  enthielten,   wie  das  Gehirn,  aus  dessen 


86  Die  Schule  von  Alexandreia. 

Marksubstanz  sie  entsprängen.  Ferner  stammt  von  ihm  die  erste 
richtige  Beschreibung  des  Herzens,  sowie  eine  genauere  der  Leber 
mit  ihren  Gallengängen. 

In  seinen  physiologischen  Anschauungen  bevorzugte  Erasi- 
STRATOS  jede  Art  von  mechanistischer  Erklärung.  Alle  Funktionen 
des  Organismus,  den  er  sich  aus  feinsten,  nicht  mehr  teilbaren  Teilen 
(Atomen)  zusammengesetzt  denkt,  beruhen  im  letzten  Sinne  auf  dem 
Verhalten  des  Blutes  und  des  Pneumas,  welche  ihn  beide  nach  allen 
Richtungen  hin  durchströmen.  Das  Blut,  welches  aus  der  Nahrung 
gewonnen  wird  und  auf  dem  Wege  der  von  der  Leber  ausgehenden 
Hohlvenen  durch  den  ganzen  Körper  verbreitet  wird,  dient  zum 
Aufbau  sämtlicher  Organe;  welche  ein  Parenchym  enthalten,  und 
zum  fortwährenden  Ersatz  der  durch  die  Körpertätigkeit  verbrauchten 
Substanzen.  Während  so  das  Blut  den  Stoff  bildet  für  den  Körper- 
haushalt, ist  das  Pneuma  der  Träger  der  Energie  und  somit  das 
eigentliche  oberste  Prinzip  aller  Lebensfunktionen.  Es  wird  zugleich 
mit  der  Einatmungsluft  in  die  Lunge  aufgenommen,  gelangt  durch 
die  Lungenvene  in  die  linke  Herzkammer  und  von  dieser  aus  durch 
die  Arterien  in  den  ganzen  Körper,  wo  es  in  einzelnen  Organen  in 
spezifischer  Weise  umgewandelt  wird,  z.  B.  in  dem  Gehirn  zu 
„seelischem  Pneuma"  (7rvcD[xa  (J;d/ixöv).  Es  bestehen  demnach  zwei 
Kreislaufsysteme  nebeneinander,  das  des  Blutes,  dessen  Mittelpunkt 
das  Herz  ist  und  dessen  Wege  die  Venen  sind,  und  der  Pneuma- 
kreislauf,  der  gleichsam  drei  Zentren  hat:  das  Herz,  die  Leber,  von 
denen  aus  durch  die  Adern  es  sich  im  Körper  verbreitet,  und  das 
Gehirn,  das  es  auf  den  Bahnen  der  Nerven  von  sich  ausströmen 
läßt.  Beide  Systeme  stehen  an  ihren  periphersten  Enden  durch 
„Synanastomosen",  welche  aber  unter  normalen  Verhältnissen  un- 
durchgängig sind,  miteinander  in  Verbindung. 

Mittelbar  oder  unmittelbar  setzt  nun  Erasistratos  alle  Einzel- 
funktionen zu  den  geschilderten  Grundvorgängen  in  Beziehung,  wo- 
bei das  Gesetz  des  „horror  vacui"  eine  wichtige  Rolle  spielt.  So  er- 
klärte er  beispielsweise  das  Wachstum  der  Teile  durch  ein  Hin- 
strömen des  die  Ernährungsflüssigkeiten  enthaltenden  Blutes  zu  den 
infolge  Leerheit  nach  der  Aufnahme  neuer  Stoffe  begierigen  Stellen. 
Die  Atmung  kommt  nach  ihm  durch  Nachströmen  der  Luft  in  den 
erweiterten  Brustkorb  infolge  „horror  vacui"  zustande.  Eine  grob 
mechanistische  Erklärung  der  Muskelbewegung  gibt  er  in  seiner 
Annahme,  daß  das  Gehirn  bei  dem  Willensimpuls  durch  die  Nerven 
das  Pneuma  in  die  zu  bewegenden  Muskeln  presse,  deren  Hohlsäume 
gleichsam  aufblase  und  dadurch  ihre  Verkürzung  hervorrufe. 

Zwischen  diesen  Lehren,  welche  Erasistratos  selbst  —  wie 
gesagt  —  als  rein  naturwissenschaftlich  bezeichnet,  und  seiner  Patho- 


Die  Schule  von  Alexandreia. 


87 


logie,  die  er  als  die  eigentliche  und  unmittelbare  Unterlage  der  Me- 
dizin betrachtet,  besteht  in  den  meisten  Punkten  nur  eine  äußere 
gezwungene  Verbindung.  Krankheit  ist  nach  seiner  Meinung  nichts 
anderes  als  die  Behinderung-  des  Organismus  in  seinen  normalen 
Funktionen  infolge  Ueberfüllung  seiner  Teile  mit  den  aus  der  Nah- 
rung stammenden,  nicht  genügend  verdauten  Stoffen.  Er  bezeichnet 
diesen  Zustand  als  „Plethora"  und  sucht  damit  alle  einzelnen  Krank- 
heitserscheinungen zu  erklären.  Seine  Beobachtungen  an  der  Leiche, 
die  ihn  als  ersten  eine  Reihe  von  sichtbaren  anatomischen  Krank- 
heitsveränderungen dieses  und  jenes  Organs  erkennen  ließen  (z.  B. 
der  Leberskirrhose  bei  Wassersucht),  führten  ihn  zu  einer  stark  lokal- 
pathologischen Betrachtung:  so  ist  das  Fieber,  das  er  übrigens  nicht 
als  selbständige  Krankheit,  sondern  als  bloßes  Symptom  erkannte, 
nichts  anderes  als  die  Stockung  des  Pneumakreislaufes  in  den  großen 
Arterien  infolge  Eindringens  des  „überfüllten"  Blutes  aus  den  ^^enen. 
Entzündung  bedeutet  ihm  dem  Wesen  nach  das  gleiche,  nur  ist  ihr 
Sitz  in  den  feinsten  Endigungen  der  Gefäße.  Arthritis  beruht  auf 
einer  „Plethora"  der  Gelenke,  Lungenentzündung  auf  einer  Stauung 
der  Lungenarterien  usw.  Man  erkennt  bei  allen  diesen  Anschauungen 
unschwer,  wie  Erasistratos  bemüht  war,  die  auf  Grund  nüchterner 
Beobachtungen  am  Krankenbette  und  an  der  Leiche  festgestellten 
Tatbestände  mit  gewissen  aprioristischen  Theoremen  zu  einem  Bilde 
zu  vereinigen. 


■<=lSa9.?-.;'li>-.A. 


Abb.  51.  Abb.  52. 

Lbb.    51.     Hellenistisches  Votiv:   Knabe   mit  rechtsseitiger  Augengeschwulst   (Sammlung 

Prof.  Meyer-Steineg). 
Lbb.    52.     Hellenistisches   Votiv:    Mann    mit    linksseitiger    FacLiHs-Lähmung   (Sammlting 

Prof.  Meyer-Steineg). 


88 


Die  Schule  von  Alexandreia. 


Indem  [Erasistratos  alle  Krankheiten  auf  das  eine  Prinzip 
der  „Plethora"  zurückzuführen  suchte,  behielt  er  in  seinen  Lehren 
keinen  Raum  für  eine  eigentliche  Aetiologie  übrig.  Denn  die  ferner 
liegenden  Ursachen  der  Plethora  konnten  danach  für  ihn  lediglich 
theoretische  Bedeutung  haben.  Seine  Diagnostik  war  daher  auch 
viel  stärker  lokal  gefärbt,  als  etwa  bei  Herophilos,  sie  ähnelt 
hierin  noch  am  meisten  der  älteren  knidischen. 

Genaueres  über  seine  Unter- 
suchungsmethoden ist  aus  den 
wenigen  Bruchstücken  seiner 
Schriften  nicht  zu  entnehmen; 
nur  das  eine  steht  fest,  daß  er 
der  Pulsbeobachtung  nicht  an- 
nähernd die  Bedeutung  beimaß, 
wie  sein  großer  Zeitgenosse.  Wie 
sehr  aber  auch  er  bestrebt 
war,  eine  möglichst  zuverlässige 
Unterlage  für  die  Behandlung 
zu  erhalten,  zeigt  sein  Ausspruch: 
„Es  geziemt  sich  für  den,  der 
richtig  arzten  will,  sich  in  den 
auf  die  Heilkunst  bezüglichen 
Dingen  zu  üben  und  keine  der 
die  Krankheit  begleitenden  Er- 
scheinungen ununtersucht  zu 
lassen,  sondern  darauf  zu  achten 
und  danach  zu  forschen,  auf 
Grund  welcher  Disposition  (Sca- 
■9-saic)  jede  einzelne  (der  Erschei- 
nungen) auftritt." 

Folgerichtigerweise  gestal- 
tete Erasistratos  seine  The- 
rapie nach  zwei  Grundgedanken. 
Sie  mußte  sich  einmal  gegen  die 
allgemeine  Ursache,  die  „Plethora",  richten  und  war  in  dieser  Hinsicht 
also  im  weiteren  Sinne  ätiologisch,  in  zweiter  Linie  aber  zielte  sie 
auf  eine  unmittelbare  Beeinflussung  des  leidenden  Teiles  ab,  war 
also  lokalpathologisch  begründet.  Zu  den  allgemeinen  Maßnahmen, 
welche  die  „UeberfüUung"  beseitigen  sollten,  gehörte  eine  einschrän- 
kende Regelung  der  Diät  bis  zum  vollkommenen  Fasten,  Abführ-, 
Brech-,  harn-  und  schweißtreibende  Mittel,  Bäder,  Einreibungen  und 
anderes.  Der  Aderlaß  wurde  nur  in  seltenen  Fällen  angewandt, 
weil  durch  ihn,  wenn  man  wenig  Blut  abzapfe,  auch  nur  wenig  von 
den   schädlichen  Stoffen   entfernt  werde,    wenn  man  aber  diese  letz- 


Abb.    53.       Hellenistisches    Votiv,    multiple 

Hautgeschwülste  darstellend  (Sammlung  Prof. 

Meyer-Steineg)  . 


Die  Schule  von  Alexandreia. 


89 


teren  in  genügender  Menge  beseitigen  wolle,  mehr  Blut  entzogen 
werden  müsse,  als  unter  Umständen  gut  sei.  An  die  Stelle  des 
Aderlasses  setzte  er  meist  Einwickelungen  der  Glieder  oder  Appli- 
kationen von  Schröpfköpfen,  Kautern  und  anderem,  also  örtliche 
Mittel  der  verschiedensten  Art,  welche  überhaupt  in  fast  allen  Fällen 
ergänzend  zu  den  Allgemeinmitteln  hinzutreten  mußten. 

Ueber  die  Leistungen  des  Erasistratos  auf  den  übrigen  Ge- 
bieten der  ^ledizin  ist  zu  wenig  bekannt,  um  eine  deutliche  Vor- 
stellung darüber  zu  erhalten. 


Abb.  54.     Hellenistisches  Relief:   Arzt  vor  seinem  Schrank  (innen  BQcherrolIen,   darüber 
Instrumentenkasten),    in    einer   Bücherrolle   lesend    (vielleicht    zur    Vorbereitung    für   eine 

Operation). 


90 


Die  Schule  von  Alexandreia. 


Der  Einfluß  der  beiden  großen  Alexandriner  auf  den  weiteren 
Gang  der  Medizin  war  ein  nachhaltiger.  An  beide  schlössen  sich 
eine  große  Reihe  unmittelbarer  Schüler  und  mittelbarer  Anhänger 
an,    welche    zum   Teil    die   Lehren    ihrer   Meister    als    unantastbares 


Abb.  55.     Chirurgische   Instrumente   aus  Alexandrinischer  Zeit.     Von   links    nach   rechts: 
Salbenreiber,  Spatelmesser,  „Löffel  des  Diokles"  zur  Ausziehimg  von  Pfeilspitzen,  Messer 
und  scharfer  Löffel,    Kornzange,  Unterbindungsnadel  (Oehr  mangelhaft  sichtbar).     (Samm- 
lung Prof,  Meyer-Steineg.) 


Die  Schule  von  Alexandreia. 


91 


Dogma  hinstellten  und  in  dessen  Befolgung  die  Schöpfer  der  Lehre 
selbst  zu  übertreffen  suchten.  So  entstand  eine  Schule  der  Hero- 
phileer  und  eine  der  Erasistrateer,  die  beide  sich  eines  wech- 


Abb.   56.     Chirurgische    Instrumente   aus   alexandrinischer   Zeit:   scharfer  Löffel,  geöhrte 

Sonde,    ^lesser    und    Löffel,    Medikamentenlöffel,    Lidpinzelte    mit    Messer,    Lidpinzette, 

scharfer  Löffel,  Hakenmesser,  Arzneinäpfchen  (Sammlung  Prof.  Meyer-Steineg). 


selnden  Einflusses  erfreuten  und  bis  in  nachchristliche  Zeiten  sich 
erhielten,  Sie  verdankten  dies  nicht  zum  wenigsten  dem  außer- 
ordentlichen Eifer,  mit  dem  sie  andauernd  gegeneinander  im  Kampfe 
lagen,   einem  Eifer,   der   keiner   der  beiden   Schulen   gestattete,   auf 


92 


Die  Schule  von  Alexandreia. 


^^ 


dem  Erworbenen    auszuruhen,   vielmehr   immer   neuen  Antrieb   zum 
Weiterarbeiten  gab. 

Dabei  waren  die  Gegensätze  zwischen  ihnen  im  Grunde  ge- 
nommen nicht  so  er- 
hebHch.  In  den  wich- 
tigsten Fragen  wa- 
ren sie  sogar  völlig 
der  gleichen  Mei- 
nung: daß  nämlich, 
ebenso  wie  bei  ihren 
Meistern,  der  Ana- 
tomie die  erste  Rolle 

einzuräumen    sei. 
Während   aber  ihre 
Vorbilder  dabei  eine 

ziemlich  scharfe 
Trennung  zwischen 
den  Verhältnissen 
beim  Menschen  und 
beim  Tier  durchge- 
führt zu  haben  schei- 
nen,   stellt   bei    den 

Nachfolgern  die 
Anatomie,  soweit  die 
geringen  erhaltenen 
Bruchstücke  erken- 
nen lassen,  ein  ziem- 
lich buntes  Gemisch 
von  menschlicher 
und  tierischer  Ana- 
tomie dar.  Im  übri- 
gen hatte  der  scharfe 

Wettbewerb  zwi- 
schen beiden  Schu- 
len die  erfreuliche 
Folge,  daß  beide  zur 
Ausgestaltung  der 
einzelnen  Teile  der 
Medizin  erheblich 
beigetragen  haben,  so  dafd  man  die  Zeit  nach  Herophilos  und 
ErasistratoS  vielleicht  als  die  fruchtbarste  der  antiken  Medizin 
bezeichnen  darf.  Neue  theoretische  Erkenntnisse  von  allgemeiner 
Bedeutung    haben    allerdings    weder    die    einen    noch    die    anderen 


Abb.     57.      Chirurgische    Instrumente    aus    alexandrinischer 

Zeit:    oben   Kanüle,    Kanüle,    geöhrte    Sonde,  Wundhaken, 

Spitzsonde,  Blasensteinhaken,  unten  Punktionskanüle,  Lanzette 

(Sammlung  Prof.  Meyer-Steineg). 


Die  Schule  von  Alexandreia. 


93 


in  nennenswertem  Umfange  zutage  gefördert.  In  dieser  Hinsicht 
schienen  die  beiden  Vorbilder  den  gesamten  Geist  der  Zeit  aus- 
geschöpft  zu  haben.     Das  zeigt   vor   allem   die   geradezu  sklavische 


Abb.   58.     Augenärztliches   Instrumentarium   aus   alexandrinischer  Zeit.     Oben   Lidhaltcr, 

Kauter,  Slamadel,  Starmesser,  2.  Lidhalter,  Cilienpinzette.   Unten:  K.isten,  Spatel,  scharfer 

Löffel,  Reiber.     (Sammlung  Prof.  Meyer-Steineg.) 

Anhänglichkeit  der  Erasistrateer  an  die  Lehre  von  der 
Plethora,  die  in  ihrer  theoretischen  Begründung  sowohl  als  auch 
in  ihren  praktischen  Konsequenzen  ihnen  als  der  Inbegriff  aller 
ärztlichen  Wissenschaft  erschien.  Von  den  Einzelgebieten,  welche  von 


94 


Die  Schule  von  Alexandreia. 


•'«■«yiii^v 


den  alexandrinischen  Aerzten  eine  bedeutsame  Förderung  erfahren 
haben,  steht  obenan  die  Chirurgie.  Einer  der  wichtigsten  Fort- 
schritte war  die  Anwendung  der  Narkose.  Welcher  alexandrinische 
Arzt  sie  zuerst  angewandt  hat,  ist  nicht  bekannt.  Es  steht  nur  fest, 
daß  die  Chirurgen  Alexandriens  sich  eines  Auszugs  aus  der  Alraun- 
wurzel (Mandragoras)   bedient  haben,   um,   wie  später  DiOSKURiDES 

berichtet,  beim  Operieren  mit  Messer  oder 
Glüheisen  Empfindungslosigkeit  zu  erzeugen. 
Eine  weitere  Entdeckung  von  großer 
Tragweite  war  die  Adernunterbindung,  die 
es  gestattete,  auch  solche  chirurgische  Ein- 
griffe vorzunehmen,  an  welche  die  Aerzte  bis 
dahin  sich  wegen  der  Verblutungsgefahr 
nicht  gewagt  hatten,  wie  beispielsw^eise  die 
Amputation  größerer  GHeder.  Von  den  um 
die  alexandrinische  Medizin  besonders  ver- 
dienten Aerzten  ist  vor  allem  Claudios 
Philoxenos,  der  das  gesamte  Gebiet  be- 
handelt hat,  zu  erwähnen,  sodann  Apol- 
LONIOS  von  Kition,  welcher  vor  allem 
durch  Kommentierung  hippokratischer  Schrif- 
ten berühmt  wurde,  und  AmmoNIOS,  der  eine 
vervollkommnete  Methode  der  Blasenstein- 
operation nebst  dem  dazu  gehörigen  Instru- 
mentarium angab. 

Auf  dem  Gebiete  der  Frauenheilkunde 
und  Geburtshilfe  leisteten  hervorragendes 
Demetrios  von  Apameia,  der  eine  neue  Er- 
klärung des  „Flusses"  der  Frauen  gab  und 
über  Dystokie  schrieb,  ferner  Claudios 
Philoxenos  und  Lampsakos. 

Als  Augenärzte  taten  sich  Andreas  von 
Karystos  und  Gaius  hervor.  Den  nach- 
haltigsten Einfluß  auf  diesem  Gebiete  übte 
aber  Demosthenes  Philalethes  aus,  dessen 
Werk  „o'fO-aXjitXQ?"  für  eine  lange  Reihe 
von  Jahrhunderten  die  von  zahlreichen  Autoren  benutzte  Quelle 
blieb. 

Auch  die  Arzneimittellehre  wurde  von  vielen  der  alexandrinischen 
Aerzte  bereichert.  Unter  ihnen  ragen  vor  allem  HiKESiOS  mit  seinem 
Werke  „uspl  uX-^?"  (=  de  materia  medica)  und  Andreas  von  Karystos 
mit  seiner  Schrift  „Der  Arzneikasten"  (vdpö-^4)  hervor,  die  sich  beide 
nur  mit  einzelnen  Teilen  der  Pharmakologie  beschäftigt  haben. 


Abb.       59.       Instrumenten- 

büchse  mit  Asklepios. 

(Sammlung     Prof.     Meyer- 

Steineg.) 


Die  Schule  von  Alexandreia.  95 

Zwar  wurden  von  keinem  einzigen  dieser  Leute  die  großen 
beiden  Vorbilder  erreicht,  aber  es  gelang  ihnen  doch,  die  einmal 
vorhandene  Tradition  durch  einen  wenigstens  äußerlichen  und  mittel- 
baren Anschluß  an  die  Meister  aufrecht  und  damit  die  Bedeutung 
Alexandriens  für  die  Medizin  mehrere  Jahrhunderte  hindurch  lebendig 
zu  erhalten.  Durch  ihre  Bearbeitung  der  Einzelgebiete  der  Heil- 
kunde imd  Aufsammlung  einer  großen  Menge  von  Einzeltatsachen 
bereiteten  sie  so  den  Boden  vor,  auf  dem  dann  vierhundert  Jahre  nach 
Herophilos  und  Era.SISTRATG5  deren  Streben  nach  einem  die 
Jahrhunderte  überdauernden,  alles  beherrschenden  medizinischen 
Lehrgebäude  wirklich  seine  tatsächliche  Erfüllung  finden  sollte  in 
in  dem  großen  Galexos,  den  man  somit  als  das  eigentliche  Endglied 
der  alexandrinischen  ^Medizin  bezeichnen  kann. 


Die  Schule  der  Empiriker. 

Die  geschlossene  Einheit,  welche  die  Sekten  der  Herophileer 
und  Er  asis  trateer  nach  außen  hin  bildeten,  war  in  Wirklichkeit 
nicht  so  fest,  wie  es  den  Anschein  hatte.  Nicht  wenige  der  ihnen 
formal  zugehörenden  Aerzte  standen  im  Grunde  auf  einem  ganz 
anderen  Standpunkte.  Bei  dem  einen  tritt  das  deutlicher,  bei  dem 
anderen  weniger  sichtbar  hervor.  Die  ursprünglichen  Lehren  der 
beiden  führenden  Geister  hatten  schon  bald  nach  ihrem  tatsächlichen 
Ausscheiden  viel  von  ihrer  Wirksamkeit  eingebüßt,  die  doch  —  wie 
das  gewöhnlich  der  Fall  ist  —  zu  einem  großen  Teil  mit  der  Per- 
sönlichkeit selbst  eng  verbunden  war.  Hätten  die  Lehrmeinungen 
des  Erasistratos  und  Herophilos  ihre  Schüler  und  Nachfolger 
wahrhaft  befriedigt,  so  würden  sie  versucht  haben,  ihren  Kern  weiter  zu 
entwickeln.  So  aber  wandten  sich  die  meisten  denjenigen  Einzelheiten 
zu,  deren  Bearbeitung  eine  ganz  andere  Forschungsmethode  verlangte, 
bei  welcher  der  Empirie  ein  weit  breiterer  Raum  gewährt  wurde. 

Mag  dieser  Zusammenhang  den  meisten  der  alexandrinischen 
Aerzte  gar  nicht  voll  zum  Bewußtsein  gekommen  sein,  so  gab  es 
doch  auch  etliche  unter  ihnen,  welche  in  ausgesprochener  Opposition 
gegen  die  Grundanschauungen  der  herrschenden  Lehren  vorgingen, 
Sie  setzten  der  Forderung  einer  wissenschaftlichen  Behandlung  der 
Medizin  den  Standpunkt  der  reinen  Erfahrung  entgegen.  Sie  er- 
klärten sich  durchaus  unbefriedigt  durch  eine  Methode,  welche  zwar 
über  mancherlei  naturwissenschaftliche  Probleme  gewisse  theoretische 
Aufschlüsse  geben  zu  können  versprach,  aber  —  nach  ihrer  Meinung 
—  damit  keinerlei  zuverlässige  Unterlagen  für  die  praktische  Kranken- 
behandlung schuf.  Sie  übersahen  geflissentlich  die  Bedeutung,  welche 
die  Grundgedanken  und  Bestrebungen  des  Herophilos  und  Era- 
sistratos auch  dann  für  die  Weitergestaltung  der  Medizin  hatten,  wenn 
ihre  Absichten  sich  niemals  voll  verwirklichen  ließen  und  schössen  des- 
halb in  ihren  eigenen  Ideen  weit  über  das  Ziel  hinaus,  dessen  Er- 
streben an  sich  als  gesundes  Gegengewicht  gegen  eine  zu  sehr  überhand- 
nehmende Theoretisierung  der  Medizin  ganz  berechtigt  gewesen  wäre. 

Schon  der  Name  „Empiriker"  (l[j.:retpt%oL),  den  sie  sich  beilegten, 
wirkte  wie  ein  Kampfruf  in  einer  Zeit,  welche  gerade  diesen  Stand- 
punkt endgültig  beseitigt  zu  haben  glaubte.  Noch  mehr  taten  dies 
die  Leitsätze,  in  denen  sie  ihre  Bestrebungen  begründeten,  „Die 
Heilkunst  sei  entstanden,  indem  man  durch  die  Gesundung  der  einen 


Die  Schule  der  Empiriker.  97 

und  durch  das  Zugrundegehen  der  anderen  das  Schädliche  von  dem 
Heilsamen  unterscheiden  gelernt  habe.  Und  erst  nachdem  man  die 
Heilmittel  in  der  Medizin  gefunden  habe,  hätten  die  Leute  begonnen, 
über  deren  theoretische  Begründung  zu  disputieren.  Die  Heilkunde 
sei  also  nicht  auf  Grund  der  theoretischen  Ueberlegung  erfunden, 
sondern  man  habe  eine  theoretische  Begründung  erst  gesucht,  nach- 
dem die  Heilmethode  bereits  erfunden  worden  sei."  Ferner  „sei 
nicht  von  Interesse,  was  eine  Krankheit  hervorrufe,  sondern  was  sie 
beseitige",  und  „man  könne  Krankheiten  nicht  durch  Beredsamkeit, 
sondern  nur  durch  Heilmittel  heilen". 

Die  Empiriker  gingen  demnach  in  der  Begreifung  des  reinen 
Erfahrungsstandpunktes  sogar  noch  über  H1PPOKRA.TES  hinaus,  der 
doch  die  Theorie,  wenn  auch  nicht  als  Grundlage  der  Kranken- 
behandlung, so  doch  wenigstens  als  Bildungsmittel  für  den  Arzt 
gelten  ließ.  Für  sie  baut  sich  die  Heilkunde  ausschließlich  auf  drei 
Fundamenten,  auf,  dem  sogenannten  „empirischen  Dreifuß".  Dessen 
wichtigster  Teil  ist  die  eigene  Beobachtung  {rqp'qaic).  Sie  bezieht 
sich  nicht  nur  auf  das,  was  sich  dem  Beobachter  „von  selbst"  dar- 
bietet, sondern  auch  auf  das,  was  ihm  seine  Versuche  zeigen.  Der 
zweite  Punkt  ist  die  Ueberlieferung  der  Beobachtungen  anderer 
(loTopia),  w^elche  die  eigene  Beobachtung  ergänzen  soll.  In  Fällen, 
in  denen  diese  beiden  Unterlagen  nicht  ausreichen,  soll  der  Analogie- 
schluß {i.zb  Tob  6'AOioo  {ieraßaot<;)  aushelfen. 

In  der  Einseitigkeit  ihrer  Auffassung  liegt  sowohl  die  Schwäche, 
wie  aber  auch  die  Stärke  der  Empiriker.  Ihre  Schwäche  insofern, 
als  sie  jeden  erkenntnistheoretischen  Fortschritt  vollkommen  unmög- 
lich machten,  ihre  Stärke,  indem  sie  alle  ihre  Kraft  auf  die  prak- 
tischen Ziele  der  Heilkunde  sammelten.  Ihre  Verdienste  liegen  daher 
auf  den  Gebieten,  auf  denen  die  bloße  Erfahrung  Fortschritte  zu 
erzielen  vermag:  der  Symptomenlehre,  der  Untersuchungsmethodik, 
der  Arzneimittelkunde  und  der  Chirurgie. 

Als  Begründer  der  empirischen  Schule  galten  Philinos  von 
Kos  und  Serapion  aus  Alexandreia,  beide  in  der  zweiten  Hälfte 
des  3.  Jahrhunderts  v,  Chr.  Sie  waren  gleichzeitig  die  heftigsten 
Gegner  des  Hippokratismus,  in  welchem  sie  vöUig  zu  Unrecht  den 
Ausgangspunkt  der  ganzen  dogmatischen  Richtung  sahen.  Ge- 
mäßigter ging  Glaukias  von  Taras  vor,  der  um  170  v.  Chr.  lebte 
und  einen  Kommentar  zu  allen  hippokratischen  Schriften  schrieb,  in 
dem  er  zwischen  deren  Grundsätzen  und  denen  seiner  Schule  zu 
vermitteln  suchte.  Den  Höhepunkt  des  Empirismus  bedeutet  Hera- 
kleides von  Taras  im  Beginn  des  i.  Jahrhunderts  v.  Chr.  Er  hat 
eine  Schrift  in  sieben  Büchern  über  seine  eigene  Sekte  verfaßt,  in 
der  er   offenbar   ihre  Prinzipien   auf   das  ausführlichste  auseinander- 

Meyer-Stcineg  u.  Sudhoff,  Ulustr.  Geschichte  der  Medizin.  7 


g8  Die  Schule  der  Empiriker. 

gesetzt  und  begründet  hat.  Seine  übrige  schriftstellerische  Tätigkeit 
ist  ebenfalls  für  die  empirische  Schule  kennzeichnend.  Er  schrieb 
über  „die  inneren  und  äußeren  Heilmittel",  eine  Kriegschirurgie  mit 
dem  Titel  „Der  Soldat",  ein  Buch  „Die  Diät",  eines  über  „Bereitung 
und  Prüfung  der  Arzneimittel".  Gerade  das  letztere  Werk,  in  dem 
er  zahlreiche  eigene  pharmakologische  Versuche  niedergelegt  haben 
soll,  zeigt  die  Lichtseite  der  empirischen  Forschung. 

Was  im  einzelnen  die  Empiriker  für  die  gesamten  Gebiete  der 
Medizin  geleistet  haben,  ist  nicht  unmittelbar  aus  ihren  Schriften  zu 
erschließen,  von  denen  nur  kleine  Bruchstücke  bei  anderen  Autoren 
uns  überliefert  sind.  Dagegen  zeigen  uns  die  teilweise  erheblichen 
Unterschiede,  welche  die  spätere  Literatur  —  namentlich  das  ganz 
auf  alexandrinischen  Quellen  aufgebaute  Buch  des  Römers  Celsus 
—  gegenüber  den  früheren  aufweist,  welche  Fortschritte  in  der 
Zwischenzeit  gemacht  sein  müssen. 

In  die  Bestrebungen  der  empirischen  Schule  fügen  sich  die- 
jenigen einiger  zeitgenössischer  Herrscher  ein,  welche  zum  Teil  aus 
wirklichem  Interesse,  zum  anderen  Teil  aber  aus  durchaus  selbstischen 
Gründen  sich  auf  dem  Gebiete  der  Giftlehre  betätigten.  So  baute 
Attalos  III  von  Pergamon  (138 — 133  v.Chr.)  selbst  allerlei  giftige 
Gewächse,  die  mit  Vorliebe  zum  Meuchelmord  benutzt  wurden,  an 
(Schierhng,  Bilsenkraut  u.  a.)  und  benutzte  Verbrecher,  um  die  Wir- 
kung dieser  Gifte  zu  erproben  und  Gegenmittel  ausfindig  zu  machen. 
In  gleicher  Weise  verfuhr  Nikomedes  von  Bithynien  (f  91  v.  Chr.), 
Noch  weiter  als  dieser  ging  Mithridates  Eupator  (120 — 63  v.  Chr.). 
Er  experimentierte  nicht  nur  an  anderen,  sondern  vor  allem  an  sich 
selbst.  Auf  Grund  langer  Versuche  setzte  er  ein  noch  Jahrhunderte 
später  nach  ihm  „Mithridaticum"  benanntes  Antidot  aus  54  Bestand- 
teilen zusammen,  wodurch  er  ein  Gegengift  gegen  jede  mögliche 
Art  von  Vergiftung  gefunden  zu  haben  glaubte.  Er  nahm  täglich 
erst  das  Antidot  ein,  dem  er  das  Blut  von  pontischen  Enten  hinzu- 
setzte, die  mit  Vorliebe  einige  der  hauptsächlichsten  Giftpflanzen 
fraßen,  dann  hinterher  nahm  er  in  steigenden  Dosen  Gift.  Auf  diese 
Weise  vermeinte  er,  sich  gegen  jeglichen  Vergiftungsversuch  immuni- 
sieren zu  können.  Seine  Erfahrung  legte  er  auch  in  persönlichen 
Aufzeichnungen  nieder. 

Die  Wirkungen  der  alexandrinischen  Medizin  haben,  wie  bereits 
erwähnt  wurde,  weit  über  die  Zeit  hinaus  sich  erstreckt,  welche  im 
übrigen  Alexandreia  mit  seiner  Kultur  beherrscht  hat;  sie  haben 
noch  weit  bis  in  jene  Epoche  hinein  sich  bemerkbar  gemacht,  welche 
bereits  deutlich  den  Einfluß  eines  neuen  kulturellen  Mittelpunktes 
erkennen  läßt,  Rom. 


Die  Heilkunde  bei  den  Römern  vor  der  Einführung 
der  griechischen  Medizin. 

Entwicklung  des  römischen  Aerztestandes. 

Erst  spät  hat  sich  bei  den  Römern  eine  wirkliche  Heilkunde 
entwickelt,  wie  sie  die  übrigen  Völker  des  Altertums  bereits  auf 
einer  ziemlich  frühen  Kulturstufe  aufzuweisen  hatten.  So  lange  die 
Römer  im  wesentlichen  ein 
Volk  aus  rauhen  Kriegern 
und  abgehärteten  Bauern 
waren,  war  auch  das  Be- 
dürfnis nach  Aerzten  und 
ihrer  Hilfe  gering.  Ein  jeder 
half  sich,  so  gut  er  konnte, 
mit  Hausmitteln  und  nahm, 
wenn  diese  versagten,  zu 
der  Zauberkunst  marsischer 
und  etruskischer  Gaukler 
seine  Zuflucht.  Das  führte 
dann  allmählich  zu  einer 
starken  Verquickung  der 
Heilmaßnahmen  mit  reli- 
giösen Dingen,  die  sich  in 
der  Verehrung  bestimmter 
Gottheiten  kundgab ;  so  wur- 
den neben  der  eigentlichen 
Heilgöttin,  der  „Dea  Salus", 
bei  besonderen  Leiden  auch 
besondere  Götter  angerufen 
bei  Fieber  die  „Dea  Febris" 
und  „Mephitis",  in  Geburts- 
fällen die  „Carmenta"  und 
„Lucina"  usw.,  denen  man 
dann  vielfach  Weihgaben  in 

Form  von  Nachbildungen  der  erkrankten  Körperteile  darbrachte. 
Allerlei  Beschvvörungs-  und  Zauberformeln  ergänzten  diese  Maß- 
nahmen. 


Abb.    60.      Exvoto    (aus    dem    Thermen-Museum) 
mit  Darstellung  der  Eingeweide. 


loo     Heilkunde  bei  den  Römern  vor  Einführung  der  griechischen  Medizin. 

Dabei  trat  ein  nicht  geringes  Verständnis  für  allgemeine  sanitäre 
Einrichtungen  bereits  in  ziemlich  früher  Zeit  hervor.  Denn  die  Zwölf- 
tafel-Gesetzgebung (450  V.  Chr.)  verbot  schon  die  Beerdigung  und 
Verbrennung  von  Toten  innerhalb  der  Stadt.  Die  Anlage  der  „Cloaca 
maxima"  und  der  Wasserleitungen  geht  ebenfalls  in  alte  Zeit  zurück. 
Eine  „Lex  Regia"  untersagte  die  Beerdigung  einer  „Paritura";  und 
die  Fürsorge  für  den  „Demens"  und  „Furiosus"  war  schon  gesetzlich 


Abb.  61.  Abb.  62. 

Abb.  61.     Römisches   Marmorvotiv   (Vatikan-Sammlungen   in  Rom).     Nach  Holländer, 

Plastik  und  Medizin. 
Abb.  62.     Eingeweide-Torso   (Vatikanische   Sammlung).     Nach  Holländer,   Plastik  und 

Medizin. 

geregelt.  Trotzdem  gab  es  bis  in  das  2.  Jahrhundert  v.  Chr.  hinein 
bei  den  Römern  weder  eine  richtige  Heilkunde  noch  wirkliche 
Aerzte. 

Erst  durch  die  Sklaven,  welche  sie  aus  ihren  Kriegen  mit  heim- 
brauchten, lernten  sie  die  Segnungen  einer  bereits  entwickelten  Heil- 
kunst kennen,  namentlich  durch  Sklaven  griechischer  Abkunft.  Und 
wenn  diese  auch  zumeist  nicht  einmal  wirkliche  Aerzte,  sondern  nur 


Heilkunde  bei  den  Römern  vor  Einführung  der  griechischen  Medizin.      loi 

Vertreter  des  niederen  Heilgewerbes  (s,  oben  S.  51)  waren,  so  wußten 
sie  doch  durch  ihre  Leistungen  sich  bald  ihren  Herren  derart  un- 
entbehrhch  zu  machen,  daß  jeder  römische  Bürger,  der  durch  sein 
Vermögen  zur  Haltung  einer  größeren  Sklavenschar  imstande  war, 
sich  einen  „servus  medicus"  zu  verschaffen  suchte.  Infolgedessen 
bildete  sich  in  Rom  das  eigentümliche  Verhältnis  heraus,  daß  nur 
eine  Anzahl  von  Begüterten  über  wirkliche  ärztliche  Hilfe  verfügte, 
während  die  Allgemeinheit  diese  nach  wie  vor  entbehren  mußte. 
Freilich  mögen  die  „Arztsklaven"  häufig  von  ihren  Herren  zur  Hilfe- 
leistung außerhalb  der  eigenen  Familie  verdungen  worden  sein,  jeden- 
falls aber  war  die  Institution  des  „servus  medicus"  sowohl  der  Ent- 
wicklung einer  römischen  Heilkunde  als  auch  eines  richtigen  Aerzte- 
standes  mehr  hinderlich  als  förderlich. 

Um  die  Wende  des  3.  und  2.  Jahrhunderts  v.  Chr.  scheinen  zum 
ersten  Male  freie  Aerzte  aus  Griechenland  den  \'ersuch  gemacht  zu 
haben,  sich  in  Rom  niederzulassen.  Plinius  schildert  etwas  anek- 
dotenhaft, wie  ein  gewisser  Archagathos  (=  Guter  Anfang)  im 
Jahre  219  v.  Chr.  als  erster  griechischer  Arzt  nach  Rom  gekommen 
und  vom  Volke  zunächst  mit  Begeisterung  aufgenommen  worden 
sei.  Man  habe  ihm  das  Bürgerrecht  verliehen  und  einen  „Laden"  am 
,.conpitus  Acilius"  auf  Staatskosten  eingerichtet.  Zum  Dank  für  seine 
Tüchtigkeit  habe  man  ihm  den  Titel  eines  „Wundenheilers"  beigelegt. 
Bald  aber  habe  er  die  Gesinnung  der  Römer  durch  sein  grausames 
Brennen  und  Operieren  umgewandelt,  so  daß  man  ihn  einen  „Schinder" 
genannt  und  nicht  nur  seiner  selbst,  sondern  aller  Aerzte  überdrüssig 
geworden  sei. 

Jedenfalls  zeigt  des  Plinius  Erzählung  die  Schwierigkeiten  und 
Vorurteile,  mit  denen  die  griechischen  Aerzte  in  Rom  zu  kämpfen 
hatten.  Und  diese  Schwierigkeiten  bestanden  nach  zwei  Richtungen 
hin:  einmal  hatte  der  im  2.  Jahrhundert  v.  Chr.  immer  zunehmende 
Einfluß  griechischen  Wesens  und  griechischer  Bildung  auf  selten 
nationalgesinnter  Römer  eine  mächtige  Gegenströmung  hervorge- 
rufen. Das  zeigt  das  Auftreten  von  Leuten  wie  Cato  dem  Censor, 
der  in  der  nicht  unbegründeten  Furcht,  daß  unter  dem  weiteren 
Eindringen  griechischer  Sitten  die  altrömische  Einfachheit  leide,  und 
daß  namentlich  durch  die  griechischen  Aerzte  die  Verweichlichung 
immer  mehr  gefördert  werde,  auf  das  heftigste  und  nicht  ohne  Er- 
folg gegen  die  letzteren  agitierte.  Das  zweite  Hemmnis  lag  in  der 
unsicheren  und  niederen  sozialen  wie  rechtlichen  Stellung,  welche 
der  PVemde  im  alten  Rom  genoß.  So  kam  es,  daß  in  Rom  lange 
Zeit  weder  die  freien  noch  die  Sklavenärzte  sich  selbst  und  ihrem 
Berufe  zur  Anerkennung  verhelfen  konnten. 

Erst   allmählich   erkämpften  sich  die  Aerztesklaven  eine  freiere 


I02     Heilkunde  bei  den  Römern  vor  Einführung  der  griechischen  Medizin. 

Stellung.  Manche  von  ihnen  wurden  von  ihren  Herren  aus  Dank- 
barkeit freigelassen  und  genossen  dann  als  „medici  liberti"  eine  ge- 
wisse Selbständigkeit,  welche  ihnen  die  freie  Ausübung  ihrer  Kunst 
ermöglichte.  Die  Zahl  solcher  Aerzte  aus  dem  Freigelassenenstande 
nahm  sehr  bald  zu,  so  daß  sich  nach  und  nach  die  Grundlagen  eines 
ärztlichen  Standes  bildeten.  Dazu  kam  noch,  daß  auch  die  Römer 
selbst  ihren  grundsätzlichen  Standpunkt  gegenüber  der  Ausübung 
des  ärztlichen  Berufes  allmählich  änderten.  Die  alte  römische  An- 
schauung, daß  jede  Art  von  entgeltlicher  Berufstätigkeit  eines  civis 
Romanus  unwürdig  und  ausschließlich  den  Sklaven  und  Fremden  zu 
überlassen  sei,  konnte  sich  auf  die  Dauer  nicht  behaupten.  Man 
kam  vielmehr  zu  der  Einsicht,  daß  die  Ausübung  gewisser,  eine  be- 
sondere Fachkenntnis  erfordernder  Tätigkeiten,  der  sogenannten 
„artes  liberales"  im  Gegensatz  zu  den  handwerksmäßigen  „artes  illibe- 
rales" nichts  Schimpfliches  an  sich  habe.  Zu  jenen  Berufen  aber 
rechnete  man  den  des  Medicus,  unter  dem  man  dann  freilich  nur 
die  auf  Grund  besonderer  Vorkenntnisse  tätigen  Aerzte  verstand  im 
fjregensatz  zu  den  Pfuschern  und  mit  Zauberei  und  ähnlichem  arbei- 
tenden Schwindlern.  Indem  man  diese  wirklichen  Aerzte  auch  recht- 
lich den  übrigen  Vertretern  der  freien  Berufe  —  wie  den  Rhetoren, 
Lehrern,  Anwälten  und  Landmessern  —  gleichstellte,  erkannte  man 
sie  zum  ersten  Male  als  einen  Berufsstand  an. 

Nachdem  auf  diese  Weise  das  Ansehen  der  Aerzte  und  ihres 
Berufes  erheblich  gestiegen  war,  wagten  seit  dem  Beginn  des  i.  Jahr- 
hunderts v.  Chr.  auch  wieder  freie  Aerzte  griechischer  Abkunft  nach 
Rom  überzusiedeln,  zumal  mit  der  fortschreitenden  Umwandlung 
der  einstigen  Landstadt  in  eine  Weltstadt  auch  das  Bedürfnis  nach 
einer  zureichenden  ärztlichen  Versorgung  sich  immer  mehr  fühlbar 
machte.  Trotzdem  dauerte  es  noch  etliche  Jahrzehnte,  bis  auch  von 
Staats  wegen  zum  ersten  Male  ärztliche  Dinge  geregelt  wurden.  Und 
so  bedeutet  ein  Erlaß  Caesars  vom  Jahre  46  v.  Chr.  einen  wirk- 
lichen Markstein  in  der  Geschichte  der  römischen  Medizin.  Denn 
durch  diesen  Erlaß  verlieh  er  allen  freien  Ausländern,  die  in  Rom 
ärztliche  Praxis  ausübten,  das  Bürgerrecht  und  damit  die  Möglich- 
keit, ungestört  wie  jeder  freie  Römer  seinen  Beruf  auszuüben.  Zu- 
gleich aber  wurde  dadurch  auch  für  die  Römer  selbst,  welche  sich 
der  Medizin  v/idmen  wollten,  eine  bessere  Gelegenheit  zur  Aus- 
bildung geschaffen.  Diese  Gelegenheit  wurde  denn  auch  von  immer 
mehr  römischen  Bürgern  ausgenutzt;  und  während  noch  im  Beginn 
des  I .  Jahrhunderts  V.  Chr.  fast  alle  Aerzte  Roms  einen  griechischen 
Namen  trugen,  so  finden  wir  in  den  letzten  Jahrzehnten  v.  Chr.  be- 
reits eine  ganze  Reihe  römischer  darunter.  Einen  vorläufigen  Ab- 
schluß   aber    erhielt    diese    ganze    Entwicklung    durch    AuGUSTUS, 


Heilkunde  bei  den  Römern  vor  Einführung  der  griechischen  Medizin.      103 

welcher  seinem  dem  Freigelassenenstande  angehörenden  Leibarzt 
Antonius  Musa  zum  Dank  für  die  ihm  geleisteten  Dienste  den 
Ritterrang  und  Steuerfreiheit   verlieh   und   diese  Vergünstigung  auf 


Abb.    63.      Römischer   Militänerbandplatz   (Trajans-Säule). 

und  Medizin. 


Nach    Holländer,    Plastik 


alle  Aerzte  ausdehnte.  Damit  war  mit  einem  Schlage  ein  wenigstens 
nach  außenhin  einheitlicher  Aerztestand  zu  Rom  anerkannt. 
Eine  wesentliche  Voraussetzung  einer  in  jeder  Hinsicht  zweck- 
mäßigen Ausübung  des  ärztlichen  Berufes  ist  von  jeher  das  Vor- 
handensein von  Krankenhäusern  gewesen.   Die  griechische  Zeit 


I04     Heilkunde  bei  den  Römern  vor  Einführung  der  griechischen  Medizin. 


hat    dieser    Anforderung    —    wie    wir    oben   sahen    —   in   doppelter 
Weise  Rechnung  getragen:  durch  die  Einrichtung  der  Jatreien  und 


3oneter 


Abb.  64.     Plan  des  Militärlazaretts  von  Novaeslum    (nach  C.  Koenen)   aus  dem   i.  Jahr- 
hundert n.  Chr. 


Heilkunde  bei  den  Römern  vor  Einführung  der  griechischen  Medizin.      105 

durch  Schaffung  der  Asklepieien,  deren  letztere  freilich  in  erster 
Linie  als  Unterrichtsanstalten  gedacht  waren.  Diese  Einrichtungen 
sind    von     den    Römern    in    den    Gebieten,    in    denen    sie    bereits 


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io6     Heilkunde  bei  den  Römern  vor  Einführung  der  griechischen  Medizin. 

bestanden,  ohne  weiteres  übernommen  worden  und  haben  sich  allmäh- 
lich auch  in  Rom  selbst  durchgesetzt.  Daneben  aber  hat  sich  noch 
eine  Art  besonderer  Krankenanstalten  entwickelt,  die  den  eigen- 
tümlichen römischen  Verhältnissen  in  eigener  Weise  entsprachen : 
die  sogenannten  Valetudinarien.  Sie  verdanken  ihre  Entstehung 
einem  doppelten  Bedürfnis,  dem  privaten  einer  gewissen  Bevölke- 
rungsgruppe und  dem  öffentlichen  des  Heeres.  Auf  den  großen 
Landgütern,  die  durch  ganze  Scharen  von  Sklaven  bewirtschaftet 
wurden,  machte  es  sich  für  den  Besitzer  durchaus  notwendig,  für 
seine  kranken  Angestellten,  deren  jeder  ja  als  Eigentum  seines  Herrn 
einen  gewissen  Wert  vorstellte,  möglichst  günstige  Bedingungen  für 
eine  schnelle  Gesundung  und  Wiedererlangung  der  Arbeitskraft  her- 
zustellen. So  wurden  denn  in  den  letzten  Jahrzehnten  v.  Chr.  viel- 
fach von  den  größeren  Grundbesitzern  Valetudinarien  eingerichtet, 
die  teilweise  einen  großen  Umfang  gehabt  haben  müssen  und  wahr- 
scheinlich nicht  nur  den  Sklaven,  sondern  im  Notfalle  auch  dem 
Eigentümer,  seiner  Familie  und  schließlich  auch  anderen  Personen 
Unterkunft  und  ärztliche  Behandlung  gewährten.  Sie  blieben  aber 
in  jedem  Falle  vollkommen  private  Unternehmungen  und  wurden 
von  einem  oder  mehreren  „servi  medici"  versorgt. 

Aehnlich  lagen  die  Verhältnisse  im  Heere.  In  republikanischer 
Zeit  bestand  die  ganze  Fürsorge  für  die  verwundeten  und  kranken 
Soldaten  darin,  daß  man  sie,  sobald  es  anging,  nach  Rom  oder  einer 
in  der  Nähe  gelegenen  größeten  Stadt  schaffte  und  dort  bei  Privat- 
leuten in  Pflege  gab.  War  der  Transport  ausgeschlossen,  so  erfolgte 
die  Unterbringung  in  dem  gleichen  Zelt  mit  den  gesunden  Kame- 
raden. Seit  AUGUSTUS  wurden  zugleich  mit  der  Regelung  des 
übrigen  Militärwesens  sowohl  in  den  Feldlagern  als  auch  in  den 
Standlagern  besondere  Unterkunftsräume  geschaffen,  die  dann  zu 
wirklichen  in  sich  abgeschlossenen  Lazaretten  —  die  man  ebenfalls 
Valetudinaria  nannte  —  ausgestaltet  wurden.  In  ihrer  Anlage 
lassen  diese  frühesten  Militär-Valetudinarien,  denen  dann  ein  ganz 
bestimmter  Platz  im  Lager  zugewiesen  wurde,  noch  den  Grundriß 
des  griechisch-römischen  Privathauses  deutlich  erkennen. 


Die  Einführung  der  griechischen  Medizin  in  Rom. 

Mit  den  zahlreichen  griechischen  Aerzten  waren  natürhch  auch 
die  verschiedenen  Richtungen  der  griechischen  Me- 
dizin nach  Rom  gekommen.  Ihnen  allen  stand  als  gemeinsamer 
Feind  die  altrömische  Volksmedizin  gegenüber,  wie  sie  sich 
beispielsweise  in  dem  Rezeptbuche  Catos  des  Censors,  verkörpert, 
in  welchem  neben  ganz  vernünftigen  Hausmitteln  (Granatrinde  gegen 
Würmer,  Wacholderbeerwein  gegen  Harnbeschwerden  u.  a.)  der 
Kohl  als  wahres  Universal-  und  Beschwörungsformeln  als  wirk- 
samstes Mittel  bei  Verrenkungen  und  ähnlichem  im  friedlichen  Bei- 
einander sich  finden.  Die  Autorität  eines  Mannes  wie  Cato  wird 
nicht  wenig  dazu  beigetragen  haben,  der  griechischen  Heilkunde 
das  Eindringen  nach  Rom  zu  erschweren.  Dies  um  so  mehr,  als 
seine  Anschauungen  der  Ausdruck  einer  Neigung  waren,  welche  dem 
Römertum  auch  in  späterer  Zeit  eigentümlich  geblieben  ist:  der  Neigung, 
auch  wissenschaftliche  Dinge  vorwiegend  vom  praktisch-nüchternen 
Standpunkte  zu  betrachten  und  —  umgekehrt  —  doch  auch  wieder 
allen  praktischen  Dingen  ein  wissenschaftliches  Mäntelchen  umzu- 
hängen. Alle  diese  Umstände  erschwerten  die  Einbürgerung  der  grie- 
chischen Medizin  außerordentlich.  Und  diese  vermochte  erst  dann  auf 
dem  Boden  Roms  Wurzel  zu  schlagen,  als  sie  in  einer  Form  dargeboten 
wurde,  welche  den  besonderen  Verhältnissen  Rechnung  trug.  Das 
geschah  zum  ersten  Male  durch  den  Bithynier  ASKLEPIADES. 

Die  weitere  Entwickelung  der  Heilkunde  bei  den  Römern  ist 
auf  das  engste  mit  einer  ärztlichen  Schule  verknüpft,  als  deren  Vor- 
läufer ASKLEPIADES  betrachtet  werden  muß.  Dieser  Mann,  der 
etwa  um  120  v.  Chr.  zu  Prusa  geboren  worden  war  und  sich  zu- 
nächst mit  Rhetorik  und  Philosophie,  darauf  mit  Medizin  beschäf- 
tigte, kam,  dem  Zuge  seiner  Zeit  folgend,  gegen  90  v.  Chr.  nach 
Rom,  wußte  sich  dort  durch  sein  gewandtes  Auftreten  Zutritt  zu 
hochangesehenen  Leuten,  wie  M.  Antonius  und  Q.  Mucius  zu  ver- 
schaffen und  verstand  es  überhaupt  ganz  vortrefflich,  das  römische 
Publikum  für  sich  zu  gewinnen.  Der  Erfolg  seines  Auftretens  be- 
ruhte einmal  darauf,  daß  er  an  Stelle  der  herkömmlichen  Therapie 
mit  ihren  mannigfaltigen  Maßnahmen  und  reichlichen  Medikamenten 
eine  möglichst  einfache  und  „naturgemäße"  Behandlung  empfahl,  die 
in  ihrer  Sinnfälligkeit  besonders  der  großen  Menge  einleuchten  mußte, 
sodann  aber  darauf,  daß  er  dieser  Behandlung  eine  theoretische  Be- 


io8  Die  Einführung  der  griechischen  Medizin   in  Rom. 

gründung"  gab,  welche  mit  ihrer  Anlehnung  an  die  epikuräische 
Philosophie  bei  dem  gebildeten  Römer  Anklang  fand. 

Nach  diesen  Lehren  sollte  der  menschliche  Körper  (ebenso  wie 
alle  sonstigen  Dinge  in  der  Welt)  aus  den  „Grundstoffen  der  Atome" 
zusammengesetzt,  und  deren  Beschaffenheit  in  erster  Linie  für  alle 
Lebenserscheinungen  im  gesunden  wie  im  kranken  Organismus  aus- 
schlaggebend sein.  „Die  die  Hohlgänge  des  Körpers  durchlaufenden 
Säfte",  namentlich  auch  das  Blut,  welches  „Materie  aus  größeren 
Körperchen"  enthalte,  spielen  eine  sekundäre  Rolle,  indem  sie  gleich- 
sam nur  Träger  der  Atome  sind.  Auch  das  Pneuma,  in  dem  er 
„einen  aus  allerkleinsten  Körperchen  zusammengesetzten  vStoff"  sieht, 
wird  von  ihm  als  für  die  Lebensfunktion  wichtig  angesehen.  Seine 
Anschauungen  sind  demnach  weder  einseitig  solidarpathologisch 
noch  humoralpathologisch,  sondern  versuchen  die  verschiedenen  Prin- 
zipien miteinander  zu  vereinigen.  Das  tritt  vor  allem  deutlich  in 
seiner  Krankheitslehre  hervor. 

Krankheit  entsteht  nach  der  Ansicht  des  Asklepiades  zumeist 
durch  „Stockung  der  Körperchen".  Zur  Stockung  aber  kommt  es 
infolge  ihrer  Größe  oder  Form,  oder  ihrer  Menge  oder  ihrer  über- 
mäßig schnellen  Bewegung  oder  durch  Knickung  der  Poren.  Ent- 
sprechend der  Verschiedenheit  der  Gegend  und  der  Poren  entstehen 
die  verschiedenen  Krankheitsformen.  Aber  nicht  alle  Leiden  beruhen 
auf  Stockung  der  Körperchen.  Manche,  z.  B.  leichte  fieberhafte 
Krankheiten  entstehen  durch  Störung  der  Säfte  und  des  Pneumas. 
Diese  Störungen  können  nun  den  ganzen  Körper  betreffen  oder  nur 
einzelne  Teile.  Bei  seinen  Versuchen,  die  örtlichen  Krankheiten  ge- 
nauer zu  lokalisieren,  bediente  sich  Asklepiades  der  fortgeschrittenen 
anatomischen  Kenntnisse,  von  denen  er  sonst  wenig  Gebrauch  machte. 
So  bringt  er  z.  B.  die  Krämpfe  der  Epileptiker  mit  Veränderungen 
in  den  Hirnhäuten  in  Verbindung-  und  verlegt  die  Pleuritis  in  das 
Rippenfell  (nicht  in  die  Lunge),  die  Peripneumonie  in  die  um  die 
Luftröhre  liegenden  Teile  der  Lunge  usw. 

Für  seine  Therapie  stellte  Asklepiades  eine  Reihe  von  Grund- 
sätzen auf,  denen  er  nicht  zum  geringsten  Teile  seine  Erfolge  beim 
Publikum  verdankte.  Sein  Motto  „Tuto,  celeriter,  jucunde",  seine 
Forderung,  der  Arzt  müsse  für  jeden  Krankheitsfall  zwei  bis  drei 
Mittel  erprobt  und  in  Bereitschaft  haben,  seine  Bevorzugung  der 
einfachen  und  „natürlichen"  Hilfsmittel  (wie  Diät,  Bewegung,  Bäder, 
Schwitzen,  Wasserkuren  usw.)  trugen  nicht  wenig  zu  seiner  Beliebt- 
heit bei  und  gewannen  ihm  auch  unter  den  Aerzten  viele  Anhänger. 
Seine  in  schroffem  Gegensatz  zu  fast  allen  Aerzten  vor  ihm  stehende 
Behauptung,  die  Natur  sei  nicht  nur  ohne  Vernunft  und  Kunst,  sondern 
geradezu  schädlich,  brachte  ihm  den  Ruf  eines  kühnen  Neuerers  ein. 


Die  Einführung  der  griechischen  Medizin  in  Rom.  109 

Im  einzelnen  war  er  bestrebt,  seine  Behandlungsmaßnahmen 
möglichst  seinen  theoretischen  Lehren  anzupassen:  die  oberste  Auf- 
gabe war,  die  in  Stockung  geratenen  Körperchen  durch  Erweiterung 
der  Poren  wieder  in  Bewegung  zu  bringen;  in  den  seltenen  Fällen,, 
in  denen  eine  zu  starke  Bewegung  bereits  vorhanden  sei  —  wie  bei 
dem  durch  heftige  Schweißausbrüche  gekennzeichneten  „Morbus  car- 
diacus"  —  versuchte  er  umgekehrt  die  Poren  zu  verengern.  Bei 
besonderen  Aufgaben  wich  er  aber  unbedenklich  von  seinen  allge- 
meinen Grundsätzen  ab.  Wenn  etwa  der  leidende  Teil  durch  seine 
Lage  sich  einem  unmittelbaren  Eingriff  entzog  (wie  bei  Gehirn- 
erkrankung), oder  wenn  der  Sitz  des  Leidens  ihm  nicht  klar  war,  so 
suchte  er  durch  „Ableitung  der  Krankheitsstoffe  auf  den  Darm"  oder 
„durch  Herausschaffung  der  verdorbenen  Materie"  zum  Ziele  zu  se- 
langen.  Ueberhaupt  merkt  man  bei  genauerem  Hinsehen  deutlich,  daß 
ASKLEPIADES,  SO  sehr  er  auch  bemüht  ist,  jede  therapeutische  Maßnahme 
als  unmittelbaren  Ausfluß  seiner  Krankheitslehre  erscheinen  zu  lassen, 
in  Wirklichkeit  doch  stets  in  erster  Linie  den  praktischen  Erfolg  im 
Auge  hat  und  diesem  dann  erst  eine  theoretische  Erklärung  unterlegt. 

Die  Lieblingsmittel  des  Bithyniers  waren  die  Reibung,  der  Wein, 
das  Wasser  und  die  ..passive  Bewegung".  Ihre  Anwendung  hat  er 
bis  ins  einzelne  ausgestaltet,  wobei  er  immer  bemüht  war,  sie  jedem 
vorliegenden  Falle  genau  anzupassen.  Die  Reibung  wurde  bald 
sanft,  bald  kräftig,  bald  trocken,  bald  feucht,  bald  am  ganzen  Körper, 
bald  nur  teilweise  vorgenommen.  Die  passive  Bewegung  bestand  in 
Fahrten  auf  Wagen  oder  im  Schiff,  in  Bewegungen  im  Schwebe- 
bette oder  auf  einem  Tragstuhl  u.  a.  m.  Das  Wasser  wurde  von 
ihm  mit  Vorliebe  in  kaltem  Zustande  in  Form  von  Voll-  oder  Teil- 
bädern, von  Regen-  oder  Schaukelbädern  angewandt.  Auch  strenge 
Diät  bis  zum  völligen  Fasten  verordnete  er  gern;  Medikamente  da- 
gegen nur  ausnahmsweise. 

Man  hat  den  Asklepiades  wegen  des  bewußten  Eingehens  auf 
die  Strömungen  seiner  Zeit  vielfach  als  einen  Charlatan  hingestellt. 
Aber  tatsächlich  besteht  nicht  der  mindeste  Grund  für  die  Annahme, 
daß  er  von  der  Richtigkeit  seiner  Lehren  und  der  Wirksamkeit 
seiner  Anordnungen  nicht  völlig  überzeugt  war.  Er  war  also  viel- 
mehr ein  Neuerer,  der  unter  geschickter  Benutzung  des  Vorhandenen 
sich  den  besonderen  \'^erhältnissen,  die  er  in  Rom  vorfand,  auf  das 
vortrefflichste  anzupassen  verstand,  und  durch  seine  Ideen  sowohl 
wie  durch  sein  Auftreten  großen  Einfluß  auf  den  weiteren  Gang  der 
Medizin  ausgeübt  hat.  Von  seinen  Schülern  ist  der  bedeutendste 
Themison  von  Laodikeia. 


Themison  von  Laodikeia)  die  Methodiker  und  die 
römische  Medizin-I^iteratur. 

Dadurch,  daß  ASKLEPIADES  sich  und  seine  Lehren  in  Rom  ein- 
gebürgert hatte,  war  zwar  der  Boden  für  seine  Schüler  und  An- 
hänger in  trefflicher  Weise  vorbereitet ;  aber  es  war  nur  ein  verhält- 
nismäßig kleiner  Kreis  von  Aerzten,  die  ihrem  Lehrer  zu  folgen 
vermochten.  Denn  dies  erforderte  eine  besondere  Veranlagung,  über 
welche  nicht  viele  von  ihnen  verfügten.  Der  überwiegenden  Mehr- 
zahl der  römischen  Aerzte  fehlte  nach  wie  vor  die  Möglichkeit,  sich 
die  zu  ihrem  Berufe  erforderlichen  Kenntnisse  in  bequemer  Weise 
zu  verschaffen.  Aus  dieser  Erkenntnis  heraus  unternahm  es  The- 
mison, das  eine  originale  Persönlichkeit  erfordernde  Heilsystem 
seines  Meisters  Asklepiades  in  eine  leicht  begreifbare  praktische 
Heilmethode  zu  verwandeln,  und  gelangte  zur  Gründung  einer 
ärztlichen  Schule,  welche  —  da  sie  einen  „einfachen  Weg"  ({xe^oSöc) 
zur  Krankenbehandlung  als  ihr  Hauptziel  ansah  —  sich  selbst  als 
„Methodiker"  bezeichnete.  Eine  Schule,  welche,  auf  römischem  Boden 
erwachsen,  mit  römischem  Geiste  getränkt  und  auf  römische  Ver- 
hältnisse zugeschnitten,  während  des  ganzen  Bestandes  des  Römer- 
reiches bei  weitem  die  einflußreichste  aller  ärztlichen  Sekten  war  und 
mehr  Anhänger  gezählt  hat,  als  alle  anderen. 

Der  Grundkern  der  Lehren  Themisons  ist  nach  Celsus  fol- 
gender: Die  Kenntnis  irgendeiner  Ursache  habe  keinerlei  Beziehungen 
zu  der  Art  der  Behandlung;  es  genüge,  gewisse  allgemeine  Er- 
scheinungen ins  Auge  zu  fassen.  Von  diesen  gebe  es  aber  drei 
Arten:  die  einen  seien  der  Zustand  des  Zusammengezogenseins,  der 
zweite  der  Zustand  der  Erschlaffung  und  der  dritte  der  gemischte 
Zustand.  Denn  bald  schieden  die  Kranken  zu  wenig  aus,  bald  zu 
viel;  bald  an  einem  Körperteile  zu  wenig,  an  einem  anderen  aber  zu 
viel.  Diese  Arten  Krankheiten  aber  verliefen  bald  akut,  bald  chro- 
nisch, bald  befänden  sie  sich  im  Stadium  der  Zunahme,  bald  des 
Stillstandes,  bald  der  Abnahme.  Habe  man  also  erkannt,  welcher 
von  diesen  Zuständen  vorhanden  sei,  so  müsse  man,  wenn  der  Körper 
sich  im  Zustande  der  Zusammenziehung  befände,  die  Zerteilung  an- 
regen; wenn  er  an  übermäßigem  „Fluß"  litte,  müsse  man  zusammen- 
ziehend  wirken.     Wenn   das  Leiden   in   einem  gemischten  Zustande 


Themison  von  Laodikeia,  Methodiker  u.  römische  iNIedizin-Literatur.      1 1 1 

bestehe,  so  müsse  man  zunächst  dem  heftigeren  Uebel  entgegen- 
wirken. Außerdem  müsse  man  akute  Krankheiten  anders  behandeln 
als  veraltete,  anders  im  Stadium  der  Zunahme,  anders  im  Stadium 
des  Stillstandes  und  wieder  anders,  wenn  bereits  Neigung  zur  Heilung 
bestehe.  In  der  Beobachtung-  dieser  Dinge  bestehe  die  Heilkunde. 
Nach  diesen  programmatischen  Sätzen  hat  für  Themison  die 
Aetiologie  keinerlei  praktische  Bedeutung;  sie  besitzt,  wie  uns  aus 
Bruchstücken  seiner  Schriften  bekannt  ist,  für  ihn  nur  theoretischen 
Wert.  Ferner  legt  er  keinerlei  Gewicht  auf  die  Abgrenzung  der 
einzelnen  Krankheitst}'pen  voneinander.  Er  sucht  vielmehr  aus  der 
Vielheit  der  Symptome  das  Gemeinsame  heraus  und  baut  hierauf 
dann  seine  „Grundformen  der  Krankheiten"  auf.  Diese  sind:  „der 
Status  strictus",  d.  h.  der  Zustand,  bei  dem  sich  die  Körpergewebe 
in  einer  abnorm  vermehrten  Spannung  befinden,  die  Poren  verengert, 
die  Ausscheidungen  und  Absonderungen  angehalten  sind.  Sodann 
der  „Status  laxus",  dadurch  ausgezeichnet,  daß  die  Gewebsspannung 
abnorm  herabgesetzt  ist,  die  Körperoberfläche  aufgelockert,  jede  Art 
sichtbarer  Absonderungen  vermehrt  sind.  Diese  Grundformen  des 
Krankseins  werden  „Kommunitäten"  genannt.  Die  Trennung  der 
akuten  und  chronischen  Krankheiten  geschah  hauptsächlich  unter 
dem  praktischen  Gesichtspunkte,  daß  die  ersteren  in  der  Regel  dem 
Status  strictus,  die  letzteren  dem  Status  laxus  zugewiesen  wurden. 
Bei  einer  Betrachtung  der  Krankheitsstadien  mußte  Themison  folge- 
richtigerweise das  erste  Stadium,  in  dem  die  krankhaften  Verände- 
rungen noch  nicht  sichtbar  in  die  Erscheinung  traten  (das  hippo- 
kratische  Stadium  der  „Apepsia"),  unberücksichtigt  lassen.  Bei  ihm 
beginnt  die  eigentliche  Krankheit  gleich  mit  dem  Stadium  der  Zu- 
nahme, wo  in  steigender  Weise  die  Symptome  sich  zeigen.  Dann 
kommt  das  Stadium  des  Stillstandes,  das  die  Hippokratiker  überhaupt 
nicht  annahmen,  und  dann  des  Abfalls.  Hier  macht  sich  der  unter 
dem  Einfluß  seines  Lehrers  stehende  Gegensatz  des  THEMISON  gegen 
die  älteren  Lehren  besonders  deutlich  bemerkbar.  Denn  während 
bei  den  Hippokratikern  das  eigentliche  Krankheitsbild  mit  dem 
Augenblicke  beendet  ist.  in  dem  durch  die  dem  Körper  innewohnende 
„Physis"  die  krankmachende  Schädigung  überwunden  wird  (also  mit 
der  „Krisis"),  so  beginnt  bei  Themison  das  Ende  der  Krankheit  mit 
dem  Wirksamwerden  der  ärztiichen  Maßnahmen. 

Die  Grundsätze  seiner  Behandlung  sind  entsprechend  seiner 
Krankheitslehre  außerordentlich  einfach:  man  hat  in  jedem  Falle  nur 
die  vorliegende  „Kommunität"  festzustellen.  Besteht  danach  „Status 
laxus",  erkennbar  an  starken  Schweißen,  Durchfall,  Vermehrung  der 
Harnsekretion,  allgemeiner  Erschlaffung  u.  ä.,  so  arbeitet  er  diesem 
Zustande  durch  entgegengesetzte  Mittel  entgegen.   Bei  „Status  stric- 


1 1 2     Themison  von  Laodikera,  Methodiker  u.  römische  Medizin-Literatur. 

tus"  mit  seinen  Symptomen  von  Verstopfung,  Krämpfen,  Benommen- 
heit, Verhaltung  des  Urins,  allgemeiner  Spannung  des  Körpers  u,  ä. 
sucht  er  „erschlaffend"  zu  wirken.  Sind  an  verschiedenen  Körper- 
teilen beide  Zustände  zusammen  vorhanden,  so  bekämpft  er  zunächst 
die  „vorherrschende  Kommunität". 

Die  Einteilung  der  Krankheiten  in  einzelne  Stadien  hat  zur 
Folge,  daß  Themison  je  nach  dem  Vorherrschen  der  einen  oder 
anderen  Symptome  während  des  Krankheitsverlaufs  auch  die  Therapie 
wechselt.  Durchbrochen  wird  dieser  Grundsatz  noch  von  einer  sche- 
matischen Einteilung  in  je  drei  Tage  (sogenannte  Diatritos).  Auch 
die  scharfe  Trennung  der  Behandlung  der  akuten  und  chronischen 
Leiden  geschieht  nach  einem  reichlich  starren  Schema.  Namentlich 
bei  den  chronischen  Krankheiten  bleibt  ausschließlich  die  Beachtung 
des  „Status  laxus"  maßgebend. 

Aber,  wenn  man  die  Lehren  des  THEMISON  als  Ganzes  be- 
trachtet, so  erscheinen  sie  mit  ihrem  doppelten  Gesicht  in  vortreff- 
lichster Weise  den  zeitlichen  Verhältnissen  angepaßt.  Und,  während 
die  Heilkunst  des  Asklepiades  immer  noch  griechische  Medizin  auf 
römischen  Boden  verpflanzt  war,  so  darf  man  die  methodische  Schule 
von  Themison  ab  unbedenklich  so  weit  als  Vertreterin  römischer 
Sinnesart  bezeichnen,  daß  man  von  da  ab  von  römischer  Medizin 
sprechen  kann. 

Wie  richtig  dies  ist  und  wie  weit  und  tief  der  Einfluß  der 
Methodikerlehre  ging,  das  zeigt  sehr  deutlich  auch  das  in  der  ersten 
Hälfte   des    i.  Jahrhunderts   n.  Chr.    entstandene  Werk   des   Römers 

Cornelius  Celsus. 

Dieser  Mann,  von  dessen  Leben  man  nichts  weiter  weiß,  als  daß 
es  in  die  Zeit  unmittelbar  nach  Christi  Geburt  fällt,  war,  wie  zweifel- 
los feststeht,  kein  Arzt,  sondern  ein  gebildeter  Laie,  Sein  Werk,  das 
den  Titel  „De  medicina  libri  octo"  trägt,  war  ein  Teil  einer  großen 
Enzyklopädie,  welche  neben  Rhetorik,  Philosophie,  Landwirtschaft 
und  Jurisprudenz  auch  Heilkunde  behandelte.  Daß  Celsus  zur  Ab- 
fassung des  uns  allein  erhaltenen  letztgenannten  Werkes  überhaupt 
fähig  war,  erklärt  sich  nur  so,  daß  er  Gelegenheit  hatte,  seine  durch 
literarische  Studien  gewonnenen  Kenntnisse  durch  eigene  Beobach- 
tungen zu  ergänzen.  Und  diese  Gelegenheit  bestand  ja  für  einen 
Laien  in  der  Tat  in  den  oben  erwähnten  Valetudinarien.  Denn  die 
in  diesen  untergebrachten  Sklaven  boten,  da  ihr  Herr  in  jeder  Hin- 
sicht frei  über  sie  verfügen  konnte,  ein  denkbar  bequemes  Studien- 
objekt. P'ür  die  Besitzer  solcher  Sklavenkrankenhäuser,  freilich  auch 
wohl  für  wirkliche  Aerzte,  ist  das  Werk  des  Celsus  wohl  auch  ge- 
schrieben. 


Themison  von  Laodikeia,  Methodiker  u.  römische  Medizin-Literatur.      113 

In  welchem  Umfange  nun  Celsus  auch  immer  auf  einer  oder 
mehreren  griechisch-alexandrinischen  Quellen  gefußt  haben  mag,  so 
ist  doch  in  seinem  ganzen  Werke  vor  allem  der  Einfluß  der  metho- 
dischen Schule  sichtbar.  Er  bekämpfte  sie  zwar  als  solche  ziemlich 
energisch,  steht  aber  trotzdem  in  mehr  als  einer  Hinsicht  ihr  sehr 
nahe:  so  geht  auch  er  davon  aus,  daß  die  Medizin  die  Mitte  zwischen 
reiner  Empirie  und  ausgesprochenem  Dogmatismus  halten  müsse; 
auch  er  stellt  seine  Lehren  ganz  auf  den  praktischen  Endzweck  der 
Krankenbehandlung  ein.  Vor  allem  aber  übernimmt  er  gerade 
die  wichtigsten  und  charakteristischsten  Behandlungsweisen  der 
Methodiker. 

Obgleich  das  Werk  des  Celsus  in  durchaus  systematischer  Weise 
abgefaßt  ist,  so  kann  man  doch  keineswegs  die  Gesamtheit  der  darin 
niedergelegten  Anschauungen  und  Ratschläge  als  ein  „System  der 
Medizin"  ansprechen.  Es  lag  zweifellos  auch  nicht  im  mindesten  in 
seiner  Absicht,  ein  solches  zu  schaffen, 
vielmehr  kam  es  ihm  nur  auf  eine  Schaf- 
fung eines  praktisch  verwendbaren  Hand- 
buches der  Heilkunde  an. 

Er  geht  deshalb  nach  seiner  Ein- 
leitung gleich  in  medias  res  und  gibt 
im  ersten  Buche  eine  breit  angelegte  und 
gut  disponierte  Diätetik.  Zunächst  Ver- 
haltungsmaßregeln für  Gesunde;  sodann 
folgen  Angaben  über  den  Einfluß  der 
verschiedenen  Umstände  auf  die  Gesund- 
heit: des  Beischlafes,  der  allgemeinen  Abb.  66.  Altrömisclier  Schröpf- 
Körperkonstitution,     der     Nahrung,     des  ^°P^- 

Lebensalters  usw.  Dann  kommt  eine  spe- 
zielle Diätetik  für  einzelne  Krankheitsformen.  Das  zweite  Buch  enthält 
seine  allgemein-pathologischen  Anschauungen,  seine  Lehre  von  den 
Krankheitszeichen  und  von  den  Prognosen,  daneben  auch  die  allge- 
meinen Indikationen  für  verschiedene  Behandlungsarten,  sowie  zum 
Schluß  Angaben  über  den  Nährwert  der  einzelnen  Nahrungsmittel  und 
ihren  Einfluß  auf  gewisse  Körpertätigkeiten.  Die  beiden  folgenden 
Bücher  enthalten  eine  Pathologie  und  Therapie  der  einzelnen  Krank- 
heiten, und  zwar  zunächst  der  allgemeinen  und  dann  der  örtlichen. 
Das  fünfte  Buch  behandelt  in  seinen  ersten  fünfundzwanzig  Kapiteln 
die  Pharmakologie,  indem  es  die  Mittel  für  die  verschiedenen  Leiden 
nach  ihrer  Art,  Wirkung,  Zubereitung  und  Rezeptur  anführt.  Der 
zweite  Teil  dieses  Buches  ist  der  Behandlung  von  Wunden,  Ver- 
giftungen u.  ä.  gewidmet.  Das  sechste  Buch  ist  nochmals  eine  Patho- 
logie und  Therapie  „a  capite  ad  calcem",   bei  der  den  Augenkrank- 

Meyer- Steine^  u.  Sudhoff,  Illustr.  Geschichte  der  Medizin.  8 


114     Themison  von  Laodikeia,  Methodiker  u.  römische  Medizin-Literatur. 

heiten  ein  besonders  breiter  Raum  zugemessen  ist.   Den  bedeutendsten 
Teil   des  ganzen  Werkes  bildet  Buch  sieben,   das   ausschließlich  der 


Abb.  67.     Pompejanische    chirurgische  Instrumente.     Von  links  nach  rechts:    Spatelsonde 
und  Sonde,  Spritze  (oben),  Kanüle  (unten),  Löffelsonde,  Behälter. 


Chirurgie  gewidmet  ist  und  in  seiner  ganzen  Anlage,  der  Anordnung 
und  Verteilung  des  Stoffes,  der  Behandlung  der  chirurgischen  Grund- 


Themison  von  Laodikeia,  Methodiker  u.  römische  Medizin-Literatur.      115 

Sätze    am    meisten    unseren    heutigen   Anforderungen    entspricht,   ja 
sich    stellenweise    wie    ein    Stück    einer    modernen    Chirurgie    liest. 


Abb.    68.     Porapejanische  chirurgische   Instrumente.      Von   links  nach   rechts:    2  Wund- 
haken, kleiner  Löffel,  Katheter,  Kanüle,  Raspatorium,  geschlitzte  Sonde,  Kauter. 

8* 


ii6     Themison  von  Laodikeia,  Methodiker  u.  römische  Medizin-Literatur. 

Buch  acht  schließlich  beginnt  mit  einer  Osteologie  unter  Betonung 
der  für  den  Chirurgen  wichtigen  Tatsachen  und  schließt  mit  der  Be- 
handlung der  Brüche  und  Verrenkungen. 


Abb.  68  a.     Pompejanische  chirurgische  Instrumente.    No.   i  Pinzette,  2  Schere,  3,  4  und 
6  Zangen,  5  Pinzette  mit  Schieber,  7  Skarifikations-Instrument. 

Alles  in  allem  ist  das  Werk  des  Celsus,  wie  es  uns  heute  vor- 
liegt, ein  groß  angelegtes  Kompendium  der  gesamten  praktischen 
Medizin,   dessen  Disposition   zwar  nicht  immer  ganz  logisch  ist,   das 


Themison  von  Laodikeia,  Methodiker  u.  römische  Medizin-Literatur.      117 

aber  alles  nach  der  Auffassung  und  den  Bedürfnissen  der  damaligen 
Zeit  Wissenswerte  enthält. 

War   das  Werk    des   Cei.sus   ein   Niederschlag   des   schulmedi- 
zinischen  Wissens   und   Könnens  seiner   Zeit,    so   zeigt   sich   in    der 


Abb.    69.     Römische    chirurgische    Instrumente.      Von    links    nach    rechts:    Sondenspatel, 
Wundhaken,  Zange,  Zahnzange. 


1 1 8     Themison  von  Laodikeia,  Methodiker  u.  römische  Medizin-Literatur. 

übrigen  ärztlichen  Literatur  der  Römer  deutlich  der  Einfluß  volks- 
medizinischer Tendenzen.  Hierhin  gehört  vor  allem  die  in  der  zweiten 
Hälfte   des    i.  Jahrhunderts  n.  Chr.   entstandene   „Naturalis  historia" 


n 


Abb.  70.     Römische    chirurgische  (Instrumente.     Von    links    nach    rechts:    Wurzelzange, 
kleine  Zahnzange,  3  verschiedene  chirurgische  Messer,  Wundhaken. 

des  Plinius,  die  einen  vortrefflichen  Ueberblick  über  die  Mittel  und 
Anschauungen  gibt,  über  die  die  damalige  Volksmedizin  verfügte. 
Der  Gegensatz   gegenüber   der  wissenschaftlichen    griechischen   Me- 


Themison  von  Laodikeia,  Methodiker  u.  römische  Medizin-Literatur.      119 

dizin,  die  bei  vielen  Römern  immer  noch  bestand,  das  laienhafte 
Mißtrauen  gegen  die  wirklichen  Aerzte,  und  die  Vorliebe  für  aUe 
möglichen  mystisch-abergläubischen  Dinge,  finden  bei  Plixius  ihren 
deutlichsten  Ausdruck. 

Diese  Hinneigung  zur  Popularisierung  der  Heilkunst  gibt  auch 
der  übrigen  medizinischen  Literatur  der  Römer  ihr  Gepräge :  so  den 
Schriften  des  VALGros  RUFUS,  NiGIDIUS  FlGULUS,  TULLIUS  Bassus 
u.  a.  m.  Selbst  das  etwa  45  n.  Chr.  verfaßte  Rezeptbuch  des  SCRI- 
BONIUS  Largus,  eines  fraglos  über  den  Durchschnitt  hervorragenden 
Arztes,  läßt  mit  seiner  Einreihung  zahlreicher  wundergläubiger  Volks- 
mittel die  Wirkung  dieser  Tendenz  erkennen.  Auf  der  anderen  Seite 
zeigt  es  aber  auch  unverkennbar  den  Einfluß  der  methodischen 
Schule  in  einem  so  hohen  ]Maße,  daß  man  den  SCRiBONros  geradezu 
als  einen  ihrer  Anhänger  bezeichnet  hat. 


Abb.  71.     Römischer  Instramentenkasten. 

Die  Entwicklung  der  methodischen  Schule  war  nun  keineswegs 
mit  Themison  abgeschlossen.  Sie  ging  vielmehr  nach  den  zwei  in 
ihr  liegenden  Richtungen  weiter.  Die  eine  führte  näher  zu  der  dog- 
matisch-wissenschaftlichen, die  andere  zu  der  empirischen  Medizin 
hin.  Zu  den  Anhängern  der  letzteren  gehörte  vor  allem  Thessalos 
von  Tralles. 

Seine  hauptsächlichste  Leistung  bestand  in  einem  weiteren  Aus- 
bau der  THEMlsONschen  Lehre  nach  der  praktischen  Seite.  Aus 
dem  stark  schematischen  Begriff  der  „Kommunitäten"  entwickelte 
er  den  Begriff  der  „Indikationen".  Und  zwar  verstand  er  unter 
Hauptindikationen  gewisse,  bei  den  verschiedensten  Krankheitsformen 
\  orkommende,   diesen   also  gemeinsame  Symptome,   aus  denen   sich 


120     Themison  von  Laodikeia,  Methodiker  u.  römische  Medizin-Literatur. 

bestimmte,  für  sämtliche  Leiden  allgemeingültige  Behandlungsnormen 
ableiten  lassen,  mit  deren  Aufstellung  eine  Grundlage  für  jede  Einzel- 
behandlung gewonnen  wird,  ohne  diese  jedoch  völlig  zu  erschöpfen. 
Vor  allem  stellte  er  solche  Hauptindikationen  für  die  beiden  wich- 
tigsten Gruppen  der  Krankheiten  auf:  die  akuten  und  chronischen. 
Bei  den  letzteren  richtete  er  sein  Augenmerk  namentlich  auf  die 
durch  sie  stets  bedingte  hochgradige  Veränderung  der  ganzen  Körper- 
gewebe und  entnahm  daraus  als  wichtigste  Indikation  aller  chro- 
nischen Leiden  die  Notwendigkeit  einer  vollkommenen  „Umstimmung" 
des  ganzen  Organismus.  Zu  diesem  Zwecke  wandte  er  besondere 
sogenannte  metasynkritische  (d.  h.  umstimmende)  „Kuren"  an,  welche 
vor  allem  eine  kräftige  Aufrüttelung  des  Körpers  bezweckten  und 
neben  einer  Anregung  seiner  gesamten  Funktionen  gleichzeitig  seine 
Kräftigung  im  Auge  hatten.  In  der  Erkenntnis,  daß  neben  der  all- 
gemeinen Behandlung  auch  eine  den  einzelnen  Symptomen  angepaßte 
Therapie  am  Platze  sei,  schuf  er  neben  den  „Hauptindikationen" 
noch  eine  ganze  Reihe  spezieller  Indikationen  und  damit  zweifellos 
außerordentlich  einfache  Unterlagen  für  die  praktische  Kranken- 
behandlung. 

Der  reale  Sinn  des  Thessalos  fand  aber  noch  in  einer  anderen 
Beziehung  seinen  Ausdruck.  Da  seiner  Meinung  nach  zur  Ausübung 
des  ärztlichen  Berufes  nur  die  Kenntnis  bestimmter  allgemeiner  und 
ziemlich  engbegrenzter  besonderer  Krankheitszeichen  sowie  der  ent- 
sprechenden einigermaßen  feststehenden  therapeutischen  Grundsätze 
erforderlich  war,  so  war  damit  jeder  weitere  theoretische  Unter- 
richt für  den  Arzt  überflüssig;  es  genügten  sechs  Monate  hierfür. 
Die  Hauptsache  blieb  die  praktische  Unterw^eisung  am  Kranken- 
bette, die  er  mit  zahlreichen  Schülern  ausgeführt  zu  haben  scheint. 
Auf  einem  grundsätzlich  ganz  anderen  Standpunkte  stand  ein  weiterer 
Anhänger  der  methodischen  Schule,  gleichzeitig  wohl  ihr  bedeutendster 
Vertreter  überhaupt:  SORANOS  von  Ephesos. 


Soranos  von  Kphesos. 

Dieser  Mann,  der  als  Sohn  des  Mexaxdros  und  der  Phoibe 
geboren  wurde  und  hauptsächlich  in  Alexandreia  seine  Ausbildung 
erhielt,  lebte  unter  Trajan  und  Hadrian  in  Rom.  Er  ging  davon 
aus,  daß  „die  Lehre  vom  gesunden  Körper  mit  Bezug  auf  das  End- 
ziel der  Medizin  ohne  Nutzen  sei"',  hält  aber  doch  eine  Ausbildung 
darin  für  notwendig,  da  sie  „für  die  Wissenschaft  zur  Zierde  gereiche". 
Er  führte  deshalb  in  seinen  Werken,  von  denen  uns  das  „über 
Frauenkrankheiten"  im  Urtext,  das  „über  die  akuten  und  chronischen 
Krankheiten"  in  einer  freien  lateinischen  Bearbeitung  erhalten  ist, 
mit  bewunderungswerter  Konsequenz  die  Trennung  von  Theorie 
und  Praxis  durch.  Sein  Hauptverdienst  liegt  auf  den  Gebieten  der 
Gynäkologie  und  Geburtshilfe. 

Wenn  auch  andere  Aerzte  vor  ihm  —  wie  Demetrios  von 
Apameia.  Claudios  Philoxenos  u.  a.  —  sich  mit  diesen  Teilen 
der  Medizin  eingehend  beschäftigt  hatten,  so  war  SORANOS  doch 
der  erste,  der  sie  unter  Ausschaltung  aller  mystischen  Anschauungen 
und  Maßnahmen  und  unter  Beseitigung  der  mannigfachen  rohen' 
und  gewalttätigen  Eingriffe  in  klarer  und  rationeller  Weise  be- 
arbeitet hat.  Die  von  ihm  dabei  zu  überwindenden  Schwierigkeiten 
waren  groß.  Sie  bestanden  hauptsächlich  darin,  daß,  der  Sitte  jener 
Zeit  entsprechend,  die  Untersuchung  der  kranken  oder  gebärenden 
Frau  in  der  Regel  durch  Hebammen,  nur  selten  durch  den  Arzt 
selbst  vorgenommen  wurde. 

Seine  Beschreibung  der  normalen  weiblichen  Genitalien  ist  dem- 
nach ziemlich  mangelhaft,  sie  ist  zum  größten  Teile  auf  die  Be- 
funde am  Tier  begründet.  Sehr  sorgfältig  wird  die  Schwergeburt 
behandelt:  ihre  Ursachen  sieht  SORANOS  in  dem  Allgemein- 
zustande der  Mutter,  sowie  in  Abnormitäten  der  Geschlechtsteile, 
wobei  auch  dem  verengerten  Becken  eine  gewisse  Aufmerksam- 
keit geschenkt  wird.  Sodann  in  den  unrichtigen  Lagen  des  Kindes, 
welche  eingehend  geschildert  und  nach  ihrer  Bedeutung  für  den 
Geburtsakt  gewürdigt  werden.  Bei  der  Untersuchung  der  Geni- 
talien wird  häufig  das  Spekulum  (StoTCtpov)  verwandt.  Bei  der 
Geburt  selbst  bedient  sich  SORANOS  des  Gebärstuhles,  eines  be- 
quemen, mit  Rück-  und  Seitenlehne  versehenen  Art  Sessels,  dessen 


122 


SoRANOS   von  Ephesos. 


Sitz  vorn  halbkreisförmig  ausgeschnitten  ist.  Ueber  die  Stellung  der 
Hebammen  und  ihrer  etwaigen  Gehilfinnen,  über  die  Lagerung  der 
Gebärenden  in  besonderen  Fällen,  über  die  sonstigen  Vorbereitungen 
zur  Geburt,  über  deren  einzelne  Akte  bis  zur  Entfernung  der  Nach- 
geburt werden  genaue  Angaben  gemacht.  Bei  abnormen  Kinds- 
lagen  wird   zunächst   die  Wendung   durch   kombinierte    innere   und 


'  t**A/tUt>ta  ai'fki-tTAyf  i^r>tj^Ar<V 


I.-v-^o 


Abb.  72.     Kindslagen-Darstellungen  aus  einer  Handschrift  des  Soranos  von  Ephesos. 


äußere  Handgriffe  versucht.  War  keine  Aussicht,  ein  lebendiges  Kind 
herauszubef ordern,  so  wurden  zerstückelnde  Operationen  vorgenommen : 
Exartikulation  einzelner  Glieder,  Embryotomie  oder  Embryulcie,  Ein- 
griffe, zu  denen  ein  ziemlich  reichhaltiges  Instrumentarium  benutzt 
wurde. 

Der  zweite  Teil  des  ersten  Buches  behandelt  in  ausführlicher 
Weise  die  Pflege  des  Kindes  von  der  Geburt  an  bis  über  die 
Entwöhnung   hinaus    und    daran    anschließend   die  Krankheiten   der 


SoRANos  von  Ephesos. 


123 


Abb.  73.     Antikes  Spekulum.     («/^  nat  GröBe.) 


124 


SoRANOS  von  Ephesos. 


Säuglinge.  Dabei  werden  gleichzeitig  die  wichtigsten  Leitsätze  über  die 
Auswahl  und  Lebensweise  der  Amme  aufgestellt.     Das  zweite  Buch 


Abb.  74.     Gynäkologisch-geburtshülfliche  Instrumente.     Von  links  nach  rechts:   Fragment 

einer     Kephalotryptor-Zange,     Haken,     Spülkatheter,    Embryotom,    Zange,    Sichelmesser, 

Kürette,  Löffclspatel,  Spatelsonde,  Doppelsonde  (Sammlung  Prof.  Meyer-Steineg). 


SoRANOS  von  Ephesos.  125 

behandelt  im  wesentlichen  die  Frauenkrankheiten :  die  Älenstruations- 
störungen,  die  „H3"sterie",  die  Entzündungen  des  Uterus  und  der 
Vulva,  die  Lageveränderungen,  Geschwülste  u.  a.  m.  Die  Krank- 
heitsbilder sind  zum  größten  Teil  sehr  anschaulich  gezeichnet,  die 
einzelnen  Symptomengruppen  so  scharf  gegeneinander  abgegrenzt, 
daß  man  von  Differentialdiagnosen  sprechen  kann.  Im  übrigen  kommt 
in  jeder  Hinsicht  die  Anhängerschaft  des  SORAXOS  an  die  metho- 
dische Schule  zum  Ausdruck,  ganz  besonders  in  der  Behandlung. 
Die  Lehre  von  den  Kommunitäten  findet  sich  in  der  von  Thes- 
SALOS  umgedeuteten  Form,  ebenso  die  Beachtung  der  einzelnen 
Krankheitsstadien,  die  Gründung  der  Therapie  auf  Haupt-  und  Einzel- 
indikationen. 

Seine  Zugehörigkeit  zu  der  Schule  der  Methodiker  tritt  noch 
deutlicher  in  dem  zweiten  der  oben  erwähnten  Werke  hervor.  Seine 
Stellung  zur  Anatomie  und  Physiologie  entspricht  auch  hier  den  an- 
gegebenen Grundsätzen.  Seine  Anschauungen  über  die  Frage  nach 
den  Krankheitsursachen  ist  eine  vermittelnde :  das  Nachforschen  nach 
den  „dunklen  Ursachen",  die  sich  der  Kenntnis  der  Arztes  entziehen, 
hält  er  für  überflüssig  und  schädlich.  Er  scheidet  die  „vorhergehen- 
den" von  den  „fortwirkenden"  Ursachen.  Erstere  sind  die  eigent- 
liche Veranlassung  des  Erkrankens,  z.  B.  äußere  Einwirkungen  ver- 
schiedenster Art,  Verdauungsstörungen,  einseitige  Ernährung,  Ver- 
giftungen, psychische  Vorgänge  und  schließlich  Ansteckung  („con- 
tagio").  Alle  diese  Ursachen  haben  aber  nur  theoretischen  Wert, 
weil  sie,  als  in  der  Vergangenheit  liegend,  nicht  mehr  beeinfluß- 
bar sind.  Eine  wichtige  praktische  Rolle  spielen  dagegen  die 
„fortwirkenden  Ursachen".  Zu  ihnen  gehören :  die  ganze  Körper- 
anlage des  Kranken,  sein  Alter,  Geschlecht,  die  Witterung,  Jahres- 
zeit u.  a.  m. 

Die  Krankheitstheorie  des  SORANOS  steht  auf  einem  deutlich 
betonten  solidar-pathologischen  Standpunkte,  d.  h.  die  festen  Teile 
(solidae  partes)  sind  für  das  Verhalten  des  Körpers  ausschlaggebend. 
Genauer  gesagt,  sind  es  die  festen  Gewebe,  welche  durch  ihren  Ein- 
fluß auf  die  in  den  zwischen  ihnen  befindlichen  Poren  kreisenden 
feinsten  Teilchen  Gesundheit  und  Krankheit  bestimmen.  Die  im 
Krankheitsfall  auftretenden  Erscheinungen  werden  nicht  einzeln  in 
ihrer  Mannigfaltigkeit  verwertet,  sondern  nach  Methodikerart  unter 
einige  wenige,  allen  Krankheitsformen  gemeinsame  Grundzustände 
—  die  sogenannten  Kommunitäten  —  untergeordnet,  atif  denen  die 
Indikationen  zur  Behandlung  in  der  oben  (S.  1 19  f.)  geschilderten  Weise 
aufgebaut  werden.  Die  pathologische  Anatomie  nimmt  bei  SoRANOS 
die  gleiche  Stellung  ein  wie  die  normale.  Die  zahlreichen  Be- 
merkungen   darüber   —   z.   B.   Erklärung   der   Entzündungen    durch 


126  SoRANOS  von  Ephesos. 

Eindringen  der  „Körperchen"  des  Blutes  in  die  Wunden,  der  „Gra- 
nulation" als  Bildung  jungen  Narbengewebes  aus  den  Venen,  der 
„Verhärtung"  der  Leber  bei  Wassersucht,  der  Hämorrhoiden  der 
Gebärmutter  als  Ursachen  von  Genitalblutungen  u.  a.  m.  —  haben 
für  ihn  nur  wissenschaftlich-theoretische  Bedeutung.  Wichtiger  ist 
die  von  ihm  betonte  Tatsache,  daß  an  demselben  Organ  verschiedene 
Formen  krankhafter  Veränderungen  vorkommen :  z.  B.  an  der  Niere 
die  einfache  entzündliche  Schwellung,  die  Verhärtung,  Vereiterung, 
Geschwürbildung  und  „Fluß". 

Die  Lehre  von  den  Krankheitszeichen  kann  geradezu  als  Glanz- 
punkt des  Werkes  bezeichnet  werden.  Sie  ist  zwar  nicht  im  Zu- 
sammenhange behandelt,  blickt  aber  aus  jedem  Kapitel  deutlich  her- 
vor. Ein  großer  Fortschritt  gegenüber  allen  früheren  Aerzten  liegt 
in  dem  scharfen  und  konsequenten  Trennen  der  eigentlichen  „Krank- 
heitszeichen", von  den  „Symptomen"  der  Krankheit.  Unter  den  ersteren, 
den  „Signa  passionis",  versteht  er  die  Aeußerungen  des  Krankseins, 
welche,  während  des  ganzen  Verlaufes  des  Leidens  vorhanden,  der 
Ausdruck  der  krankhaften  Vorgänge  sind  und  somit  die  Art  der- 
selben erkennen  lassen.  Die  „Symptome"  dagegen  haben  mit  dem 
Wesen  der  Krankheit  eigentlich  nichts  zu  tun,  sie  zeigen  nicht  an, 
welche  Krankheits  a  r  t  vorliegt,  sondern  lassen  nur  die  Unterschiede 
der  einzelnen  Krankheitsfälle  erkennen.  Sie  sind  deshalb  unbe- 
ständiger und  mannigfaltiger  als  die  „Zeichen".  Beide  Arten  von 
Krankheitserscheinungen  fassen  sowohl  die  subjektiven  als  auch  die 
objektiven  in  sich.  Zu  den  ersteren,  unter  denen  wir  die  dem  Kranken 
selbst  zum  Bewußtsein  kommenden  verstehen,  gehören  das  allgemeine 
Krankheitsgefühl,  Mattigkeit,  Hitzegefühl,  Schwindel,  Appetitlosig- 
keit, Durst,  Zittern  u.  a.  m.  Zu  den  letzteren,  von  dem  Arzte  selbst 
festgestellten  Erscheinungen  gehören  vor  allem:  das  Aussehen  des 
Kranken,  sein  Gesichtsausdruck,  Mienenspiel,  die  Haut-  und  Haar- 
farbe, der  Ernährungszustand,  Veränderungen  der  Körperoberfläche, 
Beschaffenheit  der  Ausscheidungen,  des  Pulses,  der  Atmung  und 
manches  mehr. 

Auf  Grund  dieser  nicht  nur  theoretisch  wohlerwogenen,  sondern 
auch  praktisch  gut  durchgearbeiteten  Symptomatologie  gelangt 
SoRANOS  zu  einer  bis  dahin  von  keinem  Arzte  erreichten  Exakt- 
heit in  der  Trennung  der  einzelnen  Krankheitsbilder  und  erscheint 
durch  seine  meisterhafte  Abgrenzung  nahe  verwandter  Leiden 
geradezu  als  der  erste  Schöpfer  einer  brauchbaren  Differential- 
diagnostik. 

In  der  Krankenuntersuchung  geht  SORANOS  außerordentlich 
systematisch  vor:  sie  läßt  klar  eine  wohldurchgebildete  Dreiteilung 
erkennen,  wie  sie  in  der  hippokratischen  Medizin  bereits  vorbildlich 


SoRANOS  von  Ephesos.  127 

angedeutet  war.  Die  „Betrachtung"  (inspectio)  erstreckt  sich  auf 
alles,  was  man  überhaupt  mit  dem  Auge  wahrnehmen  kann,  auch 
auf  manche  Dinge,  die  wir  heute  wenig  mehr  beachten.  Die  „Be- 
tastung" (palpatio)  wird  in  der  gleichen  Weise  wie  bei  den  Hippo- 
kratikern  angewandt,  hauptsächlich  zur  Feststellung  von  Verände- 
rungen in  der  Konsistenz  der  verschiedenen  Teile,  von  abnormen 
Widerständen  (Geschwülsten  oder  Wurmknäueln  im  Darm)  u.  a.  m. 
Eine  besondere  Form  ist  eine  einfache  Art  von  Perkussion  (con- 
cussus  palmae),  die  uns  hier  zum  ersten  Male  entgegentritt :  z.  B.  das 
Beklopfen  des  Bauches  zur  Begrenzung  des  sogenannten  „tympa- 
nitischen  Schalles"  (resonus  tympani)  oder  des  „halbvollen  Schlauches". 
Auch  die  Beobachtung  der  Körpertemperatur  gehört  hierher.  Mit 
Hilfe  der  Behorchung  werden  die  verschiedenen  Geräusche  im  Leibe, 
vor  allem  aber  in  der  Brusthöhle,  und  zwar  durch  Anlegen  des  Ohrs 
bemerkt:  Geräusche  im  Magen  „wie  in  einem  halbvollen  Schlauche", 
„Kollern  in  den  Därmen",  „tönende  oder  knarrende  Laute"  bei  Pleu- 
ritis, „rauhes  Zischen"  bei  Peripneumonie,  Geräusche  „wie  von  einer 
eingeschlossenen  Flüssigkeit"  u.  a.  m. 

Unter  den  speziellen  Untersuchungsarten  nimmt  die  Pulsbeob- 
achtung eine  hervorragende  Stellung  ein,  welche  gegenüber  den 
älteren  Aerzten  erheblich  verfeinert  erscheint.  Unterscheidungen 
nach  dem  Rhythmus,  der  Schnelligkeit,  der  Stärke,  der  Füllung 
werden  bis  ins  einzelne  durchgeführt.  Auch  die  Untersuchung  des 
Sputums  und  besonders  des  Urins  ist  weiter  ausgebildet:  abnorme 
Beimengungen,  wie  Eiter,  Blut,  sandige  Sedimente,  fettartige 
Substanzen  werden  genau  geschildert  und  mit  den  Vorgängen 
in  den  betreffenden  Organen  in  Verbindung  gebracht.  Schließ- 
lich erstreckt  sich  die  Untersuchung  noch  auf  das  Nervensystem: 
Lähmungen,  Gefühllosigkeit  werden  durch  besondere  Einwir- 
kungen (Bewegungen,  Berühren  mit  verschiedenen  Gegenständen) 
geprüft. 

Die  Behandlung  geschieht  nach  den  durch  Themison  und 
Thessalos  angegebenen  Grundsätzen  der  methodischen  Schule. 
Aber  diese  Grundsätze  sind  durch  SORANOS  in  außerordentlich  syste- 
matischer Weise  ausgebaut,  lassen  dabei  dem  Arzte  doch  für  den 
einzelnen  Fall  hinreichenden  Spielraum.  Die  Unterlage  bilden  die 
„allgemeinen  Behandlungsnormen"  (regula  generalis),  welche  den 
Hauptindikationen  entnommen  werden.  Dabei  aber  läßt  er  einen 
breiten  Raum  für  spezielle  Indikationen,  welche  bei  ihm  durchweg 
eine  symptomatische  Behandlung  begründen.  Schließlich  tritt  in 
Fällen,  in  denen  die  örtlichen  Symptome  einen  besonderen  Eingriff 
verlangen  —  wie  bei  den  Geschwülsten  u.  ä.  —  eine  maßvolle  Lokal- 
therapie unterstützend  hinzu. 


128  '  SORANOS  von  Ephesos. 

Mit  SoRANüS  ist  somit  wieder  einmel  ein  Höhepunkt  der  Medizin 
erreicht.  Abgesehen  von  seinen  zahlreichen  Anhängern  unter  Aerzten 
und  Laien  mußten  dies  sogar  die  schärfsten  Gegner  und  Bekämpfer 
der  methodischen  Schule  zugeben  und  dieser  damit  den  Platz  und 
die  Bedeutung  zugestehen,  welche  sie  dank  ihrer  Fähigkeit,  durch 
geschickte  Anpassung  an  die  Forderungen  der  Zeit  zwischen  der 
römischen  Volksmedizin  und  der  griechischen  Heil  Wissenschaft  zu 
vermitteln,  sich  zu  erobern  vermochte. 


Die  pneumatische  Schule  und  die  Chirurgie. 

Daß  eine  ärztliche  Sekte,  welche  sich  eines  derartigen  Erfolges 
zu  erfreuen  hatte,  nicht  unangefochten  blieb,  lag  in  der  Natur  der 
Sache.  Namentlich  mußte  sie  den  Anhängern  des  streng  wissen- 
schaftlichen Prinzips,  das  seit  dem  Einfluß  Roms  stark  zurückgedrängt 
war,  ein  Dorn  im  Auge  sein.  Und  so  fehlte  es  nicht  an  Versuchen, 
dem  Methodismus  den  Rang  streitig  zu  machen.  Die  Aerzte,  welche 
dieses  Ziel  verfolgten,  machten  sich  dabei  die  Erfahrungen  ihrer 
Gegner  zunutze.  So  kam  auch  der  bedeutendste  dieser  Leute, 
Athen Aios  aus  Attaleia,  welcher  unter  Claudius,  also  um  die 
Mitte  des  i.  Jahrhunderts  n.  Chr.,  in  Rom  seinen  Beruf  ausübte, 
trotz  seines  wissenschaftlichen  Standpunktes  bewußt  den  Forderungen 
des  römischen  Volkes  entgegen.  Ausgehend  von  der  Behauptung, 
daß  die  Kenntnis  der  Heilkunde  für  keinen  Menschen  zu  entbehren 
sei,  verfaßte  er  seine  Schriften  in  einer  gemeinverständlichen  Weise, 
welche  es  jedem  Gebildeten  möglich  machte,  sich  die  gewünschten 
Kenntnisse  in  der  Heilkunde  anzueignen.  Um  aber  auch  dem  theo- 
retischen System  der  Methodiker  etwas  mindestens  Gleichwertiges 
gegenüberzustellen,  versuchte  er  an  die  Stelle  des  auf  römischem 
Boden  niemals  eingewurzelten  Dogmatismus  eine  neue  Lehre  zu 
setzen :  den  Pneumatismus,  d.  h.  die  Anschauung,  daß  alle  Vorgänge 
im  Organismus  im  letzten  Sinne  von  der  Beschaffenheit  und  Ver- 
teilung der  Lebensluft  (Pneuma)  abhängig  seien.  In  Wirklichkeit 
war  dieses  Theorem  indessen  nur  das  Aushängeschild  für  einen 
wohlüberlegten  Eklektizismus,  welcher  aus  den  verschiedenen  Lehr- 
systemen das  Brauchbare  heraussuchte,  um  damit  ein  neues  System 
zu  schaffen.  Und  so  waren  die  Anhänger  des  Athenaios,  wenn 
sie  sich  auch  „Pneumatiker"  nannten,  tatsächlich  Eklektiker  im 
wahren  Sinne  des  Wortes.  Sie  bedienten  sich  des  pneumatischen 
Prinzips   nur  in   der  Form  eines  locker  zusammenhaltenden  Bandes. 

Der  Gegensatz  der  Pneumatiker  zu  den  MetlÄdikern  machte 
sich  schon  in  der  Einteilung  der  Medizin  geltend,  wie  sie  sich  bei 
Athenaios  findet:  die  Voranstellung  der  Physiologie,  welcher  Patho- 
logie, Diätetik,  Materia  medica  und  Therapie  folgen,  läßt  ohne  weiteres 
die  wenigstens  äußerliche  Betonung  der  wissenschaftlichen  Tendenz 
erkennen.  Die  Physiologie  trägt  unverkennbar  den  Stempel  der 
dynamisch -materialistischen  Philosophie  der  Stoiker.  Die  Grund- 
bestandteile des  Körpers  sind  „das  Warme,  das  Kalte,  das  Trockene 

Meyer-Steineg  u  Sudhoff,  Illustr.  Geschichte  der  Medizin.  9 


i^o  Die  pneumatische  Schule  und  die  Chirurgie. 

und  das  Feuchte",  welche  als  Stoffe  gedacht  sind  und  die  einzelnen 
Teile  des  Organismus  aufbauen.  Das  eigentlich  lebengebende  Prinzip 
aber  ist  das  Pneuma,  das  dem  Körper  von  Geburt  an  innewohnt, 
durch  die  Atmung  immer  von  neuem  ergänzt  wird,  auf  dem  Wege 
der  Adern  überall  zirkuliert  und  in  den  verschiedenen  Teilen  des 
Körpers  die  verschiedenen  Funktionen  versieht.  Also  eine  theore- 
tisch-spekulative Lehre,  mit  der  in  der  Praxis  nicht  viel  anzufangen 
war,  die  aber  den  Anhängern  der  stoischen  Philosophie  ohne  weiteres 
einleuchten  mußte.  Das  geiche  gilt  von  der  Krankheitslehre,  bei 
der  das  Pneuma  ebenfalls  eine  wichtige  Rolle  spielte. 

In  der  praktischen  Krankenbehandlung  treten  die  eigentlichen 
Lehren  der  Pneumatiker  kaum  in  die  Erscheinung,  es  macht  sich 
vielmehr  deutlich  das  Bestreben  geltend,  die  erfolgreichen  Grund- 
sätze der  methodischen  Schule  sich  zu  eigen  zu  machen.  Das  ist 
bereits  bei  Athenaios  selbst  ersichtlich,  weit  mehr  aber  noch  bei 
seinen  Nachfolgern,  die  sich  deshalb  zu  einem  Teil  gar  nicht  als 
„Pneumatiker",  sondern  ganz  unumwunden  als  Eklektiker  bekannten. 
Unter  ihnen  nahm  der  unmittelbare  Schüler  des  Schulbegründers, 
Agathinos  aus  Lakedaimon,  den  ersten  Platz  ein,  welcher  in 
seiner  Therapie  ein  ganz  offener  Anhänger  der  Methodiker  war. 
Noch  weiter  ging  sein  gegen  Ende  des  i.  Jahrhunderts  n.  Chr. 
lebender  Schüler  Herodotos,  der  ganz  im  Sinne  der  letzterwähnten 
Schule  die  „naturgemäßen  Behandlungsmethoden",  und  Archigenes 
(unter  Trajan),  der  die  Pulslehre  weiter  ausbaute. 


Auffallend  ist  das  Interesse,  welches  in  dieser  Zeit  der  Chirurgie 
zugewandt  wurde.  Neben  dem  bereits  erwähnten  ARCHIGENES 
haben  eine  ganze  Reihe  gerade  der  bedeutenderen  Aerzte  des  i.  und 
beginnenden  2.  Jahrhunderts  sich  ganz  besonders  auf  diesem  Gebiete 
betätigt.  Er  selbst  ist  vielleicht  der  erste  gewesen,  der  die  Ampu- 
tation größerer  Glieder  in  sachgemäßer  Weise  ausgeführt  hat  und 
sich  dabei  der  Gefäßligatur  und  Umstechung  bedient  hat.  Vielleicht 
boten  ihm  den  äußeren  Anlaß  hierzu  die  Erfahrungen,  welche  er 
als  Militärarzt  zu  machen  in  der  Lage  war.  Seine  Methode  wurde 
dann  noch  verbessert  durch  Leonides  aus  Alexandreia  (Ende 
des  I.Jahrhunderts),  der  den  Lappenschnitt  einführte  und  auch  sonst 
der  Chirurgie  manche  Bereicherung  brachte.  Auch  Heliodoros, 
einem  Zeitgenossen  des  Archigenes,  verdankt  die  Chirurgie,  be- 
sonders diejenige  des  Schädels  und  die  Verbandlehre,  manche  Förderung. 

Der  hervorragendste  aber  unter  den  Chirurgen  dieser  Zeit, 
wenn  nicht  des  Altertums  überhaupt,  ist  fraglos  Antyli.oS,  über 
dessen  Leben  wir   freilich   nur   wissen,    daß    es   in    die  erste  Hälfte 


Die  pneumatische  Schule   und  die  Chirurgie.  131 

des  2.  Jahrhunderts  fällt.  Abgesehen  von  den  anderen  Teilen  der 
Medizin  —  in  denen  er  theoretisch  als  Anhänger  der  pneumatischen 
Schule,  praktisch  aber  durchaus  als  Eklektiker  erscheint  —  liegen 
seine  Hauptleistungen  auf  dem  Gebiete  der  operativen  Chirurgie.  Er 
hat  die  Indikationsstellung  zu  den  einzelnen  Eingriffen  verfeinert, 
eine  ganze  Reihe  bereits  bekannter  Methoden  verbessert  und  neue 
dazu  eingeführt.  Fortschritte  gegen  seine  Vorgänger  hat  er  nament- 
lich in  den  sogenannten  „plastischen  Operationen"  aufzuweisen.  Seine 
Schilderungen  über  den  Ersatz  verstümmelter  Augenlider,  Nasen, 
Ohren  usw.  sind  vortrefflich.  Sein  Hauptruhm  beruht  aber  auf  der 
von  ihm  zum  ersten  Male  angegebenen  Aneur)'smen-Operation  und 
der  Starausziehung.  Bei  der  ersteren  gibt  er  eine  genauere  Defi- 
nition des  Leidens,  eine  sorgfältige  Indikation  und  eine  bei  aller 
Knappheit  doch  außerordentlich  klare  Beschreibung  des  Eingriffes 
selbst,  bei  dem  das  Wichtigste  die  doppelte  Unterbindung  des  Blut- 
sackes ist.  Seine  Neuerung  bei  der  Staroperation  bestand  darin,  daß 
er  sich  nicht  mit  der  vor  ihm  geübten  Herabsenkung  der  Kristall- 
linse in  den  Glaskörper  begnügte,  sondern  dieselbe  durch  Schnitt 
aus  dem  Auge  entfernte. 

Ein  derartiger  Aufschwung  der  Chirurgie  ist  nun  kaum  vor- 
stellbar ohne  Erfüllung  zweier  Erfordernisse:  der  Asepsis  und  der 
Narkose.  Zwar  finden  wir  nirgends  besondere  Angaben  über  asep- 
tische Maßnahmen ;  aber  nach  dem,  was  uns  aus  der  hippokratischen 
Chirurgie  bekannt  ist,  dürfen  wir  annehmen,  daß  nach  wie  vor  die 
peinlichste  Sauberkeit  des  Operateurs,  seiner  Gehilfen,  Reinigung 
des  Operationsgebiets  und  der  Instrumente  die  Grundforderungen 
geblieben  sind,  welche  ein  jeder  Chirurg  in  erster  Linie  zu  berück- 
sichtigen hatte.  Die  erstere  war  notwendig,  wenn  nicht  jeder  Erfolg 
auch  der  bestausgeführten  Operation  durch  nachherige  Wundeiterung 
zunichte  gemacht  werden  sollte.  —  Bis  zu  einem  gewissen  Grade 
läßt  dies  auch  das  chirurgische  Instrumentarium  erkennen.  Wenn 
dasselbe  auch  seit  der  altgriechischen  Zeit  erheblich  reichhaltiger 
geworden  war,  und  das  alte  Prinzip,  mit  möglichst  wenigen  Instru- 
menten möglichst  viele  verschiedene  Eingriffe  auszuführen,  sich  fast 
in  sein  Gegenteil  gewandelt  hatte,  so  entsprachen  die  einzelnen 
Werkzeuge  doch  in  ihrer  meist  aus  einem  Stück  Metall  gearbeiteten 
schlichten  Form  den  Erfordernissen  der  Reinlichkeit  auf  das  beste. 
Auch  die  zweite  Voraussetzung  war  gegeben:  die  Chirurgen  der 
nachchristlichen  Zeit  kannten  die  Narkose.  Und  zwar  bedienten  sie 
sich  dazu  meist  eines  eine  allgemeine  Anästhesie  erzeugenden  Trankes 
aus  der  Alraunwurzel  (Mandragoras),  deren  wirksame  Substanz  dem 
heute  zu  dem  gleichen  Zwecke  verwandten  Scopolamin  nahe  ver- 
wandt ist. 

9* 


Die  Eklektiker. 

War  schon  bei  den  zuletzt  erwähnten  Aerzten  der  Zusammen- 
hang mit  den  Pneumatikern  nur  ein  ganz  lockerer,  so  entfernten 
sich  in  der  Folgezeit  die  bedeutenderen  Vertreter  der  Heilkunde 
immer  mehr  von  dem  Boden  der  einzelnen  Schulen.  Weit  erhaben 
über  die  Zänkereien  der  einzelnen  Sekten  und  über  die  Einseitigkeit 
einer  jeden  von  ihnen,  versuchten  sie  teils  bestimmte  Einzelgebiete 
der  Medizin  durch  besondere  Bearbeitung  über  den  bisherigen  Stand 
hinauszuheben  oder  unter  kritischer  Verwertung  der  gesamten  Kennt- 
nisse und  Leistungen  eine  breitere  und  sichere  Grundlage  der  Me- 
dizin herzustellen.  Unter  den  Aerzten,  die  den  ersteren  Weg  ein- 
schlugen, nimmt  bei  weitem  den  hervorragendsten  Platz  Pedanios 
DIOSKURIDES  aus  Anazarbas  in  Kilikien  ein,  der  ein  Zeitgenosse 
des  SCRIBONIUS  und  Plinius  war,  unter  Nero  und  Vespasian  auf 
weiten  Reisen  pharmakologische  Studien  gemacht  hatte  und  seine 
Beobachtungen  und  Erfahrungen  in  einem  „irspi  oXy]?  laTpar/?"  be- 
nannten Werke  niederlegte;  ein  Werk,  das  für  das  ganze  Gebiet 
der  Arzneimittellehre  für  Jahrhunderte  geradezu  grundlegend  ge- 
blieben ist. 

Unter  der  zweiten  Aerztegruppe  dagegen,  die  der  eklektischen 
Richtung  huldigten,  ragen  drei  Männer  hervor:  Aretaios  aus 
Kappadokien,  Rhuphos  ausEphesos  und  Galenos  aus  Per- 
gamos.  Die  Lebenszeit  des  ersten  von  ihnen  ist  unbestimmt,  wahr- 
scheinlich aber  in  den  Beginn  des  2.  Jahrhunderts  n.  Chr.  zu  setzen. 
Seine  uns  erhaltenen  beiden  Bücher:  „Ueber  die  Ursachen  und 
Zeichen  der  akuten  und  chronischen  Krankheiten"  und  „Ueber  die 
Behandlung  der  akuten  und  chronischen  Krankheiten"  bilden  ein 
Gegenstück  zu  dem  denselben  Gegenstand  behandelnden  Werke  des 
SORANOS  (s.  oben  S.  121),  mit  dem  einen  Unterschiede,  daß  Aretaios 
der  Trennung  der  theoretischen  Teile  (Aetiologie,  Symptomatologie) 
von  den  praktischen  (Therapie)  auch  äußerlich  durch  Verteilung  auf 
zwei  Bücher  Ausdruck  gibt.  Im  übrigen  bedeutet  die  ganze  Auf- 
fassung, wie  sie  sich  in  seinen  Schriften  widerspiegelt,  mit  ihrer  Be- 
tonung einer  nüchternen  Beobachtung  am  Krankenbette  und  einer 
daraus  abgeleiteten,  vorzugsweise  mit  einfachen  diätetischen  und 
anderen    „natürlichen"   Mitteln    arbeitenden    Therapie,    einen    Schritt 


Die  Eklektiker.  133 

zurück  zur  hippokratischen  Medizin,  mit  welcher  sie  daneben  auch 
gewisse  theoretische  Lehren  verbinden.  Auch  Aretaios  nimmt 
eine  dem  Körper  innewohnende  „natürliche  Kraft"  (^öat?)  an,  verlegt 
den  Sitz  der  „eingepflanzten  Wärme"  in  das  Herz  und  weist  dem 
Pneuma  wichtige  Funktionen  zu.  Daneben  kommt  aber  auch  — 
nach  methodischem  Vorbild  —  dem  Spannungsstand  der  Gewebe 
eine  gewisse  Bedeutung  zu.  In  seiner  Krankheitslehre  berücksichtigt 
er  diese  drei  Komponenten  in  gleicher  Weise.  Seine  Krankheits- 
beschreibungen sind  zum  großen  Teile  meisterhaft;  manche  finden 
sich  bei  ihm  zum  ersten  Male  deutlich  gezeichnet,  z.  B.  die  Harn- 
ruhr, die  Diphtherie  u.  a.  Auch  die  Diagnostik  entspricht  hohen 
Anforderungen,  sie  enthält  alle  von  früheren  Aerzten  angewandten 
Methoden  (vgl.  oben  S.  126  f.).  Sogar  eine  sonst  nirgends  erwähnte 
Auskultation  der  Herzgeräusche  wird  von  ihm  angedeutet.  Seine 
Therapie  beruht,  indem  sie  sich  von  allen  theoretischen  Vorstellungen 
fernzuhalten  sucht,  ausschließlich  auf  der  Erfahrung.  Genaue  Rege- 
lung der  Diät.  Stoffwechselkuren,  Körperbewegungen  und  Uebungen, 
Bäder,  Massagen  und  ähnliches  nehmen  den  wichtigsten  Platz  ein. 
Sein  Arzneischatz  ist  wenig  reichhaltig,  aber  sorgfältig  ausgewählt. 
Die  Bedeutung  des  zweiten  der  erwähnten  Eklektiker,  des 
Rhuphos  von  Ephesos,  der  unter  Trajan  lebte,  liegt  zu  einem  Teil 
gleichfalls  in  der  Art  seiner  Krankenbeobachtung,  zum  größeren 
Teile  aber  in  seinen  Bestrebungen,  die  Anatomie  enger  mit  der 
übrigen  Medizin  zu  verbinden.  In  dieser  Hinsicht  war  er  einer  der 
letzten  Ausläufer  der  Schule  von  Alexandreia,  wo  er  auch  zu  Studien- 
zwecken längere  Zeit  geweilt  hat.  Unter  seinen  Werken  nimmt  das 
„über  die  Benennung  der  menschlichen  Körperteile"  einen  Haupt- 
platz ein.  Er  wirft  ein  Licht  auf  die  anatomische  Forschung  der 
nachchristlichen  Zeit  und  zeigt,  daß  die  Sektion  menschlicher  Leichen 
allmählich  wieder  zu  einer  großen  Seltenheit  geworden  war,  so  daß 
die  Aerzte  sich  wieder  gezwungen  sahen,  ihre  Kenntnisse  über  die 
Struktur  des  Menschenkörpers  auf  Analogien  mit  bestimmten  Tieren 
aufzubauen.  Wenn  man  diese  Tatsache  in  Rechnung  zieht,  so  weist 
das  anatomische  Wissen  des  Rhuphos  eine  Reihe  erheblicher  Fort- 
schritte auf:  die  erste  Beschreibung  der  Sehnervenkreuzung  und  der 
Linsenkapsel  stammt  von  ihm.  Seine  Betrachtung  des  Nervensystems 
als  gleichsam  des  Bindeglieds  zwischen  den  verschiedenen  Funktionen 
des  Organismus  zeugt  von  einem  weiten  Blick.  Auch  in  seinen 
pathologischen  Anschauungen  findet  sich  mancher  originelle  Ge- 
danke, und  die  Tatsache,  daß  er  Monographien  über  einzelne  Krank- 
heiten verfaßt  hat  (wie  über  die  Gicht,  die  Nieren-  und  Blasenleiden 
u.  a.)  beweist,  daß  er  danach  trachtete,  über  die  allgemeine  Krank- 
heitslehre hinaus  zu  gelangen.   Seinem  hervorragenden  Wissen  scheint 


134  ^^^  Eklektiker. 

auch  ein  bedeutendes  Können  entsprochen  zu  haben ;  das  zeigen  die 
außerordenthch  rationellen  Behandlungsarten,  die  er  bei  den  ver- 
schiedenen Leiden  einschlägt:  sein  Blutstillungsverfahren  durch 
Fingerdruck,  Druckverband,  Kälte,  Torsion,  Unterbindung  und  ad- 
stringierende  Mittel,  seine  Therapie  der  Blasen-  und  Nierenleiden 
u.  a.  m. 

Ragen  nun  schon  Aretaios  und  Rhuphos  hoch  über  die  anderen 
zeitgenössischen  Aerzte  hervor,  so  werden  sie  doch  an  Bedeutung 
weit  überstrahlt  von  dem  dritten  der  drei  Eklektiker,  Galenos. 


Galenos. 

Mit  Galen  kommt  ein  Kampf  zum  vorläufigen  Abschluß,  der, 
zum  ersten  Male  in  dem  Gegensatz  der  Schulen  von  Kos  und  Knidos 
deutlich  hervortretend,  sich,  bald  bewußt,  bald  mehr  unbeuaißt,  durch 
die  ganze  Entwicklung  der  Medizin  hindurchzieht:  der  Kampf 
zwischen  den  beiden  grundsätzlichen  Auffassungen  der  Heilkunde 
als  Wissenschaft  oder  als  Kunst.  Hatten  in  der  hippokratischen 
Epoche  alle  Umstände,  namentlich  die  äußeren  Verhältnisse  der 
Aerzte,  stärker  zu  der  letzteren  Auffassung  hingedrängt,  so  fand 
Galen  zum  ersten  Male  alle  Bedingungen  vor,  welche  die  Begrün- 
dung einer  medizinischen  Wissenschaft  erforderte:  die  alexandrinische 
Medizin  hatte  für  die  naturwissenschaftlichen  Grundlegungen  der 
Heilkunde  bis  dahin  ungeahnte  Möglichkeiten  eröffnet,  die  Anatomie 
und  Physiologie  waren  auf  eine  unendlich  höhere  Stufe  gehoben 
worden,  die  Krankheitslehre  hatte  durch  den  Wettbewerb  der  ver- 
schiedensten Schulen  außerordenthche  Anregung  erhalten  und  die 
sie  behindernde  Einseitigkeit  abgestreift,  die  Behandlung  hatte  sich 
durch  mannigfaltige  Erfahrungen  bereichert  und  durch  Weiterbildung 
der  alten  Grundsätze  verbreitert,  die  einzelnen  Gebiete  der  Medizin, 
wie  Pharmakologie,  Chirurgie,  Geburtshilfe  u.  a.  m.  waren  durch  das 
ihnen  von  vielen  Aerzten  gewidmete  besondere  Interesse  gewaltig 
gefördert  worden;  kurzum  es  drängte  alles  dahin,  den  ganzen  Er- 
fahrungs-  und  Denkstoff  zu  einem  einheitiichen  Ganzen  zusammen- 
zubauen, zu  einem  wissenschaftlichen  System  der  Heilkunde,  in  dem 
die  Theorie   die  unmittelbare  Grundlage   der  Praxis  zu  bilden  habe. 

Nur  ein  Mann,  der  das  gesamte  Wissen  und  Können  beherrschte 
und  die  Kraft  und  Fähigkeit  besaß,  selbstschöpferisch  daraus  etwas 
Neues  zu  schaffen,  das  alle  bisherigen  Schulmeinungen  in  sich  be- 
griff und  damit  gleichzeitig  überflüssig  machte  —  nur  ein  solcher 
Mann  vermochte  die  ungeheure  Aufgabe  zu  lösen.  Und  diese  Eigen- 
schaften besaß  Galenos  wie  keiner  vor  und  nur  wenige  nach  ihm. 

Er  wurde  im  Jahre  130  n.  Chr.  zu  Pergamos  geboren.  Sein 
Vater,  der  angesehene  Architekt  NiKON,  ein  in  mathematisch-natur- 
wissenschafüichen  sowie  in  allgemein-philosophischen  Dingen  wohl- 
unterrichteter Mann,  ließ  ihn  von  seinem  14.  Lebensjahre  ab  in  die 
\erschiedenen   philosophischen  Systeme  einführen,   für  die  Galexos 


1 36  '  Galenos. 

schon  in  diesem  jugendlichen  Alter  großes  Interesse  und  eine  aus- 
gesprochene Begabung  zeigte.  Mit  17  Jahren  wandte  er  sich  dann 
—  angeblich  auf  Grund  eines  Traumes  seines  Vaters,  den  dieser  als 
göttliche  Eingebung  des  auch  zu  Pergamos  verehrten  Asklepios 
auslegte  —  der  Heilkunde  zu.  Er  wurde  dann  in  seiner  Vaterstadt, 
die  durch  das  als  Kultstätte  von  vielen  Kranken  besuchte  Asklepieion 
vielerlei  Gelegenheit  zu  medizinischen  Studien  bot,  Schüler  verschie- 
dener Aerzte  mannigfaltigster  Richtung,  Nach  seines  Vaters  Tode 
begab  er  sich  auf  Reisen,  hörte  bei  dem  Anatomen  Pelops  zu 
Smyrna,  bei  NUMISIANOS  in  Korinth  vor  allem  Anatomie.  Um  sich 
auf  diesem  Gebiete  weiter  zu  vervollkommnen,  ging  er  dann  nach 
Alexandreia,  wo  er  zugleich  auch  in  den  übrigen  Fächern  der  Me- 
dizin sich  weiterbildete  und  seine  schriftstellerische  Tätigkeit,  die  er 
bereits  mit  zwanzig  Jahren  begonnen  hatte,  fortsetzte.  Nach  neun- 
jähriger Abwesenheit  folgte  er  dann  einem  Rufe  als  Gladiatorenarzt 
in  seine  Vaterstadt  und  versah  dieses  angesehene  Amt  4  Jahre  hin- 
durch. Er  benutzte  dabei  jede  Gelegenheit  zu  anatomisch-physio- 
logischen Studien  und  zu  Beobachtungen  über  den  Einfluß  der 
Lebensweise  auf  den  Körperzustand.  Dann  zog  es  auch  ihn,  wie  so 
viele  Aerzte,  nach  Rom.  Dort  gelang  es  ihm  schon  nach  kurzer 
Zeit,  Beziehungen  zu  einer  ganzen  Reihe  angesehener  und  bedeuten- 
der Männer  anzuknüpfen:  wie  dem  Konsular  Boethus,  den  Philo- 
sophen EuDEMOS  und  Alexander  Damascenus,  dem  Oheim  des 
Kaisers  Lucius  Verus,  mit  Civica  Barbarus  u.  a.  m.,  Beziehungen, 
welche  ihm  in  jeder  Hinsicht  förderlich  waren.  Denn  es  gelang  ihm 
durch  sie  auf  der  einen  Seite,  seinen  Ideen  in  den  einflußreichsten 
Kreisen  der  Hauptstadt  Eingang  zu  verschaffen,  auf  der  anderen 
Seite  brachten  sie  ihn  bereits  nach  kurzer  Zeit  in  die  „Praxis  aurea" 
hinein.  Freilich  trat  hierbei  auch  eine  Seite  seines  Charakters  her- 
vor, die,  seiner  eigenen  Schilderung  nach  von  der  Mutter  vererbt, 
einen  der  weniger  erfreulichen  Wesenszüge  bei  ihm  bildet:  seine 
Neigung  zu  Zank  und  Streit  sowie  eine  gewisse  großsprecherische 
Ueberhebung.  Zwar  sagt  er  selbst  einmal  von  sich,  er  habe  seit 
frühester  Jugend  auf  das  Fanatischste  den  Ruhm  bei  der  Menge 
verachtet.  Nichtsdestoweniger  ist  sein  ganzes  Streben  in  Rom  darauf 
gerichtet,  durch  öffentliche  Vorlesungen,  in  denen  er  vor  einem  ge- 
ladenen Zuschauerkreis  Tierzergliederungen  und  vivisektorische  Ex- 
perimente abhielt,  seinen  Namen  in  allei  Leute  Mund  zu  bringen. 
Geschah  dies  wohl  auch  nicht  nur  in  der  Absicht,  daraus  materielle 
Vorteile  durch  Gewinnung  von  Patienten  zu  ziehen,  so  erregte  doch 
die  hochfahrende  Art,  mit  der  er  seine  Gegner  abfertigte,  eine  tief- 
gehende Mißstimmung  unter  den  übrigen  römischen  Aerzten,  die 
sich   in  heftigen  Angriffen  gegen  ihn  kundgab.     Namentlich  zog  er 


Galenos.  137 

sich  die  erbitterte  Feindschaft  einiger  angesehener  Anhänger  der 
methodischen  Schule  zu.  Trotz  seiner  glänzenden  äußeren  Erfolge 
sah  sich  daher  Galenos  schon  nach  4  Jahren  gezwungen,  Rom 
wieder  zu  verlassen.  Inwieweit  auf  seinen  Entschluß  die  im  Jahre 
166  n.  Chr.  dort  ausbrechende  sogenannte  „Pest  des  Antonin"  mit- 
gewirkt hat,  ist  nicht  mit  Sicherheit  zu  sagen.  Jedenfalls  ist  es  auf- 
fallend, daß  er.  der  doch  sonst  keine  Gelegenheit  zur  Erweiterung 
seiner  Kenntnisse  ungenutzt  ließ,  in  diesem  Falle  vor  der  Epidemie 
floh.  Auf  der  Rückreise  in  seine  Heimat,  die  ihn  unter  anderem 
über  Campanien,  Cypern,  Palästina  führte,  erweiterte  er  seine  medi- 
zinischen Kenntnisse  in  verschiedener  Hinsicht.  Kaum  in  Pergamos 
angekommen,  wurde  er  dann  durch  die  Kaiser  Verus  und  ^Marc 
AUREL  nach  Aquileia  berufen,  wo  er  im  Winter  168  eintraf.  Den 
vor  der  wiederauftretenden  Seuche  flüchtenden  Kaisern,  von  denen 
der  erstere  von  ihr  fortgerafft  wurde,  folgte  er  nach  Rom,  lehnte 
aber  die  Aufforderung,  den  Markomannenfeldzug  mitzumachen,  ab, 
und  ließ  sich  stattdessen  durch  den  Kaiser  dem  jungen  COMMODUS 
als  ärztlicher  Berater  zuteilen.  Nach  Marc  Aurels  Rückkehr  wurde 
er  dessen  Leibarzt.  Ob  er  die  gleiche  Stellung  auch  bei  den  späteren 
Kaisern  bekleidet  hat,  steht  nicht  fest,  doch  scheint  er  nach  seinen 
eigenen  Angaben  dauernd  in  Beziehungen  zum  Hofe  gestanden  zu 
haben.  Seine  praktische  Tätigkeit  ist  von  dieser  Zeit  ab  gegenüber 
der  schriftstellerisch-wissenschaftlichen  mehr  in  den  Hintergrund  ge- 
treten; doch  erfreute  sich  Gat.enos  schon  zu  seinen  Lebzeiten  eines 
hohen  Ansehens.  Im  Jahre  201  n.  Chr.  ist  er  dann  in  Rom  oder 
vielleicht  auch  in  seiner  Vaterstadt  gestorben. 

Das  ungeheuer  umfangreiche  Schrifttum  Galexs  —  er  hat  fast 
vierhundert  verschiedene  Schriften  verfaßt  —  legt  Zeugnis  ab  von 
einer  ungewöhnlichen  Belesenheit,  einem  nie  versagenden  Gedächtnis, 
einer  vollkommenen  Beherrschung  des  gesamten  Stoffes,  einem  klaren, 
kritischen  Verstände  und  einer  außerordentlichen  Fähigkeit,  fremdes 
Gut  mit  eigenen  Erfahrungen  und  Beobachtungen  zu  verarbeiten. 
Auf  der  anderen  Seite  verraten  sich  in  seinen  Schriften  auf  Schritt 
und  Tritt  eine  maßlose  Eitelkeit,  Ueberschätzung  eigener  und  Unter- 
schätzung fremder  Leistungen,  eine  starke  Neigung  zu  geschwätziger 
Ausführlichkeit,  kurz  alle  die  Schattenseiten,  die  auch  sonst  in  seinem 
Wesen  hervortreten.  Seine  Hauptwerke  sind:  die  „anatomischen 
Untersuchungen",  sein  Buch  über  den  „Gebrauch  der  Körperteile", 
die  „Lehrmeinungen  des  Hippokrates  und  Piaton",  die  „Heilmethode", 
über  „die  kranken  Körperteile",  über  „die  Zusammensetzung  der 
Arzneimittel",  „Hygiene"  u.  a.  m. 

Das  Streben  Galexs  war  darauf  gerichtet,  eine  folgerichdge 
Verbindung  zwischen  den  einzelnen  Teilen  der  Medizin  herzustellen. 


138  '  Galenos. 

derart,  daß  diejenigen  Fächer,  welche  der  praktischen  Aufgabe  der 
Krankenbehandlung  dienen,  unmittelbar  sich  auf  den  Fächern  auf- 
bauen sollten,  welche  über  Wesen  und  Ursachen  des  Krankseins 
Aufschluß  geben.  Diese  letzteren  wiederum  sollten  ihre  Grundlage 
in  der  Kenntnis  des  gesunden  Organismus  finden.  Den  Ausgangs- 
punkt des  Ganzen  bildet  demnach  die  normale  Anatomie  und  Physio- 
logie, auf  diesen  basiert  die  Krankheitslehre  und  die  Lehre  von 
der  Wirkung  der  Arzneimittel,  und  auf  diesen  schließlich  die 
Therapie. 

Der  Weg,  den  Galen  bei  seinen  Forschungen  einschlug,  war 
ihm  durch  seine  besondere  Veranlagung  sowie  durch  seinen  Bil- 
dungsgang vorgezeichnet:  er  versuchte  allen  Ernstes  die  mathe- 
matische Methode  mit  der  naturwissenschaftlich-empirischen  gleich- 
wertig nebeneinander  auf  die  Medizin  anzuwenden ;  d.  h.  in  gleicher 
Weise  aus  der  sinnlichen  Wahrnehmung  und  aus  der  unmittelbaren 
Gewißheit  des  Verstandes  seine  Schlüsse  zu  gewinnen.  Ob  er  den 
fundamentalen  Unterschied  zwischen  diesen  beiden  Denkmethoden 
verkannte  oder  aber  bewußt  vernachlässigte,  ist  nicht  mit  Sicherheit 
zu  entscheiden.  Jedenfalls  erwuchsen  daraus  zwei  Folgen:  einmal, 
daß  überhaupt  ein  einheitliches  System  zustande  kam,  sodann  aber, 
daß  er  in  zahlreiche  grobe  Irrtümer  verfiel,  die  er  bei  seiner  genialen 
Veranlagung  sicher  vermieden  haben  würde,  wenn  er  sich  ausschließ- 
lich auf  naturwissenschaftlich-empirischem  Boden  bewegt  hätte. 

Der  seinen  ganzen  Forschungen  zugrunde  liegende  Gedanken- 
gang ist  kurz  folgender:  „Die  Natur  tut  nichts  ohne  Zweck",  dieser 
Ausspruch  des  Aristoteles  ist  gleichsam  der  Schlüssel  seines  medi- 
zinischen Denkens  und  beherrscht  bei  ihm  die  ganze  Problemstellung 
vollkommen,  denn  er  fragt  nicht  nach  dem  Wie  und  Warum  der 
Lebensvorgänge,  sondern  lediglich  nach  ihrem  Zweck,  also  nach  dem 
Wozu.  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  sieht  er  in  dem  Körper  im 
Grunde  nur  eine  Einrichtung,  welche  der  Seele  ihre  Funktionen  er- 
mögliche. Der  Körper  bedient  sich  zu  diesem  Zwecke  verschiedener 
ihm  innewohnender  Kräfte,  welche  ihrerseits  das  Pneuma  gleichsam 
als  Träger  benutzen.  Dieser  mit  der  Atmung  in  den  Organismus 
gelangende  Stoff  differenziert  sich  in  ihm  in  dreierlei  Weise:  als 
„Lebenspneuma",  das  im  Herzen  seinen  Sitz  hat,  als  „psychisches 
Pneuma",  das  im  Gehirn  ist  und  als  „ph3^sisches  Pneuma"  in  der 
Leber.  Dementsprechend  baut  sich  das  Leben  aus  drei  Haupt- 
funktionen zusammen. 

Die  erste  Funktion,  welche  der  Leber  obliegt,  ist  die  Blutbildung 
und  damit  die  Ernährung  des  Körpers  und  die  Förderung  seines 
Wachstums.  „Die  Leber  bringt,  nachdem  sie  die  bereits  von  ihren 
Dienern  (Magen  und  Darm)  zubereitete  Nahrung  aufgenommen  hat. 


Galenos. 


139 


dieser  die  vollkommene  Beschaffenheit  des  Blutes  bei."  Dabei  wird 
gleichsam  als  Ueberschuß  die  Galle  erzeugt.  Die  eigentlichen  Nähr- 
stoffe werden  dann  von  der  Leber  aus  zum  Teil  unmittelbar  durch 
die  von  ihr  ausgehenden  Venen  in  dem  ganzen  Körper  verteilt,  zum 
Teil  zunächst  in  das  rechte  Herz  geleitet  und  von  dort  aus  durch 
die  Arterien  verteilt. 

Das  Herz  selbst  ist  das  Zentralorgan  des  Lebenspneumas.   Dieses 
wird  in  ihm  aus  dem  mit  der  Lungenvene  ins  linke  Herz  dringenden 
Pneuma   bereitet   und   dann   von    dort 
aus   durch   die    Arterien    dem    ganzen 
Körper    zugeführt.      Es   unterhält    die 
..eingepflanzte  Wärme"  im  Organismus. 

Das  (lehirn  ist  der  Sitz  der  Seele 
und  damit  der  Ausgangspunkt  aller 
von  ihr  abhängigen  Funktionen.  Träger 
derselben  ist  das  Seelenpneuma,  welches 
in  den  Gehirnventrikeln  aus  dem  mit 
den  Arterien  in  das  Gehirn  gelangen- 
den Pneuma  durch  Umbildung  bereitet 
wird  und  seinerseits  durch  die  Nerven 
seinen  Weg  zu  den  verschiedenen 
Körperteilen  und  Organen  nimmt. 

Durch  diese  drei  Hauptfunktionen 
werden  sämtliche  Teile  des  Körpers 
zu  einem  einheitlichen  Ganzen  ver- 
bunden. Von  ihnen  hängen  alle  Vor- 
gänge in  den  Einzelorganen  und  Teilen 
des  Organismus  ab.  Dieser  selbst  setzt 
sich  aus  festen  und  flüssigen  Bestand- 
teilen zusammen.  Zu  den  festen  gehören 

auf  der  einen  Seite:  die  sogenannten  „gleichartigen  Teile",  d.  h.  die 
Teile,  deren  kleinste  Unterteile  alle  einander  gleich  sind  (wie  der 
Muskel,  das  Fett,  der  Knochen  usw.),  und  auf  der  anderen  Seite 
die  sogenannten  „ungleichartigen  Teile"  oder  „Organa",  welche  sich 
aus  verschiedenartigen  Geweben  zusammensetzen  (wie  z.  B.  die  Niere, 
die  Leber  usw.).  Die  flüssigen  Bestandteile  sind  das  Blut,  der  Schleim, 
die  gelbe  und  schwarze  Galle. 

Gesundheit  besteht,  wenn  alle  diese  Bestandteile  des  Orga- 
nismus in  richtiger  Quantität  und  Qualität  vorhanden  sind.  Doch 
sind  die  Grenzen  dieses  Zustandes  keine  absoluten,  sondern  sie 
schwanken  nach  Alter  und  Geschlecht,  Lebensweise  wie  überhaupt 
individueller  Anlage,  und  diese  Momente  schaffen  bei  jedem  ein- 
zelnen Menschen    eine  Art  Zwischenzustand,   der   weder   Gesundheit 


Abb.    75. 


Kreislauf   nach    Galens 
Anschauung. 


1 40  Galenos. 

noch  Krankheit  ist,  der  aber  die  Disposition  zu  bestimmten 
Krankheitsformen  in  sich  schHeßt. 

Die  Krankheit  ist  nichts  anderes  als  Veränderung  der  Funktion 
der  einzelnen  Bestandteile  des  Körpers  auf  Grund  ihrer  veränderten 
Beschaffenheit.  Es  gibt  also  Krankheiten  durch  Alteration  der  Säfte 
(Blut,  Schleim,  gelbe  und  schwarze  Galle),  der  gleichartigen  Teile 
und  der  Organe.  Bestimmte  Krankheiten,  oder  genauer  genommen 
Krankheitssymptome  beruhen  auf  Veränderungen  des  Pneumas 
(namentlich  P'ieber  und  Entzündungen).  Den  gesamten  Krank- 
heitsvorgang zergliederte  Galen  in  folgender  Weise:  die  prä- 
disponierenden Ursachen  erzeugen  die  Neigung  zu  gewissen  Krank- 
heitsformen; die  Gelegenheitsursachen  schaffen  sodann  die  eigent- 
liche Krankheitsdiathese,  und  die  unmittelbaren  Ursachen  bringen 
das  Leiden  selbst  zum  Ausbruch.  Es  entsteht  somit  eine  Störung 
der  Funktionen  (Tta^o?);  durch  diese  Störung  wiederum  wird  der 
wirkliche  Krankheitszustand  (vöa'irj[Jia)  hervorgerufen,  der  nach  außen 
hin  in  die  Erscheinung  tritt  durch  die  „Symptome",  welche  zum  Teil 
auf  der  unmittelbaren  krankhaften  Schädigung  beruhen,  zum  Teil 
der  Ausdruck  der  dadurch  hervorgerufenen  Folgen  sind. 

Der  Krankheitsverlauf  gliedert  sich  in  verschiedene  Stadien : 
das  Stadium  des  Beginns  (ap/Tj),  der  Zunahme  (eTciSoai?),  des  Höhe- 
punktes (ax[i.Yj)  und  der  Abnahme  (7rapax[JL7]).  Diesen  entsprechen 
zum  Teil  die  der  humoralpathologischen  Lehre  der  Hippokratiker 
entnommenen  Stadien  der  „Roheit",  „Kochung"  und  „Ausscheidung" 
(s.  oben  S.  63),  indem  diese  letzteren  gleichsam  die  körperliche  Grund- 
lage der  ersteren  bilden. 

Diese  —  hier  nur  in  ganz  groben  Umrissen  zu  skizzierenden  — 
theoretischen  Anschauungen  sucht  Galen  nun  zur  Unterlage  seiner 
Therapie  zu  machen.  Fußend  auf  dem  Obersatze,  daß  „keinerlei 
Störung  der  Körperfunktionen  ohne  krankhafte  Veränderung  des 
für  sie  in  Betracht  kommenden  Teiles  möglich  sei",  geht  er  vor 
allem  darauf  aus,  zunächst  festzustellen,  inwieweit  zur  Ausgleichung 
dieser  Veränderungen  die  dem  Körper  innewohnende  „Physis"  (auch 
eine  Entlehnung  von  den  Hippokratikern)  allein  zu  ihrer  Beseitigung 
ausreicht.  Nur  wenn  dies  nicht  der  Fall  ist,  soll  der  Arzt  eingreifen. 
Bei  seinem  Handeln  aber  haben  ihm  verschiedene  Indikationen  als 
Grundlage  zu  dienen,  wie  sie  sich  aus  den  einzelnen  Komponenten 
des  Krankheitsvorganges  ergeben :  also  zunächst  aus  den  Krank- 
heitsursachen. Die  hieraus  abgeleitete  Indikation  ist  die  sogenannte 
prophylaktische,  d.  h.  sie  hat  nicht  die  Heilung,  sondern  die  Vor- 
beugung zum  Ziele,  indem  sie  vor  allem  die  Vermeidung  der 
ätiologischen  Momente  berücksichtigt.  Die  einmal  eingetretene 
Funktionsstörung   gibt   eine   neue   Indikation,   die  freilich   eine  vor- 


Galenos.  141 

wiegend  negative  ist,  weil  für  gewöhnlich  in  diesem  Frühstadium 
des  Leidens  der  Arzt  nach  Galen  überhaupt  noch  nicht  eingreifen 
soll.  Der  wirklich  ausgebrochene  Krankheitszustand  ergibt  dann 
die  erste  Indikation  zu  aktivem  Eingreifen.  Hierbei  sind  der  Cha- 
rakter der  Krankheit,  ihre  Stärke,  ihr  Stadium  u.  a.  m.  genau  zu 
beobachten.  Besondere  Indikationen  werden  durch  einzelne  hervor- 
stechende Symptome  bedingt,  welche  an  sich  auch  ein  besonderes 
Eingreifen  nötig  machen. 

Die  nicht  ausreichende  „Physis"  in  ihrem  Heilbestreben  zu  unter- 
stützen, das  ist  wie  bei  den  Hippokratikern  so  auch  bei  Galen 
oberstes  Gesetz  des  ärztlichen  Handelns.  Während  aber  die  ersteren 
sich  mit  dem  vagen  Begriff  einer  im  Körper  vorhandenen  selbst- 
tätigen Kraft  begnügten,  suchte  Galen  ihr  Wesen  genauer  zu  er- 
gründen, die  Art  ihrer  Wirksamkeit  und  die  Grenzen  ihrer  Leistungen 
festzustellen.  Nach  seiner  Meinung  ist  die  Physis  nichts  anderes  als 
die  Summe  derjenigen  Kräfte,  welche  auch  im  gesunden  Organismus 
die  einzelnen  Funktionen  im  Gange  halten.  Im  kranken  Körper 
treten  einzelne  dieser  Kräfte  besonders  stark  in  den  Vordergrund : 
so  vor  allem  die  „ausleerende  Kraft",  welche  normalervi'^eise  die  ge- 
wöhnlichen Ausscheidungen  regelt,  bei  krankhaften  Veränderungen 
dagegen  die  Ausleerung  der  „materia  peccans"  besorgt.  Daneben 
kommen  noch  die  „verändernde",  die  „zurückhaltende"  Kraft 
u.  a.  m.  in  Betracht.  Jeweils  die  richtige  Kraft  in  der  richtigen 
Weise  zu  benutzen,  darin  besteht  die  hauptsächlichste  Kunst  des 
Arztes. 

Die  Erfüllung  dieser  Aufgabe  erforderte  nun  aber  eine  genaue 
Feststellung  der  den  einzelnen  Heilmitteln  innewohnenden  und  der 
ihnen  zukommenden  Kräfte.  Unter  diesem  Gesichtspunkte  unter- 
schied Galen  drei  verschiedene  Stufen  der  arzneilichen  Wirkung; 
die  erste  ist  diejenige,  welche  ausschließlich  durch  die  in  dem  Heil- 
mittel enthaltenen  Grundeigenschaften  hervorgerufen  wird  (warm, 
kalt,  trocken,  feucht).  Die  zweite  dieser  Stufen  besteht  in  der  Kom- 
bination verschiedener  dieser  Grundeigenschaften,  und  die  dritte 
Stufe  in  der  Verwendung  spezifischer  Wirkungen  des  einzelnen 
Mittels  (brechenerregende,  abführende,  harntreibende).  Diese  Grund- 
anschauungen werden  gekreuzt  von  einem  weiteren  Prinzip,  welches 
die  Heilmittel  in  solche,  welche  „actu"  und  solche,  welche  „potentia" 
wirken,  scheidet  So  haben  z.  B.  sowohl  das  Feuer  wie  der  Pfeffer 
beide  die  Qualität  „heiß",  aber  während  das  erstere  „actu"  wirkt, 
wirkt  der  letztere  nur  „potentia".  Weiterhin  gibt  es  nach  Galen 
Gradunterschiede  in  der  Arznei  Wirkung:  der  ersten  Stufe  gehören 
die  Mittel  an,  welche  einen  kaum  wahrnehmbaren  Einfluß  auf  den 
Körper  haben,    der  zweiten   die    eben    merkbaren,    der   dritten   die 


142 


Galenos. 


kräftig  wirkenden  und  der  vierten  die  schädlicii  und  zerstörend 
wirkenden.  Alle  diese  feinen  Unterschiede  je  nach  den  durch  die 
Verschiedenartigkeit  der  Krankheitserscheinungen  bedingten  Indi- 
kationen a,bzustimmen  und  genau  in  Einklang  zu  bringen,  sieht  Galex 
für  die  wichtigste  Aufgabe  der  arzneilichen  Therapie  an. 

So  schließt  sich  sein  System  zu  einem  einheitlichen  Ganzen,  in 
dem  schernbar  keine  Lücke  sich  findet,  sondern  das  Eine  sich  als 
logische  Folge  aus  dem  Anderen  ergibt:  die  Physiologie  aus  der  all- 
gemeinen Biologie,  aus  der  ersteren  wieder  die  allgemeine  Krank- 
heitslehre, aus  dieser  die  Indikationenlehre  und  zuletzt  die  Therapie. 


Betrachtet  man  nun  die  einzelnen  Teile  dieses  Systems  für  sich, 
so  treten  vor  allem  die  Galenische  Anatomie  und  Physio- 
logie in  den  Vordergrund.  Sie  bilden  für  sich  ein  untrennbares 
Ganze,  was  bereits  darin  zum  Ausdruck  kommt,  daß  seine  ana- 
tomischen Abhandlungen  innig  mit  physiologischen  Bemerkungen 
und  Experimenten  durchsetzt  sind,  und  umgekehrt.  Ihren  Wert 
mißt  er  mit  'einem  doppelten  Maßstabe :  einmal  nach  dem  praktischen 
Nutzen,  den  sie  für  den  Arzt  dadurch  haben,  daß  die  Krankheits- 
lehre und  vor  allem  die  Chirurgie  sich  auf  ihnen  aufbauen;  sodann 
nach  dem  rein  wissenschaftlichen  Gesichtspunkte  der  Bereicherung 
der  Naturerkenntnis.  Als  obersten  Grundsatz  für  die  anatomische 
Forschung  stellt  er  auf:  daß  der  Anatom  nur  die  Dinge  in  Be- 
tracht ziehen  solle,  die  er  mit  eigenen  Augen  sehen  könne,  da- 
gegen nicht  sich  bei  seiner  Forschung  von  theoretischen  Er- 
w^ägungen  leiten  lassen  dürfe;  also  ein  Prinzip,  das  heute  noch  als 
wichtigstes  gilt. 

Indessen  weicht  Galen  selbst  sehr  häufig  von  ihm  ganz  erheb- 
lich ab.  Schon  sein  Glaube  an  die  absolute  Zweckmäßigkeit  aller 
Dinge  in  der  Natur,  sowie  die  damit  zusammenhängende  Neigung, 
die  Funktion  eines  Körperteiles  zuerst  begreifen,  und  dann  erst  den 
anatomischen  Befund  damit  in  Einklang  bringen  zu  wollen,  ver- 
führten ihn  zu  zahlreichen  Fehlern.  Doch  muß  andererseits  hervor- 
gehoben werden,  daß  ihm  häufig  dieser  Mangel  selbst  zum  Bewußt- 
sein kam,  und  daß  er  in  solchen  Fällen  seine  Befunde  selbst  als 
h)^pothetisch  bezeichnet. 

Seine  Zergliederungstechnik  ist  eine  vortreffliche,  sie  weicht  von 
unserer  heutigen  dadurch  wesentlich  ab,  daß  anatomisches  Präpa- 
rieren an  der  Leiche  mit  vivisektorischen  Versuchen  häufig  innig 
verbunden  ist.  Sein  Material  waren  zum  größten  Teile  Tiere,  vor 
allem  der  Affe,  den  er  einmal  als  eine  „lächerliche  Nachbildung  des 
Menschen"  bezeichnet;  daneben  Schweine,  Hunde,  aber  auch  Löwen 


Galenos.  143 

Elefanten  usw.  Menschliche  Sektionen  hat  Galen  nur  ausnahms- 
weise vorgenommen,  im  Grunde  nur,  um  die  Richtigkeit  seiner  Be- 
funde am  Tier  und  die  Berechtigung,  sie  auf  den  Menschen  zu  über- 
tragen, nachzuprüfen. 

Bei  seinen  Zergliederungen  beschränkt  sich  Galen  nun  keines- 
wegs auf  die  Darstellung  der  äußeren  Form  der  einzelnen  Teile  und 
Organe,  er  sucht  vielmehr,  in  der  richtigen  Erkenntnis,  daß  die 
Funktion  eines  Körperteiles  von  seiner  feineren  Struktur  abhänge, 
auch  in  diese  einzudringen.  Hier  waren  ihm  dann  natürlich  ziem- 
lich enge  Grenzen  gesteckt  durch  das  Fehlen  jedes  optischen  Ver- 
größerungsmittels. Um  so  anerkennenswerter  sind  die  zahlreichen 
Befunde,  die  er  auf  Grund  seiner  Beobachtungen  mit  bloßem  Auge 
niedergelegt  hat.  So  sah  er  z.  B.  bereits,  daß  der  Muskel  außer  der 
sein  eigentliches  Wesen  ausmachenden  Grundsubstanz  noch  Binde- 
gewebsfasern und  die  Endausstrahlungen  der  Bewegungsnerven  ent- 
hält, er  erkannte  die  Zusammensetzung  der  Arterien,  der  Magen-, 
Darm-  und  Uteruswandung  aus  verschiedenen  Schichten,  er  verstand 
genau,  in  der  Niere,  der  Leber  usw.  die  diesen  Organen  eigentüm- 
liche spezifische  Substanz  von  den  Stützgeweben  und  den  Ader- 
geflechten zu  unterscheiden.  Kurzum,  seine  Anatomie  ist  durchaus 
nicht  nur  grobe  Anatomie,  sondern  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
auch  bereits  Histologie. 

Bei  dem  engen  Zusammenhange  seiner  anatomischen  und  physio- 
logischen Forschung  tritt  das  Konstruktive  seiner  Gedankengänge 
ganz  besonders  deutlich  in  seinen  Erwägungen  über  die  Funktion 
der  einzelnen  Körperteile  hervor.  Indem  er  davon  ausgeht,  daß 
man  aus  Analogien  der  äußeren  Form  und  des  Baues  auch  auf 
Uebereinstimmung  der  Funktionen  schließen  dürfe,  setzt  er  die 
Physiologie  aller  derjenigen  Tiere,  „welche  sich  vom  Menschen  nicht 
sehr  unterscheiden"  —  also  vor  allem  die  des  Affen  — ,  der  mensch- 
lichen in  vielen  Fällen  gleich.  Das  schließt  freilich  nicht  aus,  daß 
er  für  einzelne  Organe,  bei  denen  er  einen  derart  weitgehenden 
Parallelismus  selbst  für  unangebracht  hält,  auf  die  menschliche  Sektion 
ausdrücklich  zurückgreift.  So  sagt  er  gelegentlich  der  Besprechung 
des  Kehlkopfes:  „Uebrigens  ist  es  doch  wohl  notwendig,  daß  man 
bei  seinen  Studien  über  den  Kehlkopf  diesen  beim  toten  Menschen 
selbst  betrachte." 

Die  Hauptleistungen  Galens  in  der  Physiologie  liegen  auf  dem 
Gebiete  des  Experimentes.  Hatten  zwar  auch  schon  Forscher  vor 
ihm,  namentlich  die  großen  Alexandriner,  sich  des  Versuchs  am 
Lebenden  bedient,  so  kann  man  doch  erst  bei  Galen  von  einer 
wirklichen  Experimentalphysiologie  im  heutigen  Sinne  sprechen.  Ob- 
gleich   seine   Versuche    zu    einem    großen   Teile    unter   der   Vorein- 


144  Galenos. 

genommenheit  leiden,  mit  der  er  an  sie  herantrat,  so  zeugen  doch 
auch  wieder  viele  von  einem  tiefen  Wissensdrang  und  einer  genialen 
Veranlagung.  Die  Art,  wie  er  beispielsweise  Gehirn  und  Rücken- 
mark bei  lebenden  Tieren  zergliederte,  wie  er  dabei  die  entstehen- 
den Ausfallserscheinungen  beobachtete  und  daraus  seine  Schlüsse 
über  die  Funktionen  der  einzelnen  Nerven  und  Teile  des  Zentral- 
organs zog,  ist  bewunderungswert.  Und  es  ist  durchaus  nicht  richtig, 
immer  nur  auf  das  hinzuweisen,  was  Galen  nicht  oder  falsch  ge- 
sehen hat.  Sehr  anschaulich  zeigt  das  seine  Lehre  über  die  Blut- 
zirkulation, sie  läßt  besonders  deutlich  die  Vorzüge  und  Schatten- 
seiten seiner  Forschung  erkennen. 


Galens  Krankheitslehre  ist,  wenn  er  auch  bewußt  jede  Ein- 
seitigkeit zu  vermeiden  suchte,  vorwiegend  humoralpathologisch. 
Sie  erhebt  sich  über  sämtliche  früheren  Theorien  einzig  durch  die 
Folgerichtigkeit,  mit  der  sie  in  sein  Gesamtsystem  eingegliedert  ist. 
Das  Gleiche  gilt  von  seiner  Diagnostik  und  Prognostik,  welche  eben- 
falls in  äußerst  geschickter  Weise  das  bereits  Vorhandene  verarbeitet 
und  mit  seinen  theoretischen  Anschauungen  in  Einklang  bringt. 
Auch  seine  Therapie  bedeutet  an  sich  nichts  Neues :  sie  weist  weder 
neue  Indikationen  noch  bis  dahin  unbekannte  Behandlungsarten  und 
Mittel  auf.  Auf  dem  Gebiete  der  Chirurgie,  Frauenheilkunde  und 
Geburtshilfe  bleibt  er  sogar  hinter  manchem  weniger  bedeutenden 
Arzte  zurück. 

Und  doch:  wenn  man  die  Leistungen  Gälens  als  Ganzes  nimmt, 
so  waren  sie  nicht  nur  im  Rahmen  seiner  Zeit  etwas  Außergewöhn- 
liches, ja  Ungeheuerliches,  sondern  man  versteht  ohne  weiteres,  daß 
der  Einfluß  seiner  Gedanken  sich  über  anderthalb  Jahrtausende 
lebendig  zu  erhalten  vermochte.  Es  war  eben  ein  Wille,  der  die 
zahlreichen  Quellen  der  antiken  Medizin  in  ein  Bett  zusammenzwang, 
es  war  eine  einheitliche  Weltanschauung,  welche  die  heterogensten 
Ideen  sich  dienstbar  machte.  So  erschien  Galen  den  späteren 
Aerzten  als  das  gewaltige  Sammelbecken,  in  dem  alle  Kenntnisse 
und  Erfahrungen  der  alten  Aerzte  sich  vereinigt  fanden,  in  dem  der 
Schlamm  der  Jahrhunderte  alten  Entwicklung  sich  zu  Boden  gesetzt 
hatte  und  ein  klarer  Spiegel  einen  kristallhellen  See  bedeckte,  aus 
dem  man  überall  mühelos  schöpfen  konnte. 

Nicht  mit  Unrecht  rühmt  sich  daher  Galen  selbst,  er  habe  — 
ähnlich  wie  Trajan  die  Heerstraßen  des  römischen  Reiches  —  die 
Bahn,  welche  Hippokrates  nur  angelegt  habe,  erst  eben  und  gang- 
bar gemacht.  Und  wenn  Galen  auch  teils  wegen  seiner  im  per- 
sönlichen Verkehr  oft  geradezu  abstoßenden  Eigenschaften,  teils,  weil 


Galenos.  1 45 

er  —  wie  viele  bedeutenden  Leute  —  von  seinen  Zeitgenossen  nicht 
in  allem  verstanden  wurde,  wenig  unmittelbare  Schüler  besaß,  so 
haben  doch  seine  Werke  einen  Einfluß  auf  die  Entwicklung  der 
Medizin  ausgeübt,  wie  ihn  kein  Arzt  vor  oder  nach  ihm  wieder  er- 
reicht hat.  Und  dieser  ungeheure,  fast  suggestiv  wirkende  Einfluß 
erklärt  es  vor  allem  anderen,  daß  mit  Galen  nicht  nur  ein  neuer 
Höhepunkt  der  antiken  Medizin  erreicht  ist,  sondern  gleichzeitig  ihr 
eigentliches  Endglied. 


Merer-Steineg  u.  Sudhoff,  Illustr.  Geschichte  der  Medizia. 


Das  Aerztewesen  der  römischen  Kaiserzeit. 

Während  nun  in  der  Zeit  nach  Galen  die  eigentliche  medi- 
zinische Entwicklung  zum  Stillstande  kommt,  geht  der  Ausbau  des 
Aerztewesens  in  den  am  Ende  der  Republik  begonnenen  Bahnen 
weiter.  Der  nächste  wichtige  Schritt,  der  auf  die  Einreihung  der 
in  Rom  berufstätigen  Aerzte  unter  die  Vollbürger  durch  AuGUSTUS 
folgte,  war  ein  Erlaß  Hadrians  im  Jahre  1 1 7  n.  Chr.,  durch  den 
er  allen  „medici"  sehr  wichtige  Vorrechte:  Befreiung  von  allen 
Kommunalabgaben,  von  lästigen  Aemtern,  von  der  Heerespflicht 
usw.  gewährte.  Diese  außerordentlich  weitgehende  Vergünstigung 
wurde  zwar  durch  Antoninus  Pius  auf  eine  für  jeden  Bezirk  fest- 
gelegte Höchstzahl  von  Aerzten  eingeschränkt.  Ausnahmen  wurden 
nur  bei  besonders  hervorragenden  Leistungen  gemacht.  Der  ursprüng- 
liche Sinn  des  von  Antoninus  geschaffenen  „numerus"  der  bevor- 
rechteten Aerzte  wurde  dann  unter  Septimius  Severus  dahin  ab- 
geändert, daß  nur  noch  derjenige  Arzt,  der  eine  staatliche  Appro- 
bation aufweisen  konnte  (a  republica  probatus),  zu  den  wahren  „me- 
dici" gerechnet  wurde.  Diese  behördliche  Genehmigung  aber  wurde 
von  dem  Stadtrat  und  der  Vertretung  der  eingesessenen  Bürger- 
schaft der  betreffenden  Gemeinde  erteilt. 

Dieses  Verfahren  hatte  den  großen  Nachteil,  daß  die  Beurtei- 
lung der  Leistungen  des  zu  approbierenden  Arztes  ausschließlich 
Laien  oblag.  Der  Grund  dafür  bestand  vor  allem  in  dem  Fehlen 
jeder  staatlichen  Regelung  des  medizinischen  Unterrichts;  denn 
dieser  war  nach  wie  vor  eine  ausschließlich  private  Angelegenheit 
der  Aerzte  selbst.  Dieses  Charakters  wurde  er  zum  ersten  Male 
durch  Alexander  Severus  entkleidet,  der  in  der  Erkenntnis  der 
großen  Wichtigkeit  dieser  Frage  für  das  gesamte  Heilwesen  den 
Aerzten  besondere  öffentliche  Hörsäle  einräumte,  ferner  denen,  die 
als  Lehrer  tätig  sein  wollten,  Gehalt,  und  bedürftigen  Schülern  der 
Medizin  Unterstützungen  gewährte.  Damit  war  der  medizinische 
Unterricht  zu  einer  öffentlichen  Angelegenheit  geworden. 

Auch  eine  weitere  wichtige  Seite  der  ärztlichen  Berufsübung 
erfuhr  ihre  Regelung:  das  Honorarwesen. 

Die  Auffassung  der  Heilkunde  als  einer  „ars  liberalis"  hatte  zur 
Folge,  daß  die  Leistungen  der  Aerzte  an  sich  nach  römischem  Recht 


Das  Aerztewesen  der  römischen  Kaiserzeit.  147 

keinerlei  gesetzmäßigen  Anspruch  auf  Entgelt  begründeten.  Zahlte 
der  Kranke  ein  solches  freiwillig,  so  geschah  dieses  eben  als  „hono- 
rarium"  im  wahren  Sinne  des  Wortes,  d.  h.  nur  ehrenhalber,  zur  Be- 
zeugung seiner  Erkenntlichkeit.  Diesem  unhaltbaren  Zustande,  der 
den  Arzt  gänzlich  von  dem  Wohlwollen  seines  Patienten  abhängig 
sein  ließ,  machte  dann  eine  kaiserliche  Verordnung  ein  Ende,  welche 
dem  Arzt  die  Einklagung  seiner  Forderung  durch  ein  abgekürztes 
„außerordentliches  Gerichtsverfahren"  ermöglichte.  In  Zweifelsfällen 
scheint  dabei  bezüglich  der  Höhe  des  Honorars  eine  Art  Mindesttaxe 
zugrunde  gelegt  worden  zu  sein.  Daß  die  Aerzte  namentlich  in  der 
späteren  Kaiserzeit  zum  Teil  selbst  für  unsere  heutigen  Verhältnisse 
außerordentlich  hohe  Einnahmen  gehabt  haben,  ist  vielfach  bezeugt.  Und 
der  —  freilich  erst  viel  später  geprägte  —  Satz :  „dat  Galenus  opes,  dat 
Justinianus  honores"  hat  schon  damals  vollkommen  zu  Recht  bestanden. 

Aber  auch  an  äußeren  Ehren  fehlte  es  den  Aerzten  der  römischen 
Kaiserzeit  keineswegs.  Genossen  sie  schon  durch  ihre  mannigfachen 
Vorrechte  eine  gewisse  Ausnahmestellung,  so  wurde  ihr  Ansehen 
noch  erhöht  durch  einen  besonderen  strafrechtlichen  Schutz,  der 
ihnen  gegen  Beleidigungen  und  Belästigungen  jeder  Art  gewährt 
wurde.  Namentlich  galt  dieses  für  die  verschiedenen  Kategorien 
der  beamteten  Aerzte,  welche  nach  und  nach  geschaffen  wurden ;  am 
wenigsten  merkwürdigerweise  für  die  Militärärzte.  Seitdem  AuGUSTUS 
bei  seiner  Reorganisation  des  Heeres  zum  ersten  Male  in  dessen 
Rangordnung  auch  Aerzte  einreihte,  blieben  diese  dauernd  ein  inte- 
grierender Bestandteil  des  Heeres.  Als  die  eigentlichen  Militärärzte 
erscheinen  vor  allem  die  „medici  legionis".  Diese  waren  zum  größten 
Teil  in  Reih  und  Glied  einrangierte  Soldaten,  gehörten  zu  den 
unteren  Chargen  und  hatten  die  Tribunen  der  Legion  zu  Vorgesetzten. 

Eine  weit  höhere  Stellung  nahmen  die  Aerzte  derjenigen  Truppen- 
teile ein,  welche  in  der  Hauptstadt  in  Garnison  lagen,  vor  allem  die 
bei  den  Prätorianern  Diensttuenden,  dann  aber  auch  die  Aerzte  der 
zum  Schutze  Roms  bestimmten  „cohors  urbana",  und  der  Polizei- 
truppen. Doch  darf  man  als  sicher  annehmen,  daß  neben  den  eigent- 
lichen Truppenärzten  angesehene  freie  Aerzte  beim  Heer  tätig  waren, 
die,  ohne  in  einem  bestimmten  Rangverhältnis  zu  stehen,  diesem  ihre 
Dienste  widmeten,  vielleicht  in  ähnlicher  Weise  wie  heute  die  so- 
genannten „beratenden  Aerzte". 

Wenn  sich  auch  die  Notwendigkeit  zur  Anstellung  beamteter 
Aerzte  vielleicht  am  stärksten  beim  Heere  fühlbar  gemacht  haben 
wird,  so  nahm  doch  auch  bei  anderen  Organisationen  die  Anstellung 
von  Aerzten  in  der  römischen  Kaiserzeit  immer  mehr  an  Umfang 
zu.  Alle  öffenüichen  Institute,  die  ein  größeres  Personal  beschäf- 
tigten,   scheinen   ihre   eigenen   beamteten    Aerzte  gehabt  zu   haben, 


148  Das  Aerztewesen  der  römischen  Kaiserzeit. 

z.  B.  die  öffentlichen  Bibliotheken,  die  lukullischen  Gärten,  die  Gla- 
diatorenschulen u.  a.  m.  Auch  Theater-  und  Zirkusärzte  gab  es,  denen 
die  ärztliche  Betreuung  der  Schauspieler,  aber  auch  die  Behandlung 
der  während  einer  Vorstellung  erkrankenden  Zuschauer  oblag.  Ja 
auch  eine  Art  von  „Kassenärzten"  waren  vorhanden ;  so  kennen  wir 
Aerzte  der  Schmiedezunft,  der  Webergilde  usw.  Auch  die  von  den 
Griechen  geschaffene  Einrichtung  der  Gemeindeärzte  wurde  von  den 
römischen  Kaisern  in  den  Gebieten,  wo  sie  bestand,  unberührt  ge- 
lassen; auch  ihre  Amtsbezeichnung,  welche  in  hellenistischer  Zeit 
„ap/taxpöc"  lautete,  wurde  beibehalten.  Allmählich  wurde  dann  die 
Archiatrie  eine  ständige  Einrichtung  in  allen  Teilen  des  römischen 
Reiches,  und  die  Funktionen  der  einzelnen  Archiater  scheinen  ganz 
denen  unserer  Bezirksärzte  entsprochen  zu  haben.  Eine  besondere 
Bedeutung  erlangte  die  Archiatrie  für  die  weitere  Ausbildung  des 
medizinischen  Unterrichts.  Wenn  auch  bereits  Galenos  (im  2.  Jahr- 
hundert n.  Chr.)  die  „vorschriftsmäßige"  von  der  banausen  Ausbil- 
dung der  Jünger  des  Asklepios  unterschied,  so  war  dennoch  der 
Unterricht  immer  noch  Privatsache.  Erst  als  die  Lehrer  der  Medizin 
zum  größten  Teile  zu  Staatsbeamten  geworden  (wahrscheinlich  im  3.  Jahr- 
hundert n.  Chr.),  der  Studiengang  geregelt  und  das  Archiaterkollegium 
mit  der  Prüfung  der  angehenden  Aerzte  betraut  worden  war,  konnte  man 
von  einer  gesetzlichen  Grundlage  der  ärztlichen  Ausbildung  sprechen. 

Neben  den  Aerzten,  welche  die  gesamte  Heilkunde  ausübten, 
machte  sich  in  der  römischen  Kaiserzeit  in  immer  zunehmendem 
Umfange  ein  ausgedehntes  Spezialistentum  breit.  Teils  des  leichteren 
Gewinnes,  teils  der  bequemeren  Berufsausübung  wegen,  zu  einem 
anderen  Teile  aber  wohl  auch  einer  natürlichen  Entwicklung  folgend, 
zweigten  sich  alle  möglichen  Sondergebiete  von  der  Medizin  ab.  Zu 
Galens  Zeit  —  im  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  —  gab  es  schon  kaum 
mehr  eine  ärztliche  Verrichtung,  welche  nicht  als  Spezialfach  aus- 
geübt worden  wäre.  So  waren  zahlreiche  Augen-,  Ohren-,  Zahn- 
ärzte vorhanden,  andere  behandelten  ausschließlich  Fistelleiden,  andere 
nur  Blasenkrankheiten,  wieder  andere  führten  nur  bestimmte  chirur- 
gische Eingriffe  aus,  wie  den  Bauchstich,  die  Stein-  oder  Bruch- 
operation, noch  andere  beschränkten  sich  auf  eine  einzige  Behand- 
lungsmethode, wie  die  Wasser-,  Weinärzte  u.  a.  m.  Auch  zu  Vereinen 
schlössen  sich  die  Aerzte  zusammen. 

Während  also  mit  dem  2.  Jahrhundert  n.  Chr.  die  Entwicklung 
der  Medizin  für  lange  Zeit  zu  einem  Abschluß  gekommen  war,  so 
erlebte  der  Aerztestand  sowohl  was  seine  Ausbildung  wie  sein  An- 
sehen anbetraf,  gerade  in  den  folgenden  Jahrhunderten  noch  eine 
Blüte,  wie  er  sie  dann  erst  wieder  viel  später  zu  erreichen  vermochte. 


IL  Teil. 

Die  mittlere  Zeit 

vom  Tode  des  Galenos  bis  zu 

Bacon  von  Verulam. 

Ein  geschichtlicher  Ueberblick 
von 

Karl  Sudhoff. 


Neque  ridere,  neque  flere,  nee  detestari,  sed  intelligere. 

Spinoza. 


Nachleben   der  Griechenmedizin   im  Ostreich   und 
erste  Wiedergeburt  im  Reiche  des  Islam. 

Mit  Galexos  hatte  der  forschende  und  erkennende  Griechen- 
geist in  der  Heilkunde  seinen  letzten  großen  Zeugen  verloren.  Wie 
ein  flammend  Abendrot  leuchtete  er  lange  nach,  ein  glühend  Weg- 
zeichen für  viele  Jahrhunderte.  Aber  kein  Grieche  und  kein  Römer 
ist  mehr  bis  zu  seiner  ragenden  Forscherhöhe  vorgedrungen.  Ja 
nicht  einmal  als  Wegzeichen  hat  man  ihn  zunächst  allenthalben 
gelten  lassen  wollen  — 

Oo  TravTÖ!;  av5p6?  i?  raXr,vöv  lad'  6  izkoÖQ  — 
Nicht  jeder  setzt  die  Segel  auf  Galenos'  Ziel! 

Mit  dem  echten  Forschen  eines  Herophilos  und  Erasistratos 
und  all  ihrer  namhaften  alexandrinischen  Nachfahren  war  es  mit  dem 
3.  Jahrhundert  endgültig  vorbei.  Alexandreia  lebte  wohl  noch  als 
Lehrstätte  bescheiden  dahin  neben  Athen  und  Rom,  aber  der  Trieb 
des  ei  gen  wüchsigen  Ergründens  auf  selbst  eingeschlagenen  Wegen 
war  verdorrt.  Nur  Sammeln,  rückschauendes  Ueberblicken  einer 
bald  tausendjährigen  Entwicklung  —  zu  vorher  bei  keinem  Volke 
auch  nur  erahnter  Höhe  einer  Erfahrungs-  und  Beobachtungswissen- 
schaft unter  experimenteller  Nachprüfung  auf  allen  Erkenntnisstufen 
—  nur  Sammeln  war  noch  die  Losung  der  Epigonen.  Die  nur  noch 
aufnehmende  Bewunderung  war  mit  Unfruchtbarkeit  geschlagen. 
Ihr  wohnte  nicht  mehr  der  zeugende  Trieb  zu  eigenem  Nach-  und 
Weiterschaffen  inne.  Zusammentragen  und  Registrieren  gab  schon 
Befriedigung;  ordnendes  Formgeben  war  die  höchste  Staffel,  die 
man  nur  selten  noch  erstieg.  Die  hippokratische  Renaissance  eines 
Galenos,  die  sich  nur  an  dem  großen  Koer,  am  Kar}stier,  an 
Platon,  Aristoteles,  Herophilos,  Erasistratos  maß,  wurde 
durch  den  unumschränkt  herrschenden  Enzyklopädismus  abgelöst, 
der  freilich  auch  noch  achtungsgebietende  Vertreter  in  der  Medizin 
aufzuweisen  wußte. 

Allmählich  hat  sich  überhaupt  die  Form  der  literarischen  Pro- 
duktion geändert,  eine  Umgestaltung,  die  auch  das  Wesen  schrift- 
stellerischen Schaffens  beeinflußte.     Die  Buchrolle,  die  wie  die  klas- 


1^2  -Nachleben  der  Griechenmedizin  im  Ostreich 

sische  Hochblüte  des  Hellenentums  auch  die  Weltenweitung  der 
hellenistischen  Zeit  beherrscht  hatte,  wurde  seit  dem  Ende  des  4.  Jahr- 
hunderts durch  den  Pergamentkodex  entthront,  den  der  Schrift- 
stellernde  auch  in  der  Mehrzahl  bequem  beim  Zusammenstellen  seines 
„Werkes"  neben  und  um  sich  legen  konnte  zum  wörtlichen  Ab- 
schreiben der  gewünschten  Abschnitte,  während  die  Buchrolle  ein 
umständliches  Diktieren  unter  Zuhilfenahme  einer  größeren  Anzahl 
von  Gehilfen  erfordert  hatte,  falls  man  sich  nicht  der  üblichen  un- 
gefähren Zitierung  aus  dem  Gedächtnis  bediente,  die  ein  tieferes 
Vertrautsein  mit  den  Quellen,  eine  völligere  Aufnahme  in  sich  er- 
forderte und  eine  freiere  Wiedervonsichgabe  auslöste. 

Ein  typisches  Beispiel  des  Aneinanderreihens  gleichsam  mit  der 
Schere  zurechtgeschnittener  Textstücke  aus  den  Werken  großer  Vor- 
gänger, wenn  auch  in  selbstgewählter  Ordnung  und  Gliederung  gibt 
schon  der  Pergamener  OREIBA.SIOS,  der  in  der  zweiten  Hälfte  des 
4.  Jahrhunderts  unserer  Zeitrechnung  durch  seinen  Freund  und 
Gönner,  den  Kaiser  JULIANOS  —  der  dem  neuen  Wesen,  das  KoN- 
STANTINOS  begünstigt  hatte,  abhold  war,  eine  Restauration  alten 
Griechenglaubens  erstrebte  und  dabei  die  Heilandsgestalt  des  Heil- 
gottes Asklepios  in  die  Mitte  stellte  —  die  nachdrückliche  Anregung 
erhielt,  in  einem  großen  Werke  das  Wertvollste  griechischen  Aerzte- 
wissens  zusammenzustellen.  Leider  sind  uns  diese  Sova^wY"^^  i^i 
72  Büchern  nur  zum  kleinsten  Teil  erhalten,  die  in  ihren  vorhandenen 
Resten  erkennen  lassen,  wie  es  vor  allem  sein  Landsmann  Galenos 
war,  den  sich  Oreibasios  erkoren  hatte  und  nun  auf  den  Schild 
hob,  neben  ihm  vor  allen  die  großen  Pneumatiker  Archigenes  und 
Athenaios,  ferner  Philumenos,  Herodotos  und  Rufos,  sowie 
die  Chirurgen  Antyllos  und  Heliodoros,  neben  Dioskurides, 
DiOKLES  und  Demosthenes.  Von  den  meisten  dieser  großen  Aerzte 
wissen  wir  Authentisches  fast  ausschließlich  durch  die  Auszüge,  welche 
Oreibasios  aus  ihnen  in  seinen  „Collectiones  medicae"  gibt. 

Dies  große  Sammelwerk  des  Oreibasios  ist  es  aber  vor  allem 
auch  gewesen,  welches  2  Jahrhunderte  nach  ihrer  Verabfassung  die 
Werke  des  großen  Pergameners  Galenos  für  alle  Zeiten  als  die 
führende  Hinterlassenschaft  aus  der  medizinischen  Antike  aufstellte 
und  darwies.  Es  scheint  vollendet  gewesen,  als  Oreibasios  mit 
dem  Tode  seines  Herrn  {363  n.  Chr.)  aus  Byzanz  verwiesen  wurde 
und  zu  den  Goten  floh,  die  im  heutigen  Bulgarien  fast  vor  den 
Toren  Konstantinopels  saßen  und  den  Arzt  des  Kaisers  freundlich 
aufnahmen.  Begnadigt  und  in  seine  Güter  wieder  eingesetzt  hat 
Oreibasios  dann  für  seinen  ärztlichen  Sohn  Eustathios  in  einem 
Auszug  dcis  Wesentliche  seiner  großen  Sammelschrift  zusammen- 
gefaßt, welche„Synopsis"  wir  neben  einem  Buche  über  allenthalben 


und  erste  Wiedergeburt  im  Reiche  des  Islam.  153 

bequem  zu  erreichende  Gebrauchsmittel  in  der  täglichen  Praxis 
(„Euporista")  heute  noch  vollständig  besitzen.  Ja,  diesem  und  dem 
synoptischen  Auszug  des  umfänglichen  Nachschlagewerkes  wurde 
frühe  schon,  wohl  noch  im  5.  Jahrhundert,  die  Uebertragung  in  das 
Lateinische  zuteil,  und  der  .,Urivasius"  als  medizinischer  Quellenautor 
war  —  wirkhch  und  angeblich  benutzt  —  in  Karolingerzeiten  dem 
Abendlande  in  gewissem  Grade  noch  geläufig. 

Weniger  offensichtig,  als  Kompilationen  schon  äußerUch  er- 
kennbar, waren  die  Werke  einiger  großen  medizinischen  En- 
zyklopädisten des  Ostreiches  im  6.  und  7.  Jahrhundert.  Aus  Amida 
in  Mesopotamien  stammte  Aetios,  dessen  16  Bücher  (.die  Tetrabiblos) 
auch  nichts  weiter  sind  als  eine  simple  Aneinanderreihung  von  Aus- 
zügen aus  Oreibasios,  Galenos,  Philumexos  und  zahlreichen 
anderen  Autoren  der  späteren  Griechenmedizin.  Wollen  wir  diese 
wichtige  Gesamtdarstellung  des  griechischen  Heilwissens  kennen 
lernen ,  so  sind  wir  für  ihre  zweite  Hälfte  auf  ein  der  beiden 
Latinisierungen  aus  den  Tagen  der  Renaissance  und  des  Humanismus 
oder  auf  die  Handschriften  angewiesen,  da  von  den  Büchern  9 — 16 
nur  einige  in  Sonderausgaben  griechisch  publiziert  sind.  Aetios'  Zeit- 
genosse Alexaxdros  aus  Tralleis  am  Pontus,  Sohn  eines  Arztes 
und  Bruder  des  Erbauers  der  Sophienkirche,  kam  erst  hochbetagt 
dazu,  in  Rom  sein  medizinisches  Wissen  schriftstellerisch  festzulegen, 
wohin  ihn  ein  Machthaber,  vielleicht  der  sonst  der  antikten  Wissen- 
schaft recht  wenig  geneigte  Papst  Gregor  der  Große  (590 — 604),  in 
der  Xot  von  Pestjahren  berufen  hatte.  Sein  Werk  in  12  Büchern 
galt  mit  Unrecht  lange  für  selbständigere  Eigenarbeit,  ist  aber  heute 
in  seiner  Kompilatorenabhängigkeit  erkannt,  auch  nicht  frei  vom 
Aberglauben  seiner  Zeit.  Ein  frühe  schon  hergestellter  Auszug  in 
lateinischer  Sprache,  in  3  Büchern  eingeteilt,  ward  im  ganzen  Mittel- 
alter gelegentlich  benutzt  und  als  „Alexander  latros"  früh  in  Druck 
gelegt. 

Als  letzter  vor  der  Araberherrschaft  gepriesener  Arzt  der  griechi- 
schen Antike  und  mit  Recht  geschätzter  Schriftsteller  ist  Paulos 
aus  Aigina  zu  nennen,  der  ein  Werk  in  7  Büchern  verfaßt  hat  und 
in  Alexandreia  wirkte,  als  diese  berühmteste  aller  ärztlichen  Lehr- 
stellen ferner  Vergangenheit  nach  fast  tausendjähriger  Blüte  in  die 
Hände  der  aufstrebenden  und  wissenshungrigen  Araber  fiel,  nicht 
durch  Eroberung,  sondern  durch  Vereinbarung  unter  Abzug  der 
byzantinischen  Behörden,  Paulos  ist  in  Alexandrien  verblieben 
und  stand  bei  den  Ankömmlingen  bald  in  hohen  Ehren,  die  auch 
das  mitüberkommene  literarische  Gut  in  den  dortigen  Bibliotheken 
zu  schätzen  wußten,  soweit  es  den  Wechselfällen  der  letztvergangenen 
Jahrhunderte    widerstanden    hatte.     Daß    der   Islam    die    berühmten 


154 


Nachleben  der  Griechenmedizin  im  Ostreich 


Bibliotheken  der  Handels-  und  Wissensmetropole  im  Westzipfel  des 
Nildeltas,  soweit  sie  noch  vorhanden  waren,  643  hätte  in  Rauch  auf- 
gehen lassen,  ist  eine  böswilhge  Fabel.  Von  den  7  Büchern  des 
Paulos  schätzen  wir  heute  das  6.,  welches  die  Chirurgie  enthält, 
besonders  hoch,  weil  Antyllos  verloren  ist;  und  auch  den  Arabern 
galt  Paulos  besonders  als  Chirurg  und  Geburtshelfer  und  als  Lehrer 
dieser  Kunst,  Sein  Buch  hat  uns  trotz  aller  Klarheit  und  Selbständig- 
keit der  Darstellung  und  aller  überall  vorleuchtender  eigener  Ver- 
trautheit mit  seinem  Stoffe  doch  nur  als  prägnanter  Ausdruck  spät- 
alexandrinischen  Wissens  in  der  Wundheilkunst  zu  gelten.  Dem 
Orient  war  der  ganze  PAULOS  früh  bekannt  und  wohlvertraut.  Im 
Abendlande  war  lange  Zeit  nur  das  3.  Buch  zugänglich,  das  wohl 
schon  im  8.  Jahrhundert  ins  Lateinische  übersetzt  wurde.  Es  enthält 
eine  spezielle  Pathologie  und  Therapie  vom  Kopfe  zu  den  Füßen 
und  half,  den  Namen  des  Aigineten  durch  das  ganze  abendländische 
Mittelalter  in  Ehren  zu  halten.  Die  anderen  Bücher  behandeln 
Hygiene  und  Diätetik,  allgemeine  Pathologie,  Fieberlehre  und 
Symptomatologie ,  Hautaffektionen ,  Toxikologie  und  Arzneimittel- 
lehre, alles  nach  der  eigenen  Angabe  des  Paulos,  soweit  es  theoreti- 
scher Natur  ist,  den  Vorgängern  entnommen,  namentlich  dem  Galenos 
und  Oreibasios  ;  nur  in  die  praktischen  Abschnitte  sind  auch  eigene 
Erfahrungen  mitaufgenommen. 

Die  genannten  vier  Autoren,  Oreibasios,  Aetios,  Alexandros 
und  Paulos  stellen  die  Höhepunkte  ärztlichen  Wissens  in  den  Spät- 
zeiten der  Antike  dar.  Nachklänge  guter  Tradition  in  byzantinischer 
Zeit  bis  zum  Aufkommen  der  Arabermacht.  Sie  hatten  sich  im 
wesentlichen  freigehalten  von  dem  allerorten  wild  wuchernden  Aber- 
glauben, auch  medizinischer  Art,  der,  wie  die  astrologische  Irrlehre 
der  sogenannten  latromathematik ,  in  Alexandrien  wohl  auch  ein 
Gelehrtengewand  angezogen  hatte  in  den  Tagen  des  Späthellenismus. 
Uebersehen  darf  man  neben  diesen  Wortführern  des  Enzyklopädismus 
nicht  das  bescheidenere  wissenschaftliche  Leben  an  anderen  Punkten 
des  Ostens  zurzeit  der  zu  Ende  gehenden  Römerherrschaft,  als  nicht 
nur  politisch  die  Randregionen  des  alten  Imperiums  anfingen,  ihr 
eigenes  Leben  zu  führen  und  die  Kaiserheere  nur  vorübergehend 
noch  den  Zusammenhang  wieder  zu  knüpfen  suchten.  Die  Lehr- 
stellen des  Ostens  abseits  Alexandreia,  vom  neuen  Reichszentrum 
Byzanz  nur  zeitweilig  gestört  und  niemals  in  geistige  Abhängigkeit 
von  dort  gezwungen,  hatten  ihr  eigenständiges  Dasein,  ihr  bescheidenes 
Blühen,  wurzelnd  im  nahrhaften  Humusboden  angeschwemmten 
Griechenwissens  in  Syrien,  Mesopotamien  und  dem  westlichen  Iran, 
im  Berglande  des  alten  Elam. 


und  erste  Wiedergeburt  im  Reiche  des  Islam.  155 

Auch  sprachlich  machten  sich  die  alten  Schulen  in  Xisibis,  Edessa 
und  Gondeschäpür  allmählich  vom  Griechischen  unabhängig.  Die 
Philosophen-  und  Aerzteschulen,  christhch,  aber  gegen  Byzanr  ge- 
sehen heterodox,  und  mit  Altjüdischem  teilweise  durchsetzt,  ent- 
falteten jahrhundertelang  eifrige  Uebersetzertätigkeit  ins  Syrische. 
Syrisch  war  auch  anfänglich  die  Lehrsprache  im  persischen  Gonde- 
schäpür zwischen  den  Bergketten  des  Westrandes  von  Iran,  bis  das 
mittelpersische  Idiom  das  semitische  ablöste.  Namentlich  die  Medizin 
wurde  neben  Mathematik,  Astronomie,  Naturwissenschaft  und  Philo- 
sophie an  diesen  Hochschulen  Vorderasiens  gepflegt  und  Gonde- 
schäpür errang  sich  bald  den  Ehrennamen  einer  „Academia  Hippo- 
cratica". 

Von  syrischen  Uebersetzungen  medizinischer  Schriften  aus  dem 
klassischen  Altertum  sind  heute  noch  nachweisbar  unter  anderen  die 
hippokratischen  Aphorismen,  von  Galexos  die  Ars  parva,  Teile  der 
Schriften  über  die  Eigenschaften  der  Nahrungsmittel,  über  einfache 
Arzneimittel  und  über  die  kranken  Körperstellen.  So  war  auch 
außerhalb  Alexandreia  der  Kulturboden  für  das  junge  Arabertum 
medizinisch-wissenschaftlich  einigermaßen  vorbereitet,  als  es  unter 
dem  2.  Kalifen  Omar  von  Osten  her  Syrien  und  Palästina  einnahm. 

Aber  nicht  nur  die  medizinische  Wissenschaft  aus  der  Antike 
wartete  in  Vorderasien  der  jungen  Betätigungskraft  des  Islam.  Auch 
für  die  praktische  Pflege  der  heilenden  Künste  war  der  Boden  dort 
durch  die  erbarmende  Karitas  des  jungen  Christentums  in  ganz 
besonderer  Weise  vorbereitet.  Das  Krankenpflegewesen,  das  in  der 
ausgehenden  Antike  auch  über  die  Wartung  in  der  Familie  schon 
etwas  hinausgewachsen  war  in  den  Sklaven  scharen  der  Latifundien- 
besitzer und  Großindustriellen  wie  in  den  Valetudinarien  der  Heere 
und  Standlager,  hatte  im  Christentum  ungeahnte  Auftriebe  erfahren, 
die  der  Asklepiosverehrer  Julianos  auf  dem  Kaiserthrone  seinen 
Glaubensgenossen,  ja  dem  ganzen  Volke  der  Heiden  als  nach- 
eiferungswürdiges  Beispiel  vorhielt.  Und  gerade  in  den  zunächst 
dem  vorwärtsdrängenden  Arabertum  sich  bietenden  Regionen  waren 
seit  dem  4.  Jahrhundert  besonders  rühmliche  Einrichtimgen  im 
Krankenhaus-  und  Pflegewesen  geschaffen.  Bei  Kaisareia  hatte 
Basileios  der  Große  (370 — 379)  eine  vöUige  Krankenstadt  mit  Trans- 
portgelegenheit und  Arzt  Versorgung,  Isolierhäusern  usw.  eingerichtet, 
die  weltberühmte  „Basilias".  Einen  besonders  hohen  Stand  der 
Ausbildung  errang  allerdings  das  Krankenhauswesen  in  Konstan- 
tinopel, wo  sich  eine  große  Zahl  von  Pflegeanstalten  aller  Arten 
und  Zwecke  durch  fromme  Stiftungen  bildeten  und  in  den  Kranken- 
häusern besondere  Abteilungen  für  chirurgische  und  Fieberkranke 
mit   dirigierenden  und  Oberärzten,  mit  regelmäßigem  Dienstwechsel 


1^6  Nachleben  der  Griechenmedizin  im  Ostreich 

und  einem  Heere  ausgebildeter  Pfleger  und  Pflegerinnen  allmählich 
entstanden. 

Zunächst  war  Syrien  der  Mittelpunkt  griechisch-arabischer  Me- 
dizin, namentlich  als  Damask  der  Sitz  des  Kalifats  der  Umaijaden  ge- 
worden war.  Von  dort  aus  gingen  die  Ausbreitungsbestrebungen 
des  Islam  mit  Macht  wieder  nach  Osten,  aber  die  Unterjochung  des 
hochkultivierten  Persertums  gelang  nur  unvollkommen;  die  Abba- 
siden  begnügten  sich  schließlich  mit  einem  Ausgleich,  zu  dessen 
Sitz  die  neue  Residenz  Bagdad  (gegr.  766)  am  Tigris  gemacht  wurde. 
Das  Persertum,  wenn  auch  in  arabischer  Sprache,  blieb  immer  ein 
hochwichtiger  kulureller  Faktor,  namentlich  auch  in  der  Medizin  des 
Islam.  In  Gondeschäpür  wurde  zwar  allmählich  das  Arabische 
Unterrichtssprache,  aber  gerade  die  größten  Aerztegestalten  des 
Islam,  die  der  Medizin  des  Islam  einen  Ewigkeitswert  gesichert 
haben:  AR  RÄzi,  'Ali  ibn  al  'AbbIs  und  ibn  Sinä  sind  Perser 
gewesen. 

Noch  halb  im  Dunkel  stehen  die  ersten  Zeiten  islamischer  Heil- 
kunde, in  der  die  nestorianische  Aerztefamilie  der  Bachtischuah,  be- 
sonders in  ihrem  größten  Mitglied  DSCHIBRAL  (Gabriel)  blühte.  Neben 
den  Nestorianern  waren  besonders  die  Juden  Vermittler  griechischen 
Aerztewissens,  wofür  das  hebräische  Aerztebuch  eines  ASAF  aus 
dem  8.  oder  g.  Jahrhundert  einen  Beleg  bringt,  das  älteste  Medizin- 
buch eines  jüdischen  Verfassers.  Zur  Zeit  des  berühmten  Kalifen 
Harun  ar-Raschid  (789—809)  wirkte  Jühannä  ibn  Masawaihi, 
„Johannes  Mesue  der  Aeltere"  genannt  (777 — 857),  im  Gegensatz  zu 
einem  Pseudonymen  Mesue  dem  Jüngeren,  unter  dessen  Namen  im 
13.  Jahrhundert  Schriften  abendländischen  Ursprungs  ausgingen.  Jü- 
hannä IBN  Masawaihi,  auch  „Janus  Damascenus"  genannt,  soll  vieles 
griechische  Aerztegut  ins  Arabische  übersetzt  haben ;  als  sein  eigenes 
Werk  gelten  Aphorismen.  Die  umfänglichste  Aneignung  griechischer 
Heilkunde  vermittelte  neben  anderen  schließlich  Hunain  Ibn  IshäQ, 
genannt  „Johannitius"  (809  —  873),  und  seine  Schule,  auch  er  nestoria- 
nischer  Christ.  Ihm  selbst  verdanken  wir  Aphorismen,  Prognostik 
und  Hebdomaden  des  Hippokrates,  Anatomisches,  Fieberlehre,  Krisen 
und  kritische  Tage  des  Galenos.  Von  seinen  Schülern  ließ  er  von 
hippokratischen  Schriften  die  Epidemien,  Aerztewerkstatt,  Eid,  Gesetz 
bearbeiten,  von  Galenos  die  Reihenfolge  seiner  Bücher,  die  ana- 
tomischen Encheiresen,  Nerven  an  atomie,  Schriften  über  den  Puls 
(worüber  die  Araber  ein  großes  Sammelwerk  zusammenstellten), 
über  die  Unterscheidungsmerkmale  der  Krankheiten  und  ihrer  Ur- 
schen und  Symptome  und  deren  Veranlassung,  über  die  kranken 
Körperstellen,  Gesundheitspflege,  einfache  Arzneimittel  und  deren 
Zusammensetzung  nach  Art  und  Körpergegend,   über  Antidote  und 


und  erste  Wiedergeburt  im  Reiche  des  Islam.  157 

therapeutische  Methodik.  Damit  war  grundlegend  fast  alles  Wichtige 
von  Galexos  in  die  Hände  der  arabischen  Aerzte  gelegt,  und  preis- 
wert haben  sie  mit  diesem  Pfunde  gewuchert,  einen  neuen  Prachtbau 
der  Griechenmedizin  errichtet  und  selbst  das  Ausgefeilteste  oft  noch 
weiter  ziseliert,  wie  al  Kind!  (813 — 880)  beispielsweise  die  Gradus- 
lehre  des  Galenos  und  die  latromathematik,  die  astrologische  Lehre 
in  der  Heilkunde  Alexandriens,  der  auch  der  große  Galenos  in  den 
„kritischen  Tagen"  seinen  Tribut  entrichtet  hatte.  Von  den  eigenen 
Werken  des  HUXAIX  hat  die  Einführung  in  die  Mikrotechne  des 
Galexos  (Isagoge  in  artem  parvam)  im  Morgen-  und  Abendlande 
viele  Jahrhunderte  Kurs  besessen  und  ist  dutzendmal  kommentiert 
worden. 

Auf  diesem  Boden,  unter  voller  Beherrschung  der  ganzen  damals 
noch  sehr  umfangreich  erhaltenen  griechischen  medizinischen  Lite- 
ratur und  des  jungen  syrischen  und  arabischen  Schrifttums  hat  dann 
zu  Ende  des  9.  und  zu  Beginn  des  10.  Jahrhunderts  der  größte 
Kliniker  des  Islam  Razes  (Abu  Bekr  Muha2^ied  bex  Zakarijä 
ar-Razi,  850 — 923)  aus  Rai  in  Korasan,  also  ein  Perser,  seine  be- 
deutenden Werke  geschaffen  und  sein  großzügiges  Wirken  entfaltet 
Eine  Gesamtübersicht  über  das  Griechentum  und  das  frühere  Araber- 
tum  in  der  Medizin  hat  er  sich  zum  eigenen  Gebrauch  und  späterer 
literarischer  Zusammenfassung  geschaffen,  aber  zur  abschließenden 
Aufarbeitung  ist  er  nicht  gekommen;  doch  ist  das  gesamte  Ex- 
zerptenmaterial nach  seinem  Tode  obenhin  geordnet  als  Behältnis 
(al-häwi)  der  Medizin  verbreitet  worden  und  im  13.  Jahrhundert,  als 
„Continens  Razis"  ins  Lateinische  übersetzt,  dem  Abendlande  bekannt 
geworden,  ein  für  die  Medizin geschichte  noch  keineswegs  ausgenützter 
Schatz.  Doch  Razes  Wissen  und  Können  ist  durchaus  nicht  ein 
bloß  literarisch  Errungenes,  sondern  nicht  minder  der  eigenen  kli- 
nischen Beobachtung  im  Krankenhause  und  in  der  Praxis  zu  Bagdad, 
wo  er  unter  großem  Zulauf,  wie  es  heißt,  klinischen  Unterricht  ab- 
hielt. Als  Ergebnis  eigener  Beobachtungen  ist  besonders  sein 
Büchlein  über  Pocken  und  Masern  zu  nennen,  das  zum  ersten  Male 
in  der  Geschichte  der  Heilkunde  diese  akuten  Exantheme  aus  der 
Masse  der  Volksseuchen  herauslöste  und  ihr  Krankheitsbild  festlegte. 
Diese  wichtige  Schrift  ist  dem  Abendlande  erst  in  den  Tagen  der 
Hochrenaissance  bekannt  geworden,  während  z.  B.  das  zusammen- 
fassende Kompendium  der  gesamten  Heilkunde  an  den  Statthalter 
in  Korasan  MansCr  in  Ost  und  West  gleichmäßig  verbreitet  und 
geschätzt  war.  Auch  zahlreiche  weitere  Monographien,  z.  B.  über 
Kinderkrankheiten,  Gelenkleiden,  Stein-,  Blasen-  und  Nierenleiden 
haben  AR-RÄzi  zum  Verfasser.  Ueber  Kurpfuscher  und  Aerzte  hat 
er  ein  wertvolles  Schriftchen  verfaßt;  doch  beträgt  die  Zahl  der  von 


icg  Nachleben,  der  Griechenmedizin  im  Ostreich 

ihm  aufgeführten  medizinischen  Schriften  über  200,  von  denen  über 
30  noch  erhalten  sind.  Man  muß  diesen  großen  Perser  zu  den  be- 
deutendsten Aerzten  aller  Zeiten  rechnen.  Jahjä  BEN  Sarabi  war 
ein  Zeitgenosse  des  RÄzi,  ob  aber  seine  „medizinische  Praxis"  und  seine 
Arzneimittellehre  wirklich  ihm  selbst  oder  einem  späteren  Namens- 
genossen zugehört,  ist  noch  ungewiß;  die  erstere  soll  ursprünglich 
syrisch  geschrieben  sein,  was  dafür  sprechen  würde,  sie  dem  älteren 
Serapion  zuzuteilen.  Eine  umrissene  Aerztepersönlichkeit  ist  der 
Jude  ISHÄQ  IBN  SULAIMÄN  al-Isra'ili  (f  932),  dessen  Schriften  über 
Harn,  Fieber  und  Diätetik  in  hoher  Schätzung  standen.  Um  970 
schrieb  Abü'l  Hasan  Ah:med  ben  Muhamed  al-Tabari  sein  „Buch 
der  hippokratischen  Behandlungen",  das  die  Krankheiten  des  Kopfes, 
der  Augen,  der  Nase  und  des  Ohres,  des  Mundes,  Rachens  und  der  * 
Kehle  usw.  in  10  Büchern  bis  zu  den  Baucheingeweiden  hinunter 
behandelt.  Hohen  Ruhm  genoß  der  Perser  'Ali  IBN  al-'AbbäS  (t  994) 
durch  sein  systematisches  Handbuch  der  gesamten  Medizin,  das  auch 
alle  ihre  Sonderzweige  in  10  theoretischen  und  10  praktischen  Büchern 
abhandelt  und  in  seiner  Geschlossenheit  und  der  Einfachheit  seiner  theo- 
retischen Grundsätze  noch  heute  imponiert.  Einem  persischen  Fürsten 
gewidmet,  führte  es  die  Bezeichnung  al-maliki,  das  königliche  Buch, 
und  nicht  mit  Unrecht.  Fast  ein  Jahrhundert  lang  hat  es  die  ara- 
bische Medizin  beherrscht,  bis  der  Canon  des  AviCENNA  es  entthronte, 
und  auch  im  Abendlande  hat  es  durch  einen  glücklichen  Zufall  ein 
Jahrhundert  lang  als  führendes  Handbuch  der  Heilwissenschaft  zu 
dienen  vermocht  und  zur  Blüte  Salernos  die  Grundlage  abgegeben, 
als  AR-RÄzi  und  IBN  SiNÄ  noch  unbekannt  waren. 

In  den  Anfang  des  11.  Jahrhunderts  gehört 'Ali  BEN  IsÄ,  der 
Verfasser  des  maßgebenden  Lehrbuchs  der  Augenheilkunde  im 
Orient,  überhaupt  des  ältesten  Handbuchs  dieser  Disziplin,  das  wir 
besitzen,  da  die  Augenheilkunde  des  Herophileers  Demosthenes 
aus  dem  i.  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung,  dessen  lateinische 
Uebersetzung  (des  ViNDiClAN  ?)  noch  um  1300  in  Italien  benutzt 
wurde,  uns  dauernd  verloren  scheint.  Von  den  Arabern  hatten  sich 
vor  'Ali  ben  IsÄ  allerdings  schon  andere  literarisch  mit  Augen- 
krankheiten beschäftigt,  Mäsawaihi,  Hunain  und  sein  Schwestersohn 
(und  Mitübersetzer)  HuBAis,  TÄBIT  BEN  QuRRA,  Halaf  at-Tülun! 
und  Tabari.  Sie  halten  mit  dem  geordneten  Lehrbuch  des  'Ali 
BEN  'ISÄ  keinen  Vergleich  aus,  das  zwar  auf  dem  Standpunkt  der 
Griechen  steht,  in  vielem  Einzelnen  aber  über  sie  hinaus  geht,  offenbar 
nach  eigener  Erfahrung,  und  die  Augenoperationen  genau  beschreibt. 
Origineller  noch  ist  die  „Auswahl  von  den  Augenkrankheiten"  seines 
ägyptischen  Zeitgenossen  'Ammär  BEN  'Ali  al-Mausili  (aus  Mosul), 
einer    kraftvollen   Persönlichkeit    von   ruhiger   Initiative,    operativem 


und  erste  Wiedergeburt  im  Reiche  des  Islam. 


159 


Geschick  und  großer  Erfahrung.  An  Nachfolgern  hat  es  diesen 
beiden  bedeutenden  Augenärzten  nicht  gefehlt  —  Hirschberg,  dem 
dies  alles  entnommen  ist,  zählt  18  arabische  Werke  über  Augen- 
heilkunde —  erwähnt  seien  hier  nur  noch  die  späteren  umfassenden 
Lehrbücher  der  beiden  Syrer  Halifa-bex  Abi'l-Mahasix  aus  Aleppo 
aus  der  2.  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts.  „Von  dem  genügenden  in 
der  Augenheilkunde" 
und  Salah  ad-Dix  ibx 
JüSUF  aus  Hamä  („Das 
Licht  der  Augen",  das 
um  1296  geschrieben  ist). 
Großartiger  noch  als  die 
Leistungen  der  Araber 
in  der  praktischen 
Augenheilkunde  sind 
ihre  Leistungen  in  der 
Lehre  vom  Sehen  durch 
den  großen  Physiker  ibx 
al-Haitam  aus  Basra 
(965 — 1038),  dessen  op- 
tische Lehren  über  die 
Griechen  weit  hinaus 
gehen,  aber  bei  den 
Augenärzten  des  Islam 
keinerlei  Berücksich- 
tigung gefunden  haben. 

Als  Zeitgenosse  des  IBX  al-Haitam  wirkten  zwei  der  bedeu- 
tendsten Aerzte  des  Islam :  der  Perser  IBX  SixÄ  und  der  Andalusier 
Abü'l  QlSlM;  auch  das  zu  Anfang  des  1 1.  Jahrhunderts  geschriebene, 
als  Reisebuch  (Ephodion)  eingekleidete  kurze  Lehrbuch  der  prak- 
tischen Medizin  des  IBX  AL-DsCHAZZÄR  sei  erwähnt,  weil  es  im  Abend- 
lande früh  Verbreitung  gefunden  hat. 


Abb.   76.     Augeninstmmente  des    Halifa    (3   Scheren 
und  gedecktes  Messerchen  in  Kanüle)  aus  einer  Hand- 
schrift in  Konstanünopel. 


Aus  vornehmer  persischer  Familie  stammte  Abu  *Al1  al-Hosain 
iBN  'Abdallah  ibn  al-Hosaix  ibn  'Ali  aö-öaih  ar-ra1s  ibx 
81x1(980—1037)  der  glänzendste  Stern  am  Aerztehimmel  des  Islam, 
Arzt,  Philosoph  und  Staatsmann  zugleich.  Er  schrieb  zahlreiche  philo- 
sophische, naturwissenschaftliche  und  medizinische  Schriften,  die  in  ihrer 
Bedeutung  für  die  Heilkunde  alle  von  einem  Werke  überragt  werden^ 
dem  eine  gradezu  einzige  Stellung  in  dem  Entwicklungsgange  der  Me- 
dizin einnehmenden  Qänün  fi't  tibb,  dem  Kanon  der  Heilkunde. 
Dies   große  Handbuch  des  Fürsten    (asch-schaich)  AviCEXNA  ist  in 


i6o  Nachleben   der  Griechenmedizin  im  Ostreich 

5  Bücher  eingeteilt,  die  wieder  in  Hauptabschnitte  (Fen  oder  Summa) 
mit  Unterabschnitten  (Traktate)  und  zahlreichen  Kapiteln  oder  Areolae 
geschieden  sind.  Im  ersten  Buche  wird  Einleitendes,  Anatomie  und 
Physiologie,  allgemeine  Aetiologie  und  Symptom atogie,  allgemeine 
Diätetik  und  Prophylaktik,  allgemeine  Therapie  abgehandelt,  die 
gesamte  thoretische  Medizin,  Das  zweite  Buch  von  gleichem  Um- 
fange, aber  einfacherer  Gliederung,  bespricht  die  einfachen  Arznei- 
stoffe und  ihre  Wirkungsweise.  Das  bei  weitem  umfangreichste 
dritte  Buch,  bestehend  aus  22  Hauptabschnitten  (gegen  vier  Fen  des 
ersten  und  zwei  Summen  des  zweiten),  bringt  die  spezielle  Patho- 
logie und  Therapie  a  capite  ad  calces  mit  topographisch-anatomischen 
und  physiologischen  Einleitungen  zu  den  einzelnen  Abschnitten;  ein- 
geschlossen sind  die  Krankheiten  der  Augen,  Ohren,  Nase,  Mund 
und  Kehlkopf,  also  die  Spezialzweige  einschließlich  der  Geburtshilfe. 
Nur  die  Chirurgie  ist  in  das  weit  kürzere,  das  i.  und  2.  aber 
an  Umfang  übertreffende,  4.  Buch  mit  herübergenommen  (7  Fen), 
das  außerdem  die  gesamte  Fieberlehre  einschließlich  der  meisten 
akuten  und  chronischen  Infektionskrankheiten,  Toxikologie,  Haut- 
krankheiten und  Kosmetik  enthält.  Das  letzte  Buch  handelt  in  zwei 
Summen  mit  zwölf  und  acht  Traktaten  über  die  zusammengesetzten 
Arzneimittel  in  der  Form  eines  Antidotarium  und  hat  den  geringsten 
Umfang  von  allen  Büchern.  In  dieser  Weise  ist  also  die  gesamte 
theoretische  und  praktische  Medizin  samt  allen  ihren  Spezialzweigen 
in  strenger  Systematik  in  ihrem  ganzen  Umfange  von  einem  Stand- 
punkte aus  zur  Darstellung  gebracht,  mit  Zielsicherheit  und  Klar- 
heit als  völlig  einheitliches  Werk  in  einem  Guße,  ein  großer  Wurf 
glänzend  gelungen,  in  seiner  Art  ohne  gleichen  in  der  gesamten 
Medizingeschichte!  Der  Eindruck  auf  die  Aerztewelt  im  Morgen- 
und  Abendland  war  denn  auch  ein  ganz  enormer,  alles  andere  nach- 
haltig überragender  und  ist  es  im  Abendland  fast  bis  ins  17.  Jahr- 
hundert geblieben.  Im  Orient  herrscht  er  noch  heute.  Die  Grund- 
lage des  Gesamtwissens  des  IBN  SiNi  sind  vor  allem  Aristoteles  und 
Galen.  Das  medizinische  System  des  Galenismus  fand  hier  seine 
volle  Geschlossenheit  und  Ausbildung  ins  Einzelne  hinein,  natürlich 
unter  voller  Benutzung  aller  vorhergehenden  arabischen  Schriftsteller, 
vor  allen  auch  des  Razi,  als  größten  und  des  'Ali  IBN  al  'AbbäS, 
sowie  der  großen  griechischen  Spezialautoren,  z.  B.  des  DIOSKURIDES. 
Doch  mit  dieser  grandiosen  Zusammenfassung  alles  von  seinen  Vor- 
gängern Gebotenen  ist  es  nicht  getan.  Freilich  die  Lehre  von  den 
Kardinalsäften,  Qualitäten,  Komplexionen  und  Graden,  die  schon  so 
fein  ausgesponnen  war,  ist  noch  weiter  ausgefeilt  und  ausspintisiert, 
die  künstliche  Puls-  und  Harnsemiotik  noch  weiter  verkünstelt,  aber 
es  sind  doch  auch  eigene  Beobachtungen  und  Erfahrungen  mit  ein- 


und  erste  Wieders:eburt  im  Reiche  des  Islam. 


i6i 


gefügt   und   dem  Ganzen    trotz  lastender  Längen   und  dialektischem 
Geklingel   eine   Form    gegeben,   die    ihre   Wirkung   nicht   verfehlte. 


■^^ä^\ih4^^\^if4'^-^j^/^^ 


Abb.  77.   Instramentenbilder  aus  der  Chirui^ie  des  Abu'l  Qasim,  aus  arabischer  Handschrift 
in  Gotha  (oben)  und  aus  verschiedenen  lateinischen  Handschi iften.  (Zangen,  Spritzen,  Messer, 
Haken,  Brenneisen,  Sägen,  Scheren,  Spekula  und  geburtshilflich-gynäkologische  Instrumente.) 
Meycr-Steincg  u.  Sudhoff,  lUustr.  Geschichte  der  Medizin.  II 


102  Nachleben  der  Griechenmedizin  im  Ostreich 

Ohne  eigene  Verdienste  hat  der  „Fürst  der  Aerzte"  seine  jahrhundert- 
lange Herrschaft  nicht  angetreten. 

Keineswegs  auf  der  Höhe  seines  Geistgenossen  Avicenna  steht 
der  in  Zahrä,  der  Kalifengründung  bei  Cordova,  in  Spanien  (Andalus) 
geborene  Abu'l  Qäsim  Halaf  ibn  'Abbas  al-Zaharawi,  immer- 
hin bedeutende  Arzt  im  arabischen  Westreiche,  angeblich  1013  ge- 
storben. Sein  umfangreiches  Werk  über  Gesamtmedizin  genannt 
„die  Gewährung"  (at  tasrif)  ist  besonders  wegen  seines  ausführlichen 
chirurgischen  Abschnittes  von  Wert,  der  zwar  im  ganzen  nach 
Paulos,  dem  Aigineten,  gearbeitet  ist,  aber  doch  auch  Eignes  bringt. 
Namentlich  als  einzige  bekannte  Darstellung  der  Chirurgie  bei  den 
Arabern  ist  sie  von  Bedeutung.  Ihr  Einfluß  auch  auf  das  Abend- 
land war  groß,  wie  wir  noch  sehen  werden,  wo  der  chirurgische 
PAULOStext  verschollen  war,  größer  als  bei  den  Arabern  selbst.  Frei- 
lich spielt  das  Glüheisen,  dem  das  ganze  erste  von  drei  Büchern  ge- 
widmet ist,  eine  große  Rolle,  wie  auch  schon  im  späteren  Griechen- 
tum. Die  Beschreibung  der  Operationen  ist  klar  und  durch  reiche 
Instrumentenabbildungen  erläutert,  die  uns  aus  dem  Altertum  völlig 
abgehen  und  durch  Funde  der  Originalinstrumente  wettgemacht 
werden,  während  wir  aus  Araberzeiten  die  Instrumente  selbst  nur 
in  kleiner  Zahl  bis  heute  besitzen. 

Gleichfalls  aus  Spanien  stammt  Abu  Marwan  ibn  Zuhr,  aus  der 
Nähe  Sevillas  gebürtig  (11 13 — 11 62),  der  in  knapper  Form  einen 
Abriß  der  Heilung  und  Diätetik  schrieb,  „Erleichterung"  (at-taisir) 
genannt,  voll  unbefangenen  Urteils  und  guter  Beobachtung.  Neben 
diesem  „Avenzoar"  des  Abendlandes  ragt  als  einer  der  freiesten 
Denker  des  Islam  hervor,  der  1126  zu  Gordova  geborene  und  als 
königlicher  Leibarzt  in  Marokko  11 98  verstorbene  Ibn  Rusd,  be- 
kannt unter  dem  Namen  des  Averroes,  der  als  Arzt  durch  sein 
prägnant  geschriebenes  therapeutisches  „Buch  der  Allgemeinheiten" 
(kitab  al-kullijät;  „Colliget")  literarischen  Einfluß  gewann,  weit 
größeren  als  Philosoph,  als  ARISTOTELES-Kommentator,  als  welcher  er 
unter  höchster  Wertschätzung  des  Stagiriten  einen  monistischen 
Naturalismus  entwickelte,  der  in  Zustimmung  und  Bekämpfung  einen 
geradezu  welterschütternden  Einfluß  gewann.  Indessen  war  die 
Araberherrschaft  auch  in  Spanien  äußerlich  zu  Ende  gegangen,  wie 
schon  ein  Jahrhundert  vorher  auf  Sizilien,  ohne  ihren  kulturellen 
Einfluß  beiderorts  zu  verlieren,  der  von  Süditalien  und  Spanien  aus 
das  Abendland  geistig  für  Jahrhunderte  noch  beherrschte,  nament- 
lich auch  in  der  Medizin.  Ja  man  kann  sagen,  daß  in  dem  großen 
Strom  zweifelhafter  und  schlechter  lateinischer  Bearbeitungen  der 
Medizin  des  Islam,  in  zwei  Quellflüssen  in  Süditalien  und  in  Spanien 
entspringend,  diese  erst  ihre  weltgeschichtliche  Bedeutung  in  vollem 


und  erste  Wiederg^eburt  im  Reiche  des  Islam. 


163 


Maße  erlangte.  Griechenmedizin  in  arabisches  S3'stem  gebracht, 
weitergedacht  und  weiter  vermehrt  durch  Forscher  und  denkende 
Beobachter  des  Islam  wurde  zur  Lehrmeisterin  des  Abendlandes  seit 
dem  Ende  des  11.  Jahrhunderts  in  solchem  Umfang,  daß  das,  was 
die  Renaissance  und  der  Humanismus  direkt  aus  griechischen 
Quellen  Xeues  hinzubringen  konnte,  sachlich  nicht  all  zu  schwer  ins 
Gewicht  fällt. 

Ein  Handbuch  der  Heilkunde,  wie  es  mit  dem  „königlichen 
Buche"  des  „Hali  Abbas"  um  1070  im  „Pantegni"  des  COXSTAXTIX 
nach  Italien  kam,  hat  die  Antike  nie  besessen ;  mit  Selbstgefühl  be- 
tont al-'Abbäs  selbst  im  Vorwort,  daß  weder  Galexos,  noch  Orei- 
BASios,  noch  Paulos  Aehnliches  geboten  hätten.  Was  bei  den 
Aerzten  des  Islam  aus  indischer  Medizin  und  wohl  auch  aus  per- 
sischer z.  B.  im  Arzneimittelschatz  hinzugekommen  ist,  kommt  gegen- 
über der  Griechenmedizin  kaum  ernsthaft  in  Betracht.  Für  die  Ana- 
tomie ist  die  Griechenlehre  ausschließlich  Quelle  und  Richtschnur 
der  Araber.  Sie  haben  aus  eigener  Untersuchung  nichts  hinzu- 
getan, und  Hali  Abbas  und  Avicenna  sind  für  das  Abendland  neben 
Galexos  und  jahrhundertelang  an  seiner  Stelle  Lehrmeister  ge- 
blieben; es  war  ja  auch  das  Nämliche.  Neue  Krankheiten  haben 
die  Araber  erkannt,  erfaßt   und   geschildert,   die   den  Griechen   ent- 


Abb.  78.     Ajxjtheke  aus  einer  hebräischen  Avicenna- Handschrift. 


164  Nachleben  der  Griechenmedizin  im  Ostreich 

gangen  waren,  und  das  ist  zweifellos  ein  Großes,  das  sich  an  ihren 
bedeutendsten  Arzt  ar-Räzi  vor  allem  knüpft.  Zahlreiche  neue  Arznei- 
mittel haben  die  Araber  der  Griechenmedizin  hinzugefügt,  und 
hier  ist  neben  AviCENNAs  2.  und  5.  Buche  noch  ein  Arzt  des 
13.  Jahrhunderts  zu  nennen,  IBN  al-Baitär  (f  1248),  der  allerdings  auf 
das  Abendland  kaum  eine  Wirkung  geübt  hat.  Von  neuen  Mitteln 
seien  beispielsweise  der  Kampfer  und  der  Moschus  genannt,  und 
die  milden  Abführmittel  Senna  und  Tamarinden.  Die  ganze  Phar- 
mazeutik  verdankt  ihre  Entwicklung  der  Medizin  des  Islam,  die 
Apotheken  gründete,  Pharmakopoen  schuf  und  mit  Hilfe  der  aus 
dem  Hellenismus  entnommenen  und  weitergepflegten  Chemie,  die 
allerdings  dann  erst  im  Abendlande  im  Mittelalter,  in  den  Schriften 
des  Pseudo-GEBER  eine  entscheidende  Wandelung  erlebte,  neue 
Arzneibereitungen  anbahnte.  Destillierte  Wässer  kannten  die  Araber 
und  stellten  sie  dar,  die  Alkoholdestillation  als  Schlußstein  blieb  dem 
Abendlande  vorbehalten. 

In  der  Diätetik  haben  die  Aerzte  des  Islam  die  griechische 
Tradition  trefflich  weitergepflegt,  wie  auch  aus  den  Schriften  eines 
jüdischen  Arztes  aus  Spanien  (geb.  1135  in  Cordova,  f  1204),  der 
wie  ISHÄQ  IBN  SULAIMÄN  AL-ISRÄ'iLi  ein  Glied  der  Medizin  des 
Islam  ist,  Abu  Tmrän  Müsä  ben  Maimün,  genannt  Maimonides 
oder  Rabbi  Moyses  im  Abendlande,  der  zuletzt  in  Kairo  gewirkt  und 
namentlich  auch  als  peripathetischer  Philosoph  Einfluß  gewonnen  hat, 
besonders  auf  die  jüdischen  Denker,  indem  er  den  Aristoteles  neben 
die  Propheten  stellte. 

Büchersammlungen  wurden  von  den  Arabern  in  großem  Um- 
fange angelegt  und  in  liebevollster  Weise  verwaltet.  An  Bücher- 
zahl erreichten  sie,  namentlich  in  Bagdad  und  Kairo,  aber  später 
auch  im  Andalus  die  Rollenmassen  der  großen  Bibliotheken  Alexan- 
driens,  deren  medizinisch  wertvollste  im  Sarapieion  schon  lange  in 
Flammen  aufgegangen  war,  ehe  die  Araber  Alexandrien  besetzten. 
An  literarischem  Gut  hat  das  Arabertum  in  der  Aerztegeschichte 
des  IBN  Abu  Usaibi'a  (1203 — 1273  aus  Damaskus  etwas  Neues  ge- 
schaffen, ein  Werk  wie  es  das  Griechentum  nicht  besaß.  Er  hat  in 
biographischer  Form  Leben  und  Leistungen  der  griechischen,  syrischen, 
arabischen,  indischen  Aerzte  in  musterhafter  Weise  gezeichnet.  Was 
wir  über  die  Aerzte  des  Islam  bio-  und  bibliographisch  wissen,  geht 
fast  alles  auf  ihn  zurück;  für  die  Griechen  ist  überhaupt  noch  nicht 
ausgenutzt,  was  sein  Buch  beibringt. 

Auch  in  der  Weiterentwicklung  der  christHchen  Krankenpflege- 
Anstalt  zur  Klinik,  ja  zur  Spezialklinik  hat  die  Medizin  des  Islams 
wirkliche  Fortschritte  gezeitigt,  die  auch  der  Wissenschaft  und  ärzt- 
lichen Kunst  zugute  kamen,  wie  die  weitere  Ausbildung  der  Augen- 


und  erste  Wiedergeburt  im  Reiche  des  Islam. 


165 


heilkunde  über  die  griechische  hinaus  dartut.  Bei  der  Chirurgie 
sind  die  Zeichen  des  Fortschrittes  weit  geringer,  ebenso  beispielsweise 
in  der  Zahlheilkunde.  Völlig  fehlen  sie,  wie  im  Volkstum  begründet, 
in  der  Geburtshilfe  und  Gynäkologie. 

Die     Fesseln,     welche 
dem  arabischen  Arzte  seine  k^ 

Religion  auferlegte,  sind 
besonders  bedauernswert 
auf  dem  Gebiete  der  Fach- 
illustration aus  der  Antike, 
namentlich  in  der  Ana- 
tomie; das  Verbot  der 
Zeichnung  menschlicher 
Körper,  welches  die  „Ara- 
beske" schuf,  hat  hier  die 
Ueberlieferung  gehindert, 
ebenso  in  der  Chirurgie 
(Darstellung  von  Opera- 
tionen) und  Geburtshilfe. 
Wie  zum  kleinen  Teü  die 
freiere  Richtung  der  per- 
sischen Schiiten  darin  Er- 
satz geboten  hat,  werden 
wir  im  7.  Abschnitte  sehen. 
Das  Pflanzenbild  war  frei 
gegeben  und  wir  haben 
daher  heute  noch  Pflanzen- 
bilder in  arabischen  Dio- 
skurides  -  Uebersetzungen, 
die  allerdings  neben  den 
Handschriftenbildern  früher  griechischer  Texte  des  5.  und  6.  Jahr- 
hunderts nicht  aufkommen  können. 


Fig.  79.      Geburt  des  Rustem    aus    Firdusis    Schah- 
name.    Vier  Hebammen  wie  zu  altgriechischer  Zeit. 


Die  arabischen  Aerzte^)  nahmen  im  Leben  ihres  Volkes  eine 
hochgeachtete  wirtschaftliche  Stellung  ein;  sie  werden  in  der  Ent- 
wicklung des  Aerztestandes  immer  eine  ehrenvolle  Stelle  direkt 
neben  den  griechischen  Aerzten  behaupten.  Als  die  treuen  Ver- 
walter und  Förderer  des  aus  dem  Altertum  übernommenen  Wissens- 
schatzes haben  sie  sich  bewährt.  Ihr  Eigenstes  in  der  Pflege  an- 
tiken Wissensgutes,  dessen  Mehrung  neben   der  Erhaltung  sie   sich 

i)  Von  Aerzteprüfungen,  die  in  Bagdad  931  eingeführt  sein  sollen, 
berichtet  eine  gute  Quelle. 


i66 


Nachleben  der  Griechenmedizin  im  Ostreich  usw. 


angelegen  sein  ließen,  ist  und  wird  für  immer  ihren  besonderen 
Ehrentitel  bilden,  die  ordnende  und  sichtende  Zusammenfassung,  die 
systematische  Umgestaltung  der  Wissensmasse  in  klare,  übersicht- 
liche, wohldurchdachte  Lehr-  und  Handbücher,  in  denen  sich  alles 
folgerichtig  zum  Ganzen  fügt  und  jeder  Einzelabschnitt  durch  seine 
logische  Eingliederung  Bedeutung  und  sichere  Verständlichkeit 
gewinnt. 


I   t'j  i 


Abb.    80.     Aus  'arabischer    DioSKURiDES-Handschrift.     (Migon    afrodi,    Diosk.    IV,    67. 

Silene  inflata  Sm.) 

Nur  drei  bis  vier  Jahrhunderte  hat  die  Medizin  des  Islam  ge- 
blüht. In  einem  mächtigen  Aufstieg  von  MÄSAWAIHI  bis  ibn  Sinä 
hat  sie  als  erste  Wiedergeburt  der  Griechenmedizin  Unvergäng- 
liches geschaffen,  das  ins  Abendland  übergepflanzt,  dort  eine  neue 
Blüte  der  Heilkunst  und  Heil  Wissenschaft  befruchtend  anbahnen 
half,  die  heute  noch  weitergedeiht  und  Griechenmedizin  und  Araber- 
medizin in  ihrem  Ausbau  zwar  weit  hinter  sich  gelassen  hat,  aber 
dennoch  in  beiden  wurzelt  und  moderne  griechische  Hochschulen 
und  zum  Teil  auch  schon  die  Aerztewelt  des  heutigen  Islam  an 
ihren  Fortschritten  und  Erfolgen  teilnehmen  läßt  in  ihrem  erd- 
umspannenden Wirkungsstrome. 


Nachklang  und  Ausklang  der  klassischen  Medizin 
im  römischen  Westreich. 

Die  wissenschaftliche  Höhe  der  acht  Bücher  Medizin  in  der 
Enzyklopädie  des  Celsus  hat  spätklassische  lateinische  Literatur  in 
Rom  nicht  wieder  erreicht.  Aber  das  war  ja  auch  nur  lateinisch 
gewandete  Medizin  Alexandriens  in  übersichtlichem  Querschnitte  ge- 
wesen, wenn  nicht  einfache  Uebersetzung  eines  verlorenen  griechischen 
Werkes.  Jedenfalls  war  die  Nachwirkung  des  Celsus  zunächst  gering 
und  bald  völlig  erloschen.  Dagegen  machte  die  Rezeptensammlung 
des  SCRIBONIUS  Schule  als  Arzneibuch  bis  weit  ins  Mittelalter  hinein 
und  wurde  fleißig  selbst  literarisch  verwertet.  Daneben  her  zog  man 
vor  allem  von  den  me- 
dizinischen Abschnitten 
im  großen  Sammelwerk 
der  Naturgeschichte  des 
Plinius  Vorteil,  die 
sich  geradezu  als  un- 
erschöpflich erwiesen 
und  in  immer  neuen 
geordneten  Sammel- 
werkchen literarische 
Auferstehung  fanden 
bis  ins  6.,  ja  bis  in  das 
7.  Jahrhundert  hinein 
(„Plinius  Valeria- 
NUS").  Die  beste  Lese 
aus  den  letzten  Büchern 
des  Plinius  bildet  ein 
wohl  dem  4.  Jahrhun- 
dert angehöriges  „Bre- 
viarum",  auch  kurz  „Me- 
dicina  Plinii"  genannt 
oder  „Plini  secundi  iuni- 
oris  de  Medicina  libri 
tres".  Von  einem  Nicht-  ^bb.  81.  Tierhilder  aus  der  Hertener  PLACiTUS-Hand- 
arzte        geschickt        zu-  schrift  (9.  JahrhunderO. 


fnatTuL  majic  apM:?cS(  mtff^duems  ä^Mj 


1 68     Nachklang  und  Ausklang  der  klassischen  Medizin  im  röm.  Westreich. 

sammengestellt  und  mit  einer  ärztefeindlichen  Vorrede  versehen,  fand 
das  Büchlein  weite  Verbreitung  und  auch  literarisch  ergiebige  Weiter- 


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Abb.    82.     Pflanzeabilder   aus    dem  Leidener  (7.  Jahrhundert   a),   Halberstädter   (8.  Jahr- 
hundert b)   und   Hertener    (9.  Jahrhundert  c)    Pseudo-Apuleius-Kodex :    Nymphaea,    Peri- 

sterion,  Agrimonia. 


Nachklang  und  Ausklang  der  klassischen  Medizin  im  röm.  Westreich.      169 

ausbeutung,  den  Plixius  selbst  für  Aerztekreise  größtenteils  ersetzend. 
Selbst  für  den  früher  als  weit  älter  geschätzten  QurxTUS  Serenus 
scheint  dies  zuzutreffen,  der  ungefähr  in  gleicher  Anordnung  wie 
das  Brevier  aus  dem  Plixius  die  praktische  Gesamtmedizin,  außer 
Chirurgie  und  Geburtshilfe,  in  1 100  Hexametern  vorführt  und  noch 
im  9.  Jahrhundert,  zu  den  Zeiten  der  „karolingischen  Renaissance", 
weite  Verbreitung  genoß. 

Aus  dem  Plinius  stammen  auch  die  rein  populär  gehaltenen 
Gemüse-  und  Fruchtarzneien  (Medicinae  ex  oleribus  et  pomis)  in  der 
landwirtschaftlichen  Schrift  des  Gargilius  Martialis,  der  im  3.  Jahr- 
hundert lebte,  uns  aber  nur  in  einem  Auszuge  des  6.  Jahrhunderts 
erhalten  ist.  Im  4.  oder  5.  Jahrhundert  stellte  Sextus  Placitus 
seine  Arzneiverordnungen  aus  dem  Tierreich  zusammen,  während 
des  Pseudo-APULEIUS'  Kräuterarznei  Verordnungen,  größtenteils  dem 
DiOSKURiDES  entnommen,  zu  Ende  des  4.  oder  zu  Anfang  des  5.  Jahr- 
hunderts ausgearbeitet  zu  sein  scheinen. 


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Abb.  83.     Kopflage   und  Fußlage,   Bild   und  Text   aus   der  Brüsseler  Mustio- Handschrift 

(um  900  n.  Chr.). 


Sicher  in  den  hochkultivierten  nordafrikanischen  Küstenstrichen 
des  westlichen  Mittelmeeres  schrieben  die  hervorragenderen  Aerzte 
ViNDiciANUS,  in  der  zweiten  Hälfte  des  4.  Jahrhunderts,  ein  Freund 
des  Augustinus,  und  sein  Schüler  Theodorus  Priscianus,  sowie 


ijo     Nachklang  und  Ausklang  der  klassischen  Medizin  im  röm.  Westreich. 

der  karthaginiensische  Christ  Cassius  Felix,  der  seine  dogmatische 
Medizinschrift  in  82  Kapiteln  im  Jahre  447  abschloß.  Der  bedeutende 
ViNDiCiAN  knüpfte  besonders  an  SORANUS  an,  im  Embryologischen 
an  den  alexandrinischen  Herophileer  Alexandros  Philalethes. 
Theodorus  Priscianus  benutzte  neben  dem  Soranos  vor  allem 
den  Galenos.  Gegen  Ende  des  5.  Jahrhunderts  bearbeitete  der 
Numidier  Caelius  Aurelianus  die  wichtige,  in  der  Ursprache 
völlig  verlorene  Schrift  des  SORAN  über  Pathologie  und  Therapie 
der  akuten  und  chronischen  Krankheiten,  dieselbe  dadurch  zunächst 
seinen  Zeitgenossen  und,  da  die  Uebersetzung  sich  erhielt,  der  weiteren 
Nachwelt  vermittelnd.  Den  Hebammenkatechismus  des  SoRANOS 
hat  einige  Jahrzehnte  später  ein  Süditaliener  oder  gleichfalls  Klein- 
afrikaner namens  MuSTiO  lateinisch  übersetzt,  und  dem  Büchlein 
(mit  Kindslagenbildern  ausgestattet)  dadurch  weite  Verbreitung  durch 
das  ganze  Mittelalter  verschafft. 

Ist  schon  dies  Schriftwerk  aus  drei  bis  vier  Jahrhunderten  des 
untergehenden  Spätrom,  das  wir  kurz  überschaut  haben,  gewiß  an 
Umfang  nicht  so  ganz  gering,  so  geht  noch  gar  mancherlei,  z.  B. 
Pseudodemokritisches,  Pseudotheodorisches  und  völlig  Namenloses, 
sowie  gelegentlich  Genanntes,  aber  Verlorenes  nebenher,  dessen  Um- 
fang man  nicht  erheblich  kleiner  veranschlagen  darf.  Mit  Ausnahme 
einisfer  Schriften  des  Vindician,  die  man  als  wissenschaftlich  noch 
bezeichnen  kann,  ist  alles  rein  praktischer  Art  mit  ausgesprochen 
volksmedizinischer  Richtung,  wie  das  bei  Schriften,  die  größtenteils 
auf  Plinius  sich  aufbauen,  kaum  anders  erwartet  werden  kann. 

Manches  grenzt  schon  an  das,  was  man  früher  latinobarbarisch 
zu  nennen  liebte.  Auch  die  romanische  Volkssprache  fordert  schon 
ihr  Recht.  Die  selbständiger  werdenden  Provinzen  gewinnen  an 
Bedeutung,  zumal  wenn  sie  von  Erobererstämmen  germanischer  Her- 
kunft beherrscht  werden  und  die  jungen  Fürstenhöfe  nach  dem 
Schmucke  der  Wissenschaften,  Künste  und  Literatur  verlangen,  wie 
in  den  nordafrikanischen  Randgebieten,  in  Spanien,  Südfrankreich 
und  ItaHen  selbst,  das  vom  Ende  des  6.  Jahrhunderts  (493 — 555)  unter 
Ostgotenherrschaft  stand  und  demnach  zwei  Jahrhunderte  (568—774) 
und  länger  von  den  Longobarden  im  Besitz  gehalten  war.  In  Süd- 
frankreich geboten  im  5.  Jahrhundert  (415 — 507)  die  Westgoten,  die 
fast  zwei  Jahrhunderte  in  Spanien  herrschten  (507  —  711),  während 
das  Vandalenreich  in  Kleinafrika  ein  Jahrhundert  (42g — 534)  nur 
wenig  überdauert  hatte.  Selbst  die  vielgeschmähten  Vandalen  haben 
literarische  Bestrebungen  gefördert,  mehr  noch  die  hochbegabten 
Goten  im  Ost-  und  Weststamme.  Ihre  hervorragendste  Fürsten- 
erscheinung,  Theodorich  der  Große  (493 — 526),   ist  vor  dem  großen 


Nachklang  und  Ausklang  der  klassischen  Medizin  im  röm.  Westreich.      1 7 1 

Franken  Karl  der  edelste  Fortführer  antiker  Kulturbestrebungen  auf 
allen  Gebieten. 

Wenige  Jahre  vor  der  Aufrichtung  des  südgallischen  Westgoten- 
reiches in  Toulouse  verfaßte  z.  B.  unter  Benutzung  der  gleichen 
Quellen,  wie  Theodorus  Prisciaxus,  ein  hoher  Staatsbeamter  in 
römischen  Diensten,  der  Südgallier  Marcellus  von  Bordeaux  (410) 
—  gewöhnlich  „Marcellus  empiricus"  genannt  —  sein  Buch  „De 
Aledicamentis".  In  36  Kapiteln  wird  im  bräuchlichen  Schema  vom 
Kopf  zu  den  Füßen,  das  auch  alle  seine  Vorgänger  und  Nachfolger 
anwenden,  die  Heilweise  der  verschiedenen  Organleiden  abgehandelt. 
Quelle  sind  vor  allen  der  größtenteils  wörtlich  ausgeschriebene  SCRI- 
BONIUS,  das  vollständig  aufgearbeitete  Breviarium  aus  Plixius,  ferner 
der  Serexus  und  allem  Anschein  nach  auch  der  Pseudo-APULEIUS 
oder  dessen  direkte  Vorlagen.  IMarcellus  selbst  ist  dann  wieder  von 
dem  schon  genannten  Sextus  Placitus  und  „Plixius  Valerianus" 
ausgeschlachtet,  die  auch  den  Pseudo-APULEIUS  benutzt  haben.  Im 
Buche  „De  Medicamentis"  ist  aber  auch  nicht  nur  die  gallische  Färbung 
des  Lateinischen  in  die  Augen  stechend,  Marcellus  gewährte  auch 
der  heimischen  altkeltischen  Volksmedizin  Aufnahme  in  den  Schatz 
seines  Heilmittelbuches,  verfaßt  von  dem  volksfreundlich  gesinnten 
Laien  für  die  eigene  Familie  und  den  stammverwandten  Volkskörper. 

So  bildet  Marcellus  von  Bordeaux  den  Uebergang  zum 
kommenden  Zeitabschnitt,  den  man  als  den  der  Einarbeitung  der 
keltisch-germanischen  Völker  in  die  Medizin  der  ausgehenden  Antike 
als  die  arbeitsame  Aneignung  der  medizinischen  Hinterlassenschaft  des 
Altertums  durch  keltische  und  germanische  Stammesgenossen  in 
Italien,  in  Frankreich,  in  Spanien,  in  Irland,  Schottland  und  Eng- 
land und  im  westlichen  und  südlichen  Germanien  bezeichnen  kann. 


Erste  Aneignung  antiker  medizinischer  Hinter- 
lassenschaft in  Westeuropa. 

Ganz  vereinzelt  steht  an  der  Schwelle  dieser  Epoche  der  Grieche 
Anthimus,  der  den  Gotenkönig  Theoderich  aus  Byzanz,  wo  der 
junge  Fürstensohn  seine  antike  Bildung  und  Sinn  und  Liebe  für  alt- 
klassische Kultur  gewonnen  hatte,  und  aus  den  Balkanländern  nach 
Italien  begleitet  hatte.  Theoderich  verwendet  den  ärztlich  Gebildeten 
als  Gesandten  zum  Frankenkönig  Theuderich  (511 — 533),  dem  Sohne 
des  Clodowech.  Theuderich  hatte  seine  Residenz  in  Metz;  ihm 
widmete  Anthimus  ein  kleines  Büchlein  über  Speisendiätetik,  das 
über  Brot,  Fleisch,  Geflügel,  Fische,  Gemüse  und  Früchte  nach 
griechischer  Lehre  kurz  handelt,  aber  nebenher  zeigt,  wie  landes- 
kundig der  Grieche  schon  bei  den  Franken  geworden  war;  denn  er 
singt  dem  innerlichen  und  äußerlichen  Allheilmittel  der  Franken, 
dem  rohen  Speck,  ein  hellklingendes  Loblied, 

Man  hat  die  vorsalernitanische  Periode,  also  etwa  das  5. — 9.  Jahr- 
hundert, bald  die  latino-barbarische,  wie  schon  gesagt,  bald  die  der 
Mönchsmedizin  genannt.  Das  letztere  stimmt  aber  nur  teilweise, 
wenigstens  für  das  zunächst  für  die  Gewinnung  von  griechischem 
medizinischen  Literaturgut  durch  Uebersetzung  in  das  Lateinische 
fast  völlig  ausschließlich  in  Frage  kommende  Süditalien.  Das  erstere 
ist  einseitig  durch  die  italienische  Rinascimento-Brille  gesehen. 

Wohl  hat  der  große  Kanzler  Theoderichs,  M.  AuRELius  Cassid- 
DORUS,  ein  Römer,  der  aus  Syrien  gebürtig  war  und  die  dortigen 
gelehrten  Schulen  kannte,  während  seiner  Amtszeit  in  Rom  eine 
Universität  zu  gründen  versucht  und  nach  seinem  Rücktritt  aus 
der  Politik  (540)  am  Golf  von  Squillace,  im  südlichen  Westzipfel  des 
italienischen  Festlandes,  in  seinem  „Vivarium"  eine  Art  klassischer 
Akademie  ins  Leben  gerufen,  in  der  auch  die  Medizin  ihre  Pflege 
fand.  Dort,  wo  man  des  Griechischen  fast  mehr  kundig  war  als  des 
Lateinischen,  hat  man  auch  die  Uebersetzertätigkeit  eifrig  gepflegt, 
jedenfalls  auch  die  schon  in  lateinischer  Uebersetzung  zugänglichen 
medizinischen  Texte  vervielfältigt.  Aber  der  Benediktinerorden,  dem 
Cassiodorus  innerlich  nahestand,  hat  gerade  in  der  für  uns  ent- 
scheidenden Zeit  Italiens  von  gelehrten  Studien  sich  völlig  ferngehalten. 
Das  Grundbuch   mittelalterlicher  Wissenschaft,    die  Institutionen   des 


r 


Erste  Aneignung  antiker  medizinischer  Hinterlassenschaft  in  Westeuropa.     173 

Cassiodor  (551),  ist  wohl  in  den  Klöstern  nördlich  der  Alpen  früh 
schon  Regel  für  die  Pflege  der  Wissenschaften  geworden  und  da- 
mit vor  allem  für  deren  textliche  Fortpflanzung;  in  der  Apenninen- 
halbinsel  hatte  es  noch  keine  Geltung. 

Für  Italien  im  6. — 9.  Jahrhundert  kamen  zunächst  die  Laien- 
schulen,  namentlich  der  Langobarden  in  Frage,  die  aus  den  antiken 
Rhetorenschulen  hervorgegangen  waren,  deren  höchststehende  schließ- 
lich Benevent  geworden  zu  sein  scheint,  wenn  auch  die  U  eher  lieferung 
vielleicht  nicht  vollen  Glauben  verdient,  daß  dort  um  850  gar  32  Lehrer 
der  Profan  Wissenschaften  wirkten. 

Der  in  Süditalien  von  alters  her  durch  griechische  Kolonisten 
herrschenden  Zweisprachigkeit,  die  noch  im  13.  Jahrhundert  Friedrich  IL 
durch  Erlaß  seiner  berühmten  Gesetze  in  Griechisch  und  Lateinisch 
berücksichtigen  mußte,  kam  von  der  Mitte  des  7.  bis  in  das  9.  Jahr- 
hundert ein  starkes  neues  Einströmen  griechischer  Elemente  zu  Hilfe. 

Zur  Zeit  des  Cassiodor  besaß  man,  nach  dessen  eigenem  Zeugnis, 
eine  ganze  Reihe  von  Schriften  des  Hippokrates  und  Galenos 
in  lateinischen  Uebersetzungen,  wie  wir  heute  noch  an  Handschriften 
der  Karolingerzeit  und  einigen  älteren  nachkontrollieren  können.  So 
besitzen  wir  heute  noch  solche  alten  lateinischen  Uebersetzungen  der 
Aphorismen,  der  Prognostika,  der  Lebensregel  in  akuten  Krankheiten, 
der  Schrift  von  Wasser,  Luft  und  Oertlichkeit,  der  späten  Hippo- 
kratesbriefe  und  der  gleichfalls  Pseudonymen  Dynamidia,  einiger 
Schriften  des  Galexos.  Sie  sind  größtenteils  wohl  in  Süditalien  ent- 
standen, wie  auch  die  des  Oreibasios- Auszugs  mit  gotischen  Spuren, 
einiger  Bücher  des  Paulos  und  Dioskurides- Uebersetzungen, 
deren  eine  geradezu  den  Namen  des  „Dioscorides  langobardus"  führt. 
Von  den  kurz  vor  600  zu  Rom  entstandenen  1 2  Büchern  der  Medizin 
des  Alexandros  aus  Tralleis  wurde  schon  im  7.  Jahrhundert  eine 
auszügliche  lateinische  Uebersetzung  hergestellt  (s.  oben),  von  deren 
Benutzung  neben  anderen  ALEXANDER-Schriften  durch  das  ganze 
Mittelalter  gelegentliche  Spuren  zu  finden  sind,  wie  man  sich  auch  immer 
wieder  einmal  auf  einen  Paulus  beruft,  der  nur  der  Aiginete  sein  kann. 

Ist  also  auch  das  in  lateinischen  Uebersetzungen  überlieferte 
griechische  Literargut  auf  medizinischem  Gebiete  nicht  entfernt  mit 
dem  Reichtum  in  Vergleich  zu  setzen,  der  dem  jungaufstrebenden 
Islam  aus  Alexandrien,  Antiochien,  Edessa,  Nisibis  und  Gondeschäpür 
in  voller  Unmittelbarkeit  zuströmte,  so  ist  es  doch  keineswegs  ganz 
unerheblich. 

Aber  auch  schon  eine  gewisse  Eigenarbeit  an  dem  überkommenen 
Literargute    scheint    im   Süden    im   frühen    Mittelalter  eingesetzt   zu 


174     Erste  Aneignung  antiker  medizinischer  Hinterlassenschaft  in  Westeuropa. 

haben.  So  sind  ins  7.  Jahrhundert  zu  setzen  oder  ganz  in  das  Ende 
des  6.  die  offenbar  zusammengehörigen  „Oxea"  eines  AuRELius  und 
„Chronia"  eines  ESCOLAPIUS,  eine  Zusammenlese  aus  dogmatischen 
und  methodischen  Quellen,  die  weniger  auf  Caelius  Aurelianus 
selbst  zurückgeht,  als  es  zunächst  scheint,  wenn  auch  Stücke  aus 
dessen  „Responsiones"  direkt  entlehnt  sind.  Diese  AuRELius- 
ESCOLAPIUS- Kompilation  ist  dann  im  8.  oder  9.  Jahrhundert,  mit 
Auszügen  aus  dem  Theodorus  Priscianus,  weitläufigen  Aus- 
schlachtungen aus  dem  „Alexander  latros",  aus  Fieberschriften  des 
Galenos  und  einer  noch  nicht  nachweisbaren  methodischen  Schrift 
zusammengeschweißt  und  in  leidliche  Ordnung  gebracht  worden  in 
einem  weitverbreiteten  „Passionarius",  der  meist,  was  nicht  wunder- 
nimmt, als  „Passionarius  Galeni"  bezeichnet  wird.  Er  geht  aber  auch 
unter  dem  Namen  eines  Langobarden  Warbod,  Garipotus  oder 
GariopONTUS,  dessen  wirkHche  Arbeit  an  dem  Buche  offenbar 
gering  ist.  Vielleicht  ist  der  angeblich  der  Mitte  des  1 1.  Jahrhunderts 
angehörende  und  nach  Frühsalerno  miteingerechnete  Arzt  nur  durch 
einen  Zufall  mit  diesem  Sammelwerk  in  Verbindung  geraten  (s.  unten). 

Aus  Italien  ist  in  dieser  Uebergangszeit  noch  zu  berichten  von 
einer  kurzen  Therapeutik  in  241  Hexametern,  die  einen  Mailänder 
Diakon,  späteren  Erzbischof  daselbst,  namens  Benedictus  Crispus, 
vielleicht  langobardischer  Abkunft,  zum  Verfasser  haben  soll.  Das 
Heilgedicht  wäre  danach  kurz  vor  681  entstanden  und  benutzt  die 
Medicina  Phnii,  den  Serenus  und  den  lateinischen  DioskurideS; 
ob  auch  Volksmedizinisches,  wäre  noch  zu  untersuchen. 

Aus  Kleinafrika,  das  seit  685  die  Araber  besetzt  hatten,  wüßte 
ich  nach  dem  Numidier  CaeliüS  keinen  medizinischen  Autor  mehr 
zu  nennen.  In  Spanien  ragt  gleich  Cassiodor  in  Italien  der  En- 
zyklopädist IsiDOR,  Bischof  von  Sevilla  (570 — 636)  hervor,  der  auch 
die  Medizin  in  seinen  Gesichtskreis  zog,  vor  allem  den  Caelius  ge- 
plündert hat.  Durch  die  Aufnahme  der  Medizin  als  gleichberechtigt 
mit  den  anderen  Wissenschaften  in  die  Enzyklopädie  des  spanischen 
Bischofs  war  ihr  für  das  christliche  Mittelalter  der  Platz  angewiesen, 
wie  das  klarer  noch  in  dem  medizinischen  Schrankvers  der  Sevillaner 
bischöflichen  Palastbibliothek  zum  Ausdruck  kommt,  der  die  Aerzte- 
heiligen  Kosmas  und  Damian  neben  Hippokrates  und  Galenos 
stellt.  Die  Medizin  war  durch  Cassiodor  und  IsiDOR  wie  zur  Zeit 
des  antiken  Rom  auf  der  Höhe  der  Republik  und  des  Kaiserreiches 
zu  einem  Teil  der  Allgemeinbildung  (der  Kleriker)  geworden.  Das 
gliederte  sich  trefflich  ein  in  die  Missionsbestrebungen  der  Kirche 
und  in  die  Pflege  der  Karitas,  die  in  den  Infirmarien  der  Klöster 
Krankenpflegeräume  schuf,  zunächst  für  die  Ordensbrüder  und 
Novizen.     Der  heilkundige  Ordensbruder   mit  seinem  Kräutergarten 


Erste  Aneignung  antiker  medizinischer  Hinterlassenschaft  in  Westeuropa.      175 


und  den  Laden  und  Fächern  seiner  Kräuterkammer,  die  stets  vvohl- 
gefüllt  waren,  wie  auch  im  Palaste  des  Bischofs  von  Sevilla,  wovon 
noch  Kräuterverse  Kunde  zu  geben  scheinen  —  dieser  Bruder  und 
seine   Hausapotheke    wurden 

n 


aber  auch  weithin  für  die 
ländliche  Umgebung  der 
Klöster  eine  Stelle  der  Rats- 
erholung und  der  Arznei- 
belehrung, wie  der  Planent- 
wurf  eines  Klosterneubaues 
in  St.  Gallen  und  die  Brief- 
formularien  von  der  Reiche- 
nau  eindringlich  lehren.  Sol- 
chermaßen, wie  in  der  ab- 
schriftlichen Ueberlieferung 
spätantiken  Wissensgutes,  ist 
die  „Mönchsmedizin"  in  die 
Erscheinung  getreten  in  der 
Nachfolge  vorderasiatischer 
Vorbilder  aus  den  Tagen  der 
Kirchenväter. 


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Abb.  84.  Stück  aus  dem  Klosterbauplan  von 
St.  Gallen  (Schwerkrankenzimmer,  Arztwohnung, 
Kräuterkammer,  Kräutergarten)  aus  dem  Jahre  820. 


Hier  ist  auf  einen  beach- 
tenswerten Umweg  hinzu- 
weisen, den  die  antike  Kultur 
über  die  unruhigen  Jahrzehnte 
der  Völkerwanderung,  schein- 
bar aber  doch  nur  scheinbar 
ausschließlich,  genommen  hat 
in  die  Tage  der  karolingischen 
Renaissance.  Denn  wie  vorher 

schon  zu  den  Zeiten  der  Marcellus,  so  hat  auch  in  den  Merowingerzeiten 
direkt  ein  bescheidenes  Hinüberströmen  altklassischer  Medizinreste 
nach  Gallien  und  das  westliche  Germanien  noch  stattgefunden.  Den 
Beweis  dafür  bringt  der  schon  genannte  diätetische  Brief  des 
Anthimus  an  Theuderich,  der  in  Metz  seine  Residenz  hatte,  wenn 
er  auch  südliches  Gallien  mitbeherrschte. 

Irland  aber  hat  recht  früh  unter  direktem  griechischem  und 
auch  morgenländischem  Einfluß  gestanden;  man  verstand  dort  zu 
Beginn  des  Mittelalters  noch  Griechisch.  Ob  Medizinisches  mit  die- 
sem gelehrten  Import  auf  die  grüne  Insel  kam,  davon  wissen  wir 
nichts.    Rom  hat  dort  nie  geherrscht,  wohl  aber  im  südlichen  Eng- 


1 7  6     Erste  Aneignung  antiker  medizinischer  Hinterlassenschaft  in  Westeuropa. 

land,  wo  auch  Laienschultraditionen  in  bescheidenem  Maße  lebendig 
blieben,  bis  Gregor  der  Große  seine  Missionäre  zu  Ende  des  6.  Jahr- 
hunderts nach  England  schickte,  die  dort  Klosterschulen  ins  Leben 
riefen.  Aus  diesen  nahm  dann  auch  das  lerneifrige  Irland  vieles 
herüber.  In  England  herrschten  damals  schon  die  Angelsachsen, 
und  bei  ihrem  größten  Gelehrten  des  Mittelalters,  bei  Beda  dem 
Ehrwürdigen  (68o — 735),  sehen  wir  auch  das  medizinische  Einzel- 
wissen jener  vorkarolingischen  Uebergangszeit  lebendig,  das  von 
nun  ab  Iren  und  Angelsachsen  samt  anderem  klassischem  Wissens- 
gut eifrig,  durch  Frankreich,  das  westliche  Deutschland  und  die 
Schweiz  bis  nach  Oberitalien  wandernd,  verbreiteten.  Luxeuil,  Fulda, 
Reichenau,  St.  Gallen,  Bobbio  waren  so  einige  ihrer  Etappen.  Beda 
verdankte  IsiDOR  manches,  auch  Medizinisch-Naturwissenschaftliches 
(meist  apogryphes),  wie  besonders  eine,  auch  im  Namen,  an  IsiDORS 
Buch  „De  natura  rerum"  anknüpfende  Schrift  dartut. 

Von  der  damaligen  medizinischen  Gebrauchsliteratur  haben  wir 
heute  nur  kleine  Einzelstücke  und  Fragmente  über  Aderlaß  und 
Säftelehre,  kritische  und  ägyptische  Tage,  Rezeptarienfragmente  und 
ähnliches,  zum  Teil  mit  berühmten  antiken  Aerztenamen  gestempelt, 
namentlich  auch  Stücke  aus  der  ärztlichen  Briefliteratur  des  Spät- 
hellenismus, bald  als  galenisch,  bald  als  hippokratisch  ausgegeben. 
Auch  Jahreszeiten-  und  Monatsdiätetik  ist  nicht  selten  darunter. 

Die  latinisierten  echten  Schriften  der  Heroen  antiker  Heilkunde 
wurden  daneben  beim  Abschreiben  nicht  vergessen,  wenn  auch  der 
Widerspruch  gegen  die  pflegsame  Weitergabe  dieses  antiken  heid- 
nischen Wissensgutes  noch  nicht  verstummt  war.  Das  tut  eine  Bam- 
berger Selbstverteidigung  eines  von  der  großen  Wichtigkeit  gerade 
dieses  Schrifttums  aus  der  Heidenzeit  überzeugten  Klerikers  dar,  die 
anscheinend  ein  deutscher  Mönch  der  zweiten  Hälfte  des  8.  Jahr- 
hunderts verfaßt  hat.  Sie  lehnt  sich  mit  Wärme  an  IsiDOR  und 
Cassiodor  an,  an  ersteren  auch  Hraban,  der  Schüler  des  wissen- 
schaftlichen Beraters  Karls  des  Großen,  Alchvine  des  Angelsachsen. 
Kurz  nach  dem  Tode  des  Kaisers,  der  wie  alle  Wissenschaften  so 
auch  die  Medizin  zu  pflegen  suchte,  schrieb  Hrabans  begabter 
Schüler  auf  der  Bodenseeinsel  Reichenau,  Walahfrid  (Strabo),  noch 
in  jungen  Jahren  (828  n.  Chr.)  444  Hexameter  über  die  Heilwir- 
kungen der  Kräuter  seines  Klostergartens,  seinen  „Hortulus",  der 
schon  den  feinen  Geist  des  späteren  Abtes  erkennen  läßt.  Walah- 
frid kennt  noch  den  Serenus;  sein  Klostergenosse  Jacobus  hatte 
ihn,  wie  seine  20  Heilkräuterverse  besagen,  im  Auftrage  Kaiser 
Karls  handschriftlich  überliefert. 

Eine  wohl  noch  in  der  vorkarolingischen  Uebergangsepoche 
entstandene,  spätestens  in  den  Anfang  des  S.Jahrhunderts  zu  setzende 


Erste  Aneignung  antiker  medizinischer  Hinterlassenschaft  in  Westeuropa.      1 7  7 

kompilatorische  Arbeit  des  Mittelalters  ist  die  vor  allem  auf  der 
CAELIUS-Literatur  sich  aufbauende  „Concordantia  Ippocratis,  Galieni 
et  Suriani",  eine  Art  Leitfaden  der  medizinischen  Praxis,  der  eben 
herausgegeben  wird.  Er  hat  sich  in  zwei  Handschriften  in  Deutsch- 
land erhalten  und  fand  bis  ins  10.  Jahrhundert  Verwendung  im 
Unterricht  der  französischen  klerikalen  Medizinschulen,  besonders  in 
Chartres,  wo  der  Franke  Heribrand  als  Lehrer  der  Heilkunst  da- 
mals einen  besonderen  Ruf  hatte,  der  neben  diagnostischen  und 
prognostischen  Schriften  aus  der  Antike  auch  pharmakologische 
(dinamidia.  farmaceutica,  butanica)  und  selbst  chirurgische  Schriften 
vorlas  und  kommentierte,  schließlich  auch  die  genannte  concordantia 
„methodischer"  Schulrichtung.  Aber  auch  an  anderen  Schulen  fran- 
zösischer Klöster,  besonders  an  der  Loire  in  Marmoutier  und  Tours, 
blühte  der  medizinische  Unterricht  im  11.  und  1 2.  Jahrhundert,  wofür 
besonders  die  Xamen  Raoul-Leclerc  und  Guillaume  Firmat  ge- 
nannt seien.  Hier  an  der  Loire  wirkte  auch  der  Kleriker  Odo  von 
Meung  (18  Kilometer  unterhalb  Orleans  an  der  Loire  gelegen),  viel- 
leicht an  der  Schule  von  Tours  gebildet,  jedenfalls  mit  der  medizi- 
nischen Literatur  der  Uebergangszeit  vom  Altertum  zum  Mittelalter 
ziemlich  vertraut.  Von  ihm  stammt  mit  großer  Wahrscheinlichkeit 
—  nur  ein  HuGO  von  Tours,  gleichfalls  aus  dem  11.  Jahrhundert, 
kommt  als  Verfasser  neben  ihm  vielleicht  noch  in  Frage  —  ein  la- 
teinisches Kräuterarzneigedicht  „De  herbarum  virtutibus",  in  77  Ka- 
piteln aus  2269  Hexametern  bestehend,  das  als  „Macer  floridus" 
durch  das  ganze  Mittelalter  bis  ins  16.  Jahrhundert  hinein  in  hoher 
Schätzung  stand.  Der  Pseudonyme  Verfassemame  geht  auf  die  Er- 
wähnung eines  solchen  Kräutergedichts  in  den  Tristien  des  Ovid 
zurück,  verfaßt  von  Aemilius  Macer  aus  Verona,  der  als  Dichter 
einen  guten  Namen  hatte^  von  dem  uns  aber  nichts  erhalten  ist. 
Das  im  letzten  Viertel  des  1 1 .  Jahrhunderts  entstandene  Gedicht,  für 
das  man  (später)  den  Namen  des  Macer  entlehnte,  entnimmt  sein 
Wissen  hauptsächlich  der  Medicina  Pseudo-PHnii  und  den  „Olera"  des 
Gargilius  Martialis,  ferner  der  alphabetisch  umgearbeiteten  und 
bereichterten  lateinischen  DiOSKURlDES-Uebersetzung  aus  der  Goten- 
oder Langobardenzeit;  auch  die  Gradusschrift  des  Konstantin  von 
Afrika,  der  1087  gestorben  ist,  soll  als  Quelle  herangezogen  sein. 
Darin  wäre  also  schon  eine  literarische  Einwirkung  Süditaliens  bezw. 
Salernos  auf  die  französischen  Medizinschulen  zu  erkennen,  die  für 
das  letzte  Viertel  des  1 1 .  Jahrhunderts  wenig  Walirscheinlichkeit  hat. 
Für  die  deutsche  Seherin  und  Krankenheilerin  HILDEGARD 
von  Bingen  (1098 — 1179)  kommt  in  ihren  beiden  medizinischen  Ar- 
beiten, der  „Physica"  und  der  ,  Causae  et  Curae",  beide  durch  reich- 
liche Einsprengungen    deutscher  Bezeichnungen   ausgezeichnet,   so- 

Meyer-Steineg  u.  Sudhoff,  Illustr.  Geschichte  der  Mediitn.  12 


178     Erste  Aneignung  antiker  medizinischer  Hinterlassenschaft  in  Westeuropa. 

wohl  Konstantin  von  Afrika  als  auch  französiches  Denken  und 
Lehren  aus  Tours  und  Paris  bestimmt  in  Betracht,  darunter  aller- 
dings der  große  deutsche  Victoriner  Hugo.  Odo  und  Hilde- 
gard kennte  man  wohl  als  die  literarischen  Höhenpunkte  der  mittel- 
alterlichen Klerikermedizin,  der  „Mönchsmedizin"  bezeichnen,  wenn 
man  diesen  Terminus  überhaupt  beibehalten  will.  Literarisch  herrschte 
in  Frankreich  und  wohl  auch  in  Deutschland  das  gelehrte  Kleriker- 
tum  bis  zum  Ende  des  12.  Jahrhunderts  völlig  zweifellos  in  der  Me- 
dizin, wenn  auch  Salernitaner  Aerzte  schon  da  und  dort  sich  be- 
tätigten, unter  denen  ja  stets  auch  Kleriker  gewesen  sind.  Kon- 
stantin von  Afrika,  der  als  Benediktiner  von  Monte  Cassino  sein 
Leben  beschloß,  war  in  seinen  Schriften  im  12.  Jahrhundert  in  ganz 
Westeuropa  weithin  bekannt,  auch  in  Deutschland.  In  ISIieder- 
deutschland  ist  zu  Ende  des  1 1.  Jahrhunderts  schon  ein  Salernitaner 
Arzt  Adamatus  an  Bischofshöfen  nachweisbar.  Weit  eindringlicher 
wirkt  aber  die  Schilderung  RiCHERS  von  Rheims  vom  Auf  ein  ander- 
platzen eines  ungenannten  Salernitaner  Praktikers  mit  dem  Vertreter 
der  französischen  gelehrten  Klerikermedizin  Derold,  später  Bischof 
von  Amiens,  am  Königshofe  Karls  HL,  des  Einfältigen  (8g8 — 929). 
Leibarzt  des  Königs  war  der  genannte  Derold;  die  Königin  hatte 
aber  einem  Salernitaner  Laienarzte  ihr  ganzes  Vertrauen  geschenkt, 
von  dem  der  Kleriker  RiCHER  behauptet,  zweifellos  gestützt  auf  fran- 
zösische klerikale  Ueberlieferung,  daß  er  keinerlei  gelehrtes  Wissen 
besessen  habe,  wie  sich  bei  den  Wortkämpfen  der  beiden  Aerzte 
beim  Nachtisch  der  königlichen  Tafel  zur  allgemeinen  Belustigung 
herausstellte.  Daß  der  Klerikerarzt  französischer  Prägung  dem  Laien - 
arzte  aus  Salerno  auch  in  der  ärztlichen  Praxis  überlegen  war,  sucht 
RiCHER  durch  die  größere  Beherrschung  der  Gifte  und  Gegen- 
gifte bei  Derold  zu  erweisen,  der  seinen  Nebenbuhler  fast  ums 
Leben  gebracht  hätte,  während  dieser  ihm  nicht  viel  anzuhaben  ver- 
mochte, was  man  aber  ebensogut  als  ein  Zeugnis  für  schlichtere  Bie- 
derkeit der  Schule  zu  Salerno  verwerten  könnte.  Jedenfalls  spiegelt 
sich  in  der  ganzen,  anekdotenhaft  zugespitzten  Erzählung  der  scharfe 
Gegensatz  wieder,  der  schon  zu  Anfang  des  10.  Jahrhunderts  zwi- 
schen der  Gelehrsamkeit  der  Klosterschulen  und  dem  traditionellen 
ärztlichen  Können  Salernos  und  wohl  Süditaliens  überhaupt  bestand. 


Abb.  85.     Meerbusen  von  Pesto  mit  Salemo,  von  Norden  gesehen. 


Salerno.    . 

Laudibus  etemum  nullus  negat  esse  Salemum. 
Illuc  pro  morbis  totus  circumdatur  orbis, 
Nee  debet  spemi,  fateor,  doctrina  Salemi. 

Der  deutsche  „Archipoeta"  (1165). 

Daß  Salernum  am  Golfe  von  Paestum,  geschützt  durch  hohe 
Bergzüge  im  Norden  und  Osten,  ein  guter  Aufenthalt,  vielleicht 
sogar  eine  Art  Luftkurort  schon  zur  frühen  Kaiserzeit  Roms  ge- 
wesen ist,  kann  man  zur  Not  aus  der  15.  Epistel  des  Horaz  an  Vala 
herauslesen.  Daß  dort  schon  in  den  Tagen  der  Antike  eine  höhere 
Schule  oder  sogar  eine  Aerzteschule  gewesen  sei,  dafür  fehlt  jeder 
ernsthafte  historische  Beleg. 

Wie  die  Erzählung  RiCHERS  von  Rheims  dartut,  die  im  letzten 
Jahrfünft  des  10.  Jahrhunderts  aufgezeichnet  ist,  hat  eine  Aerzte- 
korporation,  der  man  .schon  eine  gewisse  Autorität  zuerkannte  und 
die  auf  die  Ausbildung  von  Schülern  in  der  Heilkunde  bedacht  war, 
bereits  im  9.  Jahrhundert  zu  Salerno  bestanden,  vielleicht  schon 
während  dessen  ganzer  Dauer. 

Die  Grundbedingungen  für  eine  Pflegestelle  ärztlicher  Kunst 
und  Lehre  waren  in  Salerno  zweifellos  vorhanden.  Herrliche  Lage 
an  einer  weiten  Meeresbucht.  Gegen  Nord-  und  Ostwinde  boten 
hohe  Bergmassen  Schutz,  in  die  sich  grüne  Waldtäler,  durchströmt 
von  frischen  Quellbächen,  hineinzogen,  darüber  ein  südlicher  Himmel, 
im  Hafen  reger  Verkehr,  der  auch  uraltem  Wallfahrtsbrauche  förder- 
lich war  (Abb.  86).  Zahlreiche  Kranke  kamen  zu  Schiff  oder  wurden 
von  den  Bergen  nieder  zu  den  Gnadenstätten  geleitet.  Ein  gutes 
Verhältnis  zwischen  Priesterschaft  und  Aerztegilde  gedieh  beiden  zum 
Vorteil.  Man  hatte  die  Bereiche  klug  gegeneinander  abgegrenzt. 
Die  sich  entwickelnde  Schule  ward  als  Laienschule  durchgeführt,  ohne 


i8o 


Salerno. 


antiklerikal  zu  werden.  Laien ärzte  und  Klerikerärzte  wirkten  in  Kunst 
und  Lehre  friedlich  nebeneinander;  doch  scheint  die  Mehrzahl  der 
Aerzte  verheiratet  gewesen  zu  sein,  was  für  die  Frauen-  und  Kinder- 
praxis seine  in  die  Augen  fallenden  Vorteile  hatte.  Manches  Aeußer- 
liche  erinnert  in  der  „Civitäs  Hippocratica",  wie  Salerno  bald  sich 
nannte,  an  Kos;  die  Bedingungen  des  Gedeihens  waren  in  mehrfacher 
Hinsicht  verwandte. 


Abb.  86.     Lage  der  Stadt  Salerno  im  Schutze  der  Berge,  von  Süden  gesehen. 


Vom  frühen  Lehrgang  der  Salernitaner  Aerzteschule  wissen 
wir  nichts  Greifbares.  Daß  sie  sich  zunächst  mit  dem  allgemeinen 
in  Süditalien  und  im  weiteren  Westeuropa  vorhandenen  latinisierten 
antiken  Lehrgut  der  Medizin  behalf,  ist  anzunehmen.  Man  war  aber 
in  Salerno  den  Aneignungsbestrebungen  weiteren  griechischen  medi- 
zinischen Wissensgutes  nahe,  räumlich  und  zeitlich,  die  im  6. — S.Jahr- 
hundert sich  in  den  zweisprachigen  Gebieten  des  Südens  der 
Apenninenhalbinsel  ausgewirkt  haben,  ohne  daß  war  dafür  bis  heute 
bestimmte  Zentren  genauer  anzugeben  wüßten.  Man  kann  so  gut 
von  Sizilien  als  von  Benevent  oder  auch  von  Salerno,  oder  besonders 
von  südlicher  gelegenen  Gegenden  des  Festlandes  reden.  Auch  die 
Gegend  von  Otranto  kommt  ernstlich  in  Frage  neben  Tarent.  In 
Otranto  lebte  und  wirkte  ja  Sabbatai  bp:n  Abraham,  den  man 
Donnolo,  „das  Herrchen",  nannte,  und  der  dort  im  g.  oder  lo.  Jahr- 
hundert ein  hebräisches  Antidotarium  zusammenschrieb. 

Wir  wissen  nicht,  ob  sich  gerade  Salerno  an  der  Uebersetzer- 
arbeit  beteiligte,  wo  man  ja  auch  noch  ein  wenig  Griechisch  ver- 
stand, wie  das  schon  der  Handel  nach  der  Levante  mit  sich  brachte, 
der  in  Salerno  niemals  ganz  gering  war  und  mit  dem  Ende  des 
I  I.Jahrhunderts  durch  das  Einsetzen  der  Kreuzzüge  (seit  logö)  einen 
starken  Aufschwung  nahm.  Mit  dem  gleichen  Zeitpunkte  setzt  auch 
der  literarische  Aufschwung  Salernos  ein,  den  ich  als  „Hochsalerno" 


Salerno.  18 1 

bezeichne,  der  mit  dem  Bekanntwerden  der  Schriften  Konstantins 
von  Afrika  anhebt.  Völlig  zufällig  wird  die  Koinzidenz  des  starken 
Aufschwungs  der  Medizinschule  von  Salerno  mit  der  Zeitperiode  der 
Kreuzzüge  nicht  sein,  aber  die  Wurzeln  ihrer  literarischen  Blüte 
treiben  doch  aus  anderen  Befruchtungsmomenten.  Wenn  man  in 
den  Zeiten  Frühsalernos  im  9.,  10.  und  11.  Jahrhundert  nicht  direkt 
an  der  iVneignungsarbeit  aus  dem  Griechischen  beteiligt  war,  so 
hatte  man  doch  an  ihrem  Gewinne  völligen  Anteil.  Man  scheint 
aber  in  jenen  frühen  Jahren  sein  Hauptbestreben  darauf  verlegt  zu 
haben,  das,  was  in  praktischer  Uebung  der  Heikunde,  an  ärztlicher 
Kunst  in  familiärer  und  körperschaftlicher  Ueberlieferung  aus  den 
Tagen  Altroms  und  der  Magna  Graecia  noch  irgend  lebendig  war, 
zu  hegen  und  zu  pflegen  und  weiterzuvermitteln  an  Schüler  und 
Gildengenossen  in  patriarchalischer  Form.  Man  fühlt  sich  als  Erbe 
dieser  antiken  Kunstübung,  antiken  Könnens  und  freut  sich  frühe 
des  Ehrennamens  einer  „Civitas  Hippocratica",  der  für  uns  ja  einen 
Gleichklang  an  die  Academia  Hippocratica  von  Gondeschäpür  weckt, 
aber  gewiß  nicht  in  Gedanken  daran  sich  anschloß,  wenn  auch 
Cassiodor  seine  Universitätsideen  aus  Syrien  geholt  haben  mag, 
mit  denen  er  frühe  in  seinem  „Vivarium"  Abendländisches  an  Morgen- 
ländisches erneut  knüpfte. 

Daß  man  im  Unterricht  der  fachlichen  Lehrfibeln  in  Diagnostik, 
Prognostik,  Grundanschauungen  der  Physiologie  und  Pathologie  nicht 
entbehren  konnte,  ebenso  wenig  wie  für  die  Praxis  der  pharmako- 
logischen und  therapeutischen  Leitfäden,  ist  klar.  Dafür  mußte 
die  literarische  Tradition  herhalten,  die  die  Uebersetzungsliteratur 
spendete.  Von  der  Entstehung  eines  unentbehrlichen  aufgezeich- 
neten Behelfes  des  täglichen  Bedarfs  der  Praxis  im  Lehrkörper  von 
Salerno  scheint  uns  noch  eine  dunkle  Kunde  aus  der  Jugendzeit 
der  Schule  übermittelt  zu  sein  in  den  Worten  einer  Legende  von 
7  Meistern:  „tunc  temporis  fecerunt  et  composuerunt  librum,  qui 
vocatur  Antrorarium";  ein  Antidotarium,  eine  Sammlung  von  Ge- 
brauchsformeln gangbarer  Heilmittel,  ein  Büchlein,  in  w-elchem  die 
überkommenen  und  erprobten  Magistralformeln  der  Schule,  der 
Arzneischatz  von  Salerno  aufgezeichnet  war.  Daß  darunter  viel 
Eigenes  gewesen  wäre,  braucht  gar  nicht  angenommen  zu  werden; 
das  liegt  dem  Mittelalter  noch  auf  Jahrhunderte  fern.  Das  U eber- 
komme ne  hat  Wert;  man  muß  es  sich  nur  aneignen.  Und  gerade 
der  Aneignungsvorgang  ist  das  Wichtige,  darin  kommt  der  Schul- 
wille zum  Ausdruck.  Man  sichtet  und  schweißt  kleine  Sammlungen 
von  Rezepten  und  einzelne  Anweisungen  zusammen  und  freut  sich 
gleichzeitig  der  mit  Einzelrezepten  errungenen  Erfolge  in  der  Sprech- 
stunde   und   am    Krankenbett,    die   die   tägliche   Erfahrung   köstlich 


i82  Salerno. 

mehrt.     Gemeinsame  Schätzung  festigt  das  Vertrauen,   den  Glauben 
und  die  Sicherheit  der  Schule  in  der  Uebung  ihrer  Kunst. 

Im  „Antidotarium  Nicolai"  haben  wir  wohl  die  spätere  Redaktion 
dieses  altüberkommenen,  als  Ganzes  oder  stückweise  aus  der  Antike 
übernommenen  „Antrorarium"  heute  noch  erhalten,  das  in  der  hand- 
schriftlichen Ueberlieferung  der  Zeit  um  iioo  nicht  viel  mehr  als 
50 — 60,  später  140 — 150  Arzneiformeln  mit  Angabe  ihrer  Wirkung 
und  Anwendungsweise  enthält,  bald  kommentiert,  ständig  erweitert 
und  mit  Darstellungsvorschriften  in  besonderer  Ausarbeitung  und 
Zusammenstellung  ergänzt  wurde.  Vermutlich  wird  sich  das  Proto- 
typ der  ersten  Sammlung  aus  der  Antike  in  der  Literatur  des 
5. —  8.  Jahrhunderts  noch  wieder  auffinden  lassen.  Wohl  möglich, 
daß  der  im  12.  Jahrhundert  als  Verfasser  angeblich  genannte  Nico- 
laus, der  sich  echt  hochmittelalterlich  als  „rogatus  a  quibusdam" 
einführt,  dennoch  ein  Pseudonymus  ist,  der  durch  den  NiCOLAOS 
Alexandrinos  sich  erklären  würde,  von  dem  Aetios  als  Verfasser 
eines  Aovafispöv  spricht,  von  dem  im  11.  oder  12.  Jahrhundert  eine 
flüchtige  Kunde  nach  Salerno  verweht  sein  könnte,  eindringlich 
genug,  um  darin  den  wahren  Verfasser  des  altbewährten,  noch  täg- 
lich benutzten  Antidotars  zu  vermuten. 

Ueber  den  Gariopontus  oder  Warimpotus,  den  man  zu  dem 
festen  Bestand  von  Frühsalerno  zu  rechnen  mehr  als  billig  sich 
gewöhnt  hat,  habe  ich  mich  schon  oben  ausgesprochen.  Form  und 
Inhalt  gehören  ins  8.  Jahrhundert,  während  allerdings  nach  dem 
Bericht  des  Petrus  Damiani  in  seinen  Briefen  um  1050,  also  gegen 
Ende  von  Frühsalerno,  als  Zeitgenosse  des  CONSTANTINUS  ein 
„Guarimpotus  senex"  als  Gelehrter  und  [!]  Arzt  lebte  (apprime  literis 
eruditus  ac  medicus),  offenbar  ein  Kleriker.  Daß  er  sich  mit  dem 
pseudogalenischen  „Passionarius"  literarisch  befaßt  hat,  ist  immerhin 
möglich,  da  mehrere  Handschriftensubskriptionen  dies  berichten, 
z.  B.  eine  in  Peterhouse-College  zu  Cambridge:  „Iste  liber  ex  di- 
versis  auctoribus  seil.  Paulo  et  Alexandro  ceterisque  a  domno  Warim- 
poto  compositus",  wenn  auch  die  Quellenautoren  dieser  und  anderer 
Nachschriften  nicht  recht  stimmen.  Wie  wenig  Wert  das  nächste 
Jahrhundert,  das  eigentliche  Hochsalerno,  auf  die  Arbeit  des  ge- 
lehrten Langobarden  an  dem  ehrwürdigen  Handbuch  medizinischer 
Praxis  legte,  dürfte  die  Tatsache  einwandfrei  festlegen,  daß  der  Arzt 
Archimatthaeus,  der  den  Copho  und  Johannes  Ppatearius 
in  seinem  „Modus  medendi"  bearbeitet  hat,  nicht  von  Guarimpotus 
spricht,  sondern  den  „Galienus  in  passionario"  zitiert,  ebenso  andere 
Autoren  Hochsalernos ;  so  spricht  auch  der  unbekannte  Verfasser 
der  Fieberlehre,   welche   die   große   Salernitaner  Autorenkonkordanz 


Salemo. 


183 


des  Breslauer  Kodex  über  Krankheitsheilung  eröffnet  und  um  1150 
zusammengestellt  ist,  einfach  vom  „Passionarius",  wie  das  Buch  da- 
mals schon  seit  etwa  4  Jahrhunderten  hieß. 

Neben  Warimpot  werden  unter  den  Frühsalernitanern  noch 
andere  Männer  offenbar  langobardischer  Herkunft  genannt,  wie 
Ragenifrid,  Grimoald  u.  a. ;  als  Schriftsteller  haben  sie  aber 
keinen  Xamen  bekommen  und  mit  Recht. 

Auf  älteres  Literaturgut  der  früheren  Uebergangszeit  vom  Alter- 
tum zum  Mittelalter  geht  auch  das  als  „Practica  Petrocelli,  Petron- 
celli,  Petricelli  oder  Petronii"  etwas  verschwommen  ü eberlieferte 
zurück ;  schon  die  vielen  Narnensformen  mahnen  zur  Vorsicht,  doch 
wird  das  vorkonstantinische  Alter  dieses  Schriftwerks  schon  dadurch 
gewährleistet,  daß  es  recht  früh  ins  Früh-Mittelenglische  übersetzt 
wurde.  Vermutlich  besteht  hier  das  gleiche  Verhältnis,  daß  ein 
altes  Werk,  dessen  Redaktion  in  die  Uebergangszeit  zurückgeht,  mit 
einem  wirklichen  Salernitaner  des  mittleren  oder  zu  Ende  gehenden 
II.  Jahrhunderts  in  Verbindung  gebracht  ist,  wie  bei  dem  Warim- 
POTUS.  Die  Sache  wird  aber  in  diesem  Falle  noch  dadurch  kom- 
pliziert, daß  der  angebliche  Verfasser  der  „Practica  Petrocelli"  in  der 
zweiten  Hälfte  des  11.  Jahrhunderts  vermutlich  nachkonstantinisch 
oder  zu  dessen  Lebzeiten  wirklich  selbst  als  Salernitaner  Autor  auf- 
getreten ist  und  in  der  Weise  der  früheren  Autoren  von  Hoch- 
salerno  „Curae"  verfaßt  hat,  die  zerstreut  neben  Ferrarius,  Bar- 
THOLOMAEUS  und  Platearius  im  Breslauer  Codex  Salernitanus  aus 
der  Mitte  des  1 2.  Jahrhunderts 
sich  erhalten  haben  unter  dem 
Namen  des  Petronius.  voll- 
ständig, wie  es  scheint,  als 
„Curae  Petroncelli"  in  einer 
Handschrift  der  Ambrosiana  zu 
Mailand,  die  noch  gründlicher 
untersucht  und  veröffentlicht 
werden  sollte.  Vermutlich  ist 
die  „Practica  Petrocelli"  auf  der 
Pariser  Nationalbibliothek  Pseu- 
donym, aber  an  sich  ein  überaus 
wertvolles  Stück  frühmittelalter- 
licher medizinischer  Literatur, 
das  mit  Salerno  und  seiner 
Schule  in  gar  keiner  Beziehung  

?          ,         ,    r.              ,  Abb.    87.     Galenos    als   InitiaUnld    eines    in 

weiter    steht,    als    daß    es    dort  p^ihsalemo     noch    in    Gebrauch     stehenden 

in   den  Tagen   von  Frühsalerno  Pseudonymen    „De    pulsibus    el    urinis"    im 

wie  anderwärts  benutzt  wurde.  Breslauer  Kodex  (ca.   ii6o)- 


P5k 


i84 


Salerno. 


Und  solcher  literarischer  Frühprodukte  aus  der  Antike  oder  der 
Ueberg-ang-szeit    g-ab    es    noch    manches   neben    „Warimpotus''    und 


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Abb.  88.     Die  Anfangsseite  (Bl.   ii3r)    des  Breslauer  Codex  Salerintanus    (Stadtbibliothek 
Ms.   1302),  Liber  de  Febribus  magistris  Ferrarii). 

„Petroncellus",  meist  kleine  Stücke,  z,  B.  über  die  Viersäftelehre,  über 
die  Komplexionen  und  Aehnliches,    Auch  über  die  Krankheiten  der 


Salerno.  1 85 

vier  Körperregionen en  (anklingend  an  pseudohippokratische  Episteln) 
und  über  die  Aderlaßlehre  waren  Schriften  kleineren  Umfangs  in 
Salerno  im  Gebrauch,  daneben  ein  Fiebertext,  der  offensichtig  aus 
der  pneumatischen  Schule  stammt  und  sich  einmal  auf  Magnos, 
einen  Schüler  des  Athexaios  von  Attaleia,  beruft.  Ein  „Liber  de 
agnoscendis  febribus  ex  urinis"  unter  dem  Namen  eines  Alexander, 
vielleicht  des  Trallianers,  findet  sich  lateinisch  im  berühmtesten  Sammel- 
kodex der  Salernitaner  Literatur,  einer  schon  mehrfach  genannten 
Handschrift  des  Breslauer  Magdalenen-Gymnasiums,  auf  welcher  ihr 
Entdecker  Henschel  und  seine  Nachfolger  die  gesamte  Literatur 
von  Früh-  und  Hochsalerno,  die  wir  noch  kennen  lernen  werden, 
völlig  neu  aufzubauen  vermochten.  Dieser  Kodex  ist  um  11 60 — 1170 
in  Salerno  selbst  geschrieben;  aus  ihm  kennen  wir  auch  fast  alle 
eben  angeführten  kleineren  Texte  und  sind  über  ihre  Benutzung  in 
Salerno  durch  ihn  unterrichtet.  Warimpot,  Petroncellus  und 
das  sogenannte  „Antidotarium  Nicolai"  haben  darin  allerdings  keine 
Aufnahme  gefunden,  obgleich  sie  dem  Sammler  und  seinen  Autoren 
wohl  bekannt  waren. 

Ein  Zeitgenosse  des  gleich  zu  besprechenden  KONSTANTIN  war 
schließlich  Alfanus,  der  zuerst  Arzt  in  Salerno  gewesen,  dann 
mit  Desiderius  nach  Monte  Cassino  als  Mönch  übergesiedelt  sein 
soll  und  schließlich  als  Alfanus  I.  (1058— 1085)  Erzbischof  von 
Salerno  wurde.  Jedenfalls  war  er  ein  gelehrter,  mehrerer  Sprachen 
kundiger  Mann ;  er  hat  unter  dem  Titel  „Premnon  physicon  V  des 
Bischoffs  Nemesios  bekannte  Schrift  „Ueber  die  Natur  des  Menschen" 
(ca.  380  n.  Chr.)  aus  dem  Griechischen  ins  Lateinische  übersetzt,  ist 
also  eigentlich  im  Bereiche  seines  kirchlichen  Amtes  geblieben  und 
bildet  eine  späte  Bewahrheitung  der  völlig  unbestimmten  Vermutung, 
daß  auch  das  frühe  Salerno  sich  an  der  Ueberleitung  griechischen 
medizinischen  Literaturgutes  in  das  abendländische  Latein  beteiligt 
habe,  wenn  Alfanus  in  Salerno  weilte,  als  er  den  Nemesios  über- 
setzte. Die  Tatsache  tritt  aber  darum  völlig  zurück,  weil  sie  sich 
erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  1 1.  Jahrhunderts  ereignete,  als  ein 
anderer  nach  Italien  gekommen  war,  der  in  großzügigster  Weise 
griechisches  und  arabisches  Aerztewissen  in  breitem  Strome  in  das 
schmale  Literaturbett  von  Salerno  einmünden  und  damit  eine  völlig 
neue  Epoche  für  das  Lehrstädtchen  am  Golfe  von  Pesto  und  zugleich 
für  das  ganze  Abendland  anheben  ließ  — 

Konstantin  von  Afrika. 


i)  Von  Alfanus  selbst  „Stipes  naturalium"  übersetzt,  also  etwa  ..Stamm, 
d.  i.  Grundlage  der  Natur-  und  Heilkunde". 


1 86  Salerno. 

Ums  Jahr  1020  in  Karthago  geboren,  hat  Konstantin  Aegypten 
und  Syrien  aus  Wissensdrang  besucht.  Daß  er  allzuweit  in  das 
Herz  der  islamischen  Kulturländer  eingedrungen  sei,  ist  kaum  an- 
zunehmen, denn  von  AviCENNA  (f  1037)  hatte  er  offenbar  keine 
Kenntnis  erlangt.  Die  Berichte  über  seine  Orientreisen  sind  zweifel- 
los stark  übertrieben.  Sein  Besuch  Konstantinopels  ist  ungewiß. 
Jedenfalls  hat  er  sich  eine  genügende  Kenntnis  des  Arabischen, 
Lateinischen  und  auch  Griechischen  angeeignet,  wie  sie  ja  dem 
Geschäftsverkehr  Karthagos,  Siziliens  und  Süditaliens  nach  der  Le- 
vante hin  in  mäßigem  Grade  eignete.  Mit  arabischen  medizinischen 
Werken,  namentlich  des  i o.  Jahrhunderts,  ausgestattet,  kehrte  er  nach 
Karthago  in  den  50er  Jahren  des  11.  Jahrhunderts  zurück,  wo  er 
den  Boden  für  seine  Bestrebungen  nicht  geeignet  fand.  Daß  er 
wegen  der  unheimlichen  Tiefe  seines  Wissens  dort  Verfolgungen 
habe  erdulden  müssen,  ist  abermals  Ausschmückung.  Etwa  ums  Jahr 
1065  oder  kurz  nachher  setzte  KONSTANTIN  nach  Italien  über,  wo 
eben  das  Sarazenentum  seine  letzten  Herrschaftskämpfe  um  Sizilien 
bestand  und  verlor.  Arabische  Kultur  blieb  aber  in  Sizilien  und  dem 
benachbarten  Süditalien  noch  für  zwei  Jahrhunderte  ein  wichtiger  Faktor 
unter  der  Einwirkung  ihr  wohlgeneigter  mächtiger  Herrscherpersön- 
lichkeiten unter  Normannen  und  Staufern.  Konstantin  wurde  zum 
ersten  großen  Interpreten  der  älteren  Medizin  des  Islam  für  das 
Abendland;  er  ist  der  erste,  dem  Namen  nach  bekannte  Uebersetzer 
aus  dem  Arabischen  in  das  Lateinische  überhaupt,  und  was  er  über- 
setzte, war  ausschließlich  Medizin.  Zwar  war  die  frühe  Medizin 
des  Islams  zweifellos  schon  vor  ihm  während  der  Sarazenenherrschaft, 
die  rund  200  Jahre  gedauert  hatte,  in  Sizilien  und  darüber  hinaus 
gewiß  nicht  völlig  unbekannt  geblieben.  Und  doch  wirkte  sie  in 
der  lateinischen  Bearbeitung  des  Konstantin  wie  eine  Offenbarung. 

Konstantin  soll  in  die  Dienste  des  Normannenherzogs  Robert 
Guiscard  getreten  sein,  der  (seit  I075)  in  Salerno  residierte ;  auch  mit 
der  Medizinschule  von  Salerno  werden  sich  einige  Beziehungen  ge- 
knüpft haben,  wenn  auch  eine  eigene  Lehrtätigkeit  Konstantins 
dortselbst  unbewiesen  und  nicht  gerade  wahrscheinlich  ist.  Um  1076 
zog  er  sich  nach  Monte  Cassino  zurück,  wo  damals  eine  gewisse 
Blüte  wissenschaftlichen  Lebens  dank  dem  bedeutenden  Abte  Desi- 
derius  herrschte.  Hier  vor  allem  hat  Konstantin  bis  zu  seinem 
Tode  (1087)  die  literarische  Aufgabe  seines  Lebens  erfüllt  und  die 
Schriften  lateinisch  bearbeitet,  deren  Herausgabe  den  „Monachus  Ca- 
sinensis"  zum  „Orientis  et  occidentis  magister  novusque  effulgens 
Hippocrates"  gemacht  haben  soll,  wie  Kassineser  Chroniken  über- 
treibend sagen,  ihn  aber  tatsächlich  zum  Lehrmeister  des  medizinischen 
Abendlandes  werden  ließ.  Sein  wichtigstes  Werk  ist  die  freie  lateinische 


Salerno.  187 

Bearbeitung  des  „Liber  regalis"  des  'Ali  ibn  al-'Abbäs  in  seinen 
10  theoretischen  und  10  praktischen  Büchern,  das  er  recht  glücklich 
als  „die  ganze  Kunst",  Pantegni  (HavTs/VY])  in  Theorica  und  Practica 
bezeichnete.  Den  Namen  des  Verfassers  hat  er  allerdings  ver- 
schwiegen, was  ihm  schon  40  Jahre  nach  seinem  Tode  Stephanus 
von  Antiochia  in  seiner  wortgetreueren,  aber  weniger  gut  lesbaren 
Uebersetzung  des  gleichen  Buches  mit  Recht  zum  Vorwurf  ge- 
macht hat,  von  seinem  Verdienst  aber,  eines  der  besten  arabischen 
Handbücher  der  Gesamtmedizin  dem  Abendland  bekannt  gemacht 
zu  haben,  nichts  wegnimmt.  Dies  „Pantegni"  hat  denn  auch  einen 
gewaltigen  Eindruck  gemacht  und  ist  weithin  benutzt  worden,  neben 
ihm  hauptsächlich  das  kurze  Lehrbuch  der  Heilkunde  zum  Reise- 
gebrauche des  Ihn  al  Dschazzär,  der  „Viaticus",  bei  dem  er  sich 
gleichfalls  als  Verfasser  ausgibt.  Weitere  Uebersetzungen  aus  dem 
Arabischen  betrafen  hauptsächlich  die  diätetischen,  Harn-  und  Fieber- 
schriften des  Isaak  Judaeus.  Was  er  aus  arabischen  Bearbeitungen, 
zum  Teil  wohl  auch  direkt  aus  dem  Griechischen  (?)  an  Schriften  des 
HiPPOKRATES  und  Galenos  dem  Abendlande  neu  geschenkt  hat: 
die  Aphorismen  mit  ihrem  Galenkommentar,  die  Prognostica,  die 
Lebensregel  bei  akuten  Krankheiten  von  HiPPOKRATES,  die  kleine 
Kunst  und  die  therapeutische  Methode  des  Galenos  („Tegni"  und 
„Megategni")  hat  mit  Ausnahme  der  letzteren,  umfänglicheren  Schrift, 
aber  vermehrt  durch  die  Harn-  und  die  Pulsschrift  des  Theophilos- 
Philaretos  in  lateinischer  Bearbeitung  (gleichfalls  des  Konstantin) 
jahrhundertelang  ein  Handbüchlein  antiker  medizinischer  Weisheit 
im  Mittelalter  gebildet  und  noch  viele  Jahrzehnte  in  der  gedruckten 
Literatur  der  Renaissance  als  „Articella"  das  Bedürfnis  der  Aerzte 
nach  einem  klassischen  Aerzte-Brevier  bestritten.  Allmählich  sind 
ihm  in  den  Drucken  immer  zahlreichere  gangbare  Schriften  zuge- 
wachsen; die  „Isagogae  Johannitii  in  artem  parvam  Galieni"  hatte 
Konstantin  noch  selbst  hinzugetan. 

Man  kann  sich  den  Einfluß  der  Konstantinischen  Bearbeitungen 
arabischer,  altklassischer  und  einiger  byzantischer  Schriften  zur  Heil- 
kunde kaum  groß  genug  vorstellen,  den  der  große  französische 
Medizinhistoriker  Charles  Daremberg  durch  ein  Denkmal  zu  Sa- 
lerno oder  auf  dem  Gipfel  des  Monte  Cassino  durch  einen  Gelehrten- 
kongreß aus  allen  Ecken  Europas  zum  Ausdruck  gebracht  wissen 
wollte.  Am  gewaltigsten  war  der  sofortige  Eindruck  auf  die  Schule 
von  Salerno.  Was  in  den  70er  und  8oer  Jahren  des  1 1 .  Jahrhunderts 
von  dem  Kloster  auf  dem  Gipfel  des  Kassineser  Berges  an  Schriften 
des  Konstantin  nach  Salerno  hinunterströmte,  ist  auch  der  Anlaß 
zu  der  völlig  unbegründeten  Sage  geworden,  die  Medizinschule  von 
Salerno  sei  von  dem  Benediktinerkloster  von  Cassino  aus  gegründet 


i88  Salerno. 

worden.  Zu  Salerno  bestand  schon  eine  bescheiden  blühende  ärzt- 
liche Gildenschule,  die  in  der  Welt  als  solche  bereits  einigen  Namen 
genoß,  als  in  dem  Gründungskloster  des  heiligen  Benedikt  auf  dem 
Kassineser  Berge,  mehr  als  150  km  nördlich  Salerno,  Medizin  oder 
andere  Klosterwissenschaft  überhaupt  noch  keine  Pflegestätte  hatte. 
Die  Sage  von  der  Gründung  der  Salernitaner  Schule  aus  Monte  Cassino 
her  ist  wohl  überhaupt  nichts  weiter  als  eine  ausschmückende  Ein- 
kleidung der  Erinnerung  an  die  gewaltige  Bedeutung,  welche  dem 
Bekanntwerden  Konstantinischen  Schriftwerks  von  Monte  Cassino 
her  innewohnte. 


Abb.  89.     Blick  auf  die  Benediktinerabtei  zu  Montecassino. 


Hatte  man  bisher  am  Golfe  von  Pesto  die  Heilkunde  des  Hippo- 
KRATES,  wie  man  glaubte,  als  Kunst  redlich  gepflegt  und  die  in 
der  Kunstübung  überkommene  Heilweise  unter  Benutzung  der  spär- 
lich überlieferten  lateinischen  Literaturreste,  die  zum  Teil  erst  in  der 
Goten-  und  Langobardenzeit  in  Süditalien  ihre  Gestalt  erhalten 
hatten,  an  eifrige  Schüler  ständig  weitergegeben,  so  lernte  man  nun 
plötzlich  etwas  anderes  kennen,  das  an  Vollständigkeit  der  Lehre 
und  klarer,  methodischer  Formgebung  die  bisherigen  Lehrbehelfe 
himmelweit  überragte  —  von  hervorragenden  Meistern  des  Islams  ge- 
ordnete und  gepflegte  Griechenweisheit  in  wohlverständlicher  Sprache. 
Eifrig  trank  man  an  den  neu  erschlossenen  Quellen,  und  das  flüssige 
Latein  des  Konstantin  löste  auch  den  lehrerfahrenen  Salernitaner 


Salemo.  189 

Kleistern  die  Zunge.  Aus  der  täglichen  Uebermittlung  des  Kon- 
stant] nischen  Schriftinhaltes  an  die  begierigen  Schüler  bildete  sich 
der  junge  Salernitaner  Schulstil.  In  wenigen  Jahrzehnten  erwuchs  in 
Salerno,  anfangs  in  naher  Anlehnung  an  Konstantin  selbst  und 
fachlich  überhaupt  nur  wenig  über  ihn  hinausgreifend,  aber  das  Xeue 
mit  dem  trautüberkommenen  Alten  innig  vermählend,  eine  beträcht- 
liche eigene  salernitanische  Literatur,  vorwiegend  praktischer  Art, 
die  in  ihrer  Ueberlieferungsform  und  ihren  vielfach  weit  voneinander 
abweichenden  Varianten  des  Textes  immer  wieder  ihre  Entstehung 
aus  Lehrvorträgen  und  ihre  Aufbehaltung  in  Vorlesungsnachschriften 
(Kollegienheften)  erkennen  läßt. 


Unter  den  Schülern  des  Konstantin,  die  uns  auch  als  Autoren 
von  Hochsalerno  begegnen,  ist  als  erster  und  vielleicht  einziger 
direkter  ein  „Johannes  Medicus"  zu  nennen,  der  als  Johannes 
AFFLACrrs  bei  einer  Harnschrift  und  bei  einer  Practica  und  Fieber- 
schrift als  Autor  im  Breslauer  Codex  Salernitanus  auftritt,  einer  schon 
genannten  Handschrift,  die  sonst  mit  Autorennennungen  überaus 
spärlich  ist.  Johannes  war  nach  dem  Tode  Konstantins  der  Ver- 
walter seines  literarischen  Nachlasses;  es  kann  daher  nicht  wninder- 
nehmen,  daß  sowohl  seine  Harnschrift  als  auch  seine  „Curae"'  und 
der  ganze  Inhalt  dessen,  das  unter  seinem  Namen  geht,  in  dem  bald 
zu  besprechenden  Sammelwerke  salernitanischer  Therapeutik,  mit 
einem  Werke  aufs  engste  übereinstimmen,  das  als  „Liber  aureus"  in 
der  Baseler  Ausgabe  der  Werke  des  Konstantins  steht.  Auf  jeden 
Fall  wäre  gegen  Ende  des  1 1 .  Jahrhunderts  die  Lehrausarbeitung 
des  Afflacius  von  der  Lehre  seines  Meisters  durchaus  nicht  ver- 
schieden gewesen. 

Besonderen  Ruhm  erlangten  in  der  aufblühenden  Schule  in  den 
Zeiten  von  Hochsalerno  Magister  Johannes  Platearius  (a  Platea). 
Magister  Bartholomaeus,  Magister  Copho  und  Magister  Fer- 
RARIUS  als  hervorragende  Praktiker.  Die  Practica  „Brevis"  des 
Johannes  a  Platea  war  am  längsten  beliebt  und  wurde  noch  im 
16.  Jahrhundert  mehrfach  gedruckt.  Die  volle  Vermählung  alter 
Salernitaner  Lieber  lieferung  aus  der  Antike  mit  Konstantinischem 
Import  betont  schon  äußerlich  Magister  BARTHOLOMAEUS,  indem  er 
sein  praktisches  Buch  als  „Introductiones  et  experimenta  in  practicam 
Hippocratis,  Galieni,  Constantini"  bezeichnete.  Das  Buch  hatte  frühe 
weithin  großen  Ruf.  wenn  auch  das,  was  unter  deutschen  Arznei- 
büchern seit  dem  12.  und  13.  Jahrhundert  seinen  Namen  führt,  nur 
in  bescheidenem  Maße  sich  an  ihn  wirklich  anlehnt,  im  übrigen  den 


igo 


Salerno. 


Rezeptarien  entlehnt  ist,  die  bis  in  die  Karolingerzeit  und  weiter 
zurück  gehen. 

Ein  bedeutender  Arzt  war  ohne  Zweifel  auch  COPHO,  von  dem 
wir  noch  eine  Practica  besitzen,  welche  naeh  einer  ausführlichen 
Pathologie  und  Therapie  der  Fieberarten  eine  Lokalpathologie  vom 
Kopf  bis  zu  dem  unteren  Rumpfende  gibt  und  manches  Eigene  hat. 
Auch  mit  der  Pharmazeutik  scheint  COPHO  sich  besonders  beschäftigt 
zu  haben;  zahlreiche  Arzneivorschriften  sind  mit  seinem  Namen  ge- 
ziert, auch  berufen  sich  spätere  Autoren  gern  auf  ihn  als  ihren 
Lehrer  und  Gewährsmann.  Weniger  tritt  Ferrarius  hervor,  von 
dem  wir  eine  Fieberschrift  noch  besitzen. 

Aus  allen  Genannten  hat  man  schon  um  die  Mitte  des  12.  Jahr- 
hunderts einen  umfänglichen  Traktat  „De  aegritudinum  curatione"  vom 
Kopf  bis  zu  den  P^üßen  zusammengestellt,  in  welchem  auch  die 
Fieberlehre  Aufnahme  fand  und  die  genannten  Autoren  meist  sorg- 
fältig bei  den  ihren  Schriften  entnommenen  Abschnitten  genannt 
sind,  gleichsam  als  Handkonkordanz  des  therapeutischen  Wissens 
von  Hochsalerno.  Freilich  hat  diese  Sammelschrift  bisher  nur  der 
berühmte  Breslauer  Codex  Salernitanus  uns  überliefert,  der  mit  einem 
Schlage  unsere  literarische  Kenntnis  von  Salerno  so  gewaltig  erweitert 
hat,  daß  der  Neapolitaner  Arzt  DE  Renzi  daraufhin  mit  Henschels 
und  Darembergs  Unterstützung  die  Herausgabe  seiner  5-bändigen 
„Collectio  Salernitana"  wagen  konnte.  Solange  aber  die  Sammlung 
„De  aegritudinum  curatione"  tatsächlich  nur  im  Salernitaner  Codex 
zu  Breslau  gefunden  wird,  kann  die  Annahme  nicht  abgewiesen 
werden,  daß  wir  es  bei  ihr  nur  mit  der  Sammelarbeit  eines  Einzelnen 
für  eigenen  Gebrauch  und  nicht  mit  der  Handkonkordanz  einer 
Schule  zu  tun  haben. 

Gleichzeitig  mit  Copho  schrieb  ein  „Archimatthaeus"  gleichfalls 
eine  Practica,  die  insofern  einen  gewissen  Fortschritt  bedeutet,  als 
sie  selbstbeobachtete  Kuren  zusammenstellt  und  die  Kasuistik  ein- 
flicht, also  die  in  späteren  Jahrhunderten  in  Schwang  kommende 
Literaturgattung  der  „Consilia  medica"  andeutend  vorwegnimmt  und 
stellenweise  in  der  Art  klinischer  Vorträge  abgefaßt  ist.  In  einer 
originellen  allgemeinen  Therapeutik,  betitelt  „De  modo  medendi", 
stützt  sich  Archimatthaeus,  wie  er  im  Anfang  seiner  Arbeit  be- 
merkt, auf  Johannes  a  Platea  und  auf  Copho.  Solche  Darstel- 
lungen der  allgemeinen  Heilungsprinzipien  waren  in  Salerno  an- 
scheinend ein  beliebter  Vorwurf;  denn  wir  besitzen  noch  eine  andere, 
offenbar  frühere  Ausarbeitung  unter  dem  nämlichen  Titel  und  gleich- 
falls Salernitaner  Literaturgut.  Von  ARCHIMATTHAEUS  stammt  ferner 
die  älteste  mittelalterliche  Einleitung  in  die  Praxis,  die  zuerst  als 
„De  adventu  medici  ad  aegrotum",   in  gekürzter  Form   bekannt  ge- 


Salerno.  191 

worden  ist  und  allgemeines  Aufsehen  erregt  hat  ob  der  darin  so 
frühe  schon  gelehrten  Grundlinien  einer  gesunden  ärztlichen  Politik, 
samt  Anweisungen  zur  Krankenuntersuchung,  zur  Prognosenstellung 
und  zum  Entwurf  eines  diätetischen  und  arzneilichen  Heilplanes. 
Später  fand  man  in  Paris  eine  Handschrift  der  ausführlichen  Ori- 
ginalfassung als  „Liber  de  instructione  medici  secundum  Archimat- 
thaeum".  Die  Urinschrift eines  Matthaeus  de  Archiepiscopo  schreibt 
man  wohl  mit  Recht  dem  gleichen  Autor  zu.  Solcher  Schriften 
über  die  Harnschau  besitzt  die  Salernitaner  Schule  unter  der  Ein- 
wirkung der  byzantinischen  Harnschrift  des  Theophilos  und  der 
früharabischen  des  ISHÄQ  BEN  Suleimax  al-israili  eine  größere 
Zahl,    Ein  Romualdus  und  andere  schreiben  über  die  Pulslehre. 

Das  altüberkommene  „Antidotarium"  wurde  zur  Zeit  von  Hoch- 
salerno  kommentiert  und  erweitert.  Als  Erweiterer  scheint  ein  Niko- 
laus aufgetreten  zu  sein  (siehe  jedoch  S.  182);  als  Kommentator 
tat  sich  Matthaeus  Platearius  hervor  mit  beachtenswerten 
Glossen.  Der  gleiche  Platearius  gilt  auch  als  Verfasser  einer 
überaus  wichtigen  Ergänzung  zu  dem  pharmazeutischen  Schulschatze 
des  Antidotariums,  einer  ausführlichen  alphabetisch  geordneten  Arznei- 
mittellehre, die  als  das  „Circa  ipstans"  durch  das  ganze  Mittelalter 
unter  Benutzung  ihrer  beiden  Anfangsworte  (wie  bei  den  päpst- 
lichen Bullen)  bekannt  war  und  weiteste  Verbreitung  genoß,  ja  in 
alle  Hauptsprachen  Europas,  beispielsweise  in  das  Deutsche  und 
Französische  übersetzt  wurde. 

In  der  ältesten  auf  uns  gekommenen  Gestalt  besteht  sie  im  Bres- 
lauer Kodex  ohne  Nennung  eines  Autornamens  aus  423  Abschnitten. 
Gleich  den  pseudogalenischen  Dynamidia  in  der  vollständigen  Ueber- 
lieferungsform  enthält  der  Breslauer  vollständige  „Liber  simplicium 
medicinarum"  außer  den  eigentlichen  Arzneimitteln  auch  die  sämt- 
lichen Nahrungsmittel  als  die  Simplicia  der  diätetischen  Therapie. 
Und  überdies  sind  diese  Nahrungsmittel  ganz  besonders  ausführlich 
abgehandelt.  Man  hätte  also  dies  erste  ausführliche  Handbuch  der 
Simplicien-Kunde,  später,  unter  Ueberschätzung  seines  Bestandes  an 
eigentlichen  Arzneistoffen,  gekürzt  und  auf  diese  und  obendrein  noch 
in  einer  Auswahl  beschränkt.  Ob  Platearius,  wenn  wirklich  der 
Bestand  des  Breslauer  Kodex  den  ursprünglichen  Zustand  überliefert 
hat  und  nicht  vielmehr  eine  Erweiterung  desselben  darstellt,  diese 
Auswahl  getroffen  hat,  was  mich  einstweilen  gar  nicht  wahrschein- 
lich dünkt,  oder  ob  man  seine  große  Sammlung  gekürzt  hat  und 
diese  gekürzte  Form  dann  allgemeine  Aufnahme  gefunden  hätte,  ist 
heute  noch  nicht  mit  voller  Gewißheit  zu  entscheiden.  Das  Wahr- 
scheinlichste ist  die  Erweiterung  des  „Circa  instans"  Platearii  durch 
einen  Bearbeiter,  die  im  Breslauer  Sammelkodex  überliefert  ist 


192 


Salerno. 


Als  weitere  Ergänzungen  zum  „Antidotarium  Salernitanum" 
waren  in  der  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  schon  im  Gebrauch  be- 
sondere Ausarbeitungen  über  die  Herstellung  (Confectio)  der  Re- 
zepte desselben,  über  Arzneiwässer,  Oele,  Sirupe,  äußerliche  Anwen- 
dungsformen, Klystiere  und  Stuhlzäpfchen  usw.  Für  das  große  „Circa 
instans"  gab  es  auch  kürzere  Parallelschriften,  deren  eine  dem  Kon- 
stantin zugeschrieben  wurde,  aber  wahrscheinlich  erst  nach  Pla- 
TEARius  entstand  und  dem  Johannes  de  Sancto  Paulo  zuzu- 
schreiben ist,  der  auch  ein  Diätflorilegium  hergestellt  hat,  das  in 
aller  Kürze  die  Nahrungsmitteldiätetik  Hochsalernos  wiedergibt, 
während  zu  gleicher  Zeit,  kurz  nach  der  Mitte  des  12.  Jahrhun- 
derts, MusANDiNUS  über  Bereitung  von  Speise  und  Trank  für  die 
Kranken  schrieb. 


So  überreich  hat  sich  in  kaum  viel  mehr  als  einem  halben  Jahr- 
hundert in  einem  begeisterten  Anlauf  nach  dem  Tode  Konstan- 
tins  die    Literatur   Salernos   gestaltet,    das   damit   seine   literarische 

Höhe  erstieg,  auf  der  als 
besonders  eindrucksvolle 
ärztliche  Denker- und  wohl 
auch  Beobachtergestalten 
Maurus  und  Urso  zu 
nennen  sind.  Die  „Re- 
gulae  urinarum"  des  erste- 
ren  stellen  zweifellos  die 
beste  und  ausführlichste 
Darstellung  der  Harnlehre 
der  Salernitaner  dar,  wei- 
sen aber  schon  schola- 
stische Züge  in  ihrer  Dar- 
stellungsweise auf;  seine 
kleine  Aderlaßschrift  geht 
zum  erstenmal  über  die 
in  Salerno  immer  noch 
in  Gebrauch  stehende,  aus 
der  Antike  überlieferte 
kleine  Aderlaßanleitung 
hinaus,  die  als  pseudo-hippokratische  „Epistola  de  flebotomia"  seit 
Jahrhunderten  in  Wertschätzung  stand.  Maurus'  Aphorismen- 
kommentar ist  nicht  nur  ein  Zeichen,  wie  hoch  immer  noch  der 
große  Koer  in  der  „Civitas  Hippocratica"  geschätzt  wurde,  sondern 
wie  ernstes  medizinisches  Denken  den  alten  Ehrenschatz  zu  meistern 
und   zu   nützen    bestrebt   war.     Noch   höheren   philosophischen   Flug 


Abb.  90.     Harnschaubild  (bisher   ältestes    bekanntes); 

Initial    zum   Urintraktat    des    Maurus    im    Breslauer 

Kodex  (Bl.   1561-). 


Salemo.  1 93 

nimmt  Urso,  von  dem  sich  im  Breslauer  Kodex  aus  der  Zeit  von 
dessen  Niederschrift  schon  kleine  Stücke  finden,  welche  die  Schärfe 
seiner  logischen  Erfassung  allgemein  naturwissenschaftlicher  Fragen 
erkennen  lassen,  von  der  sein  Schüler  Gilles  de  Corbeil  be- 
wundernd spricht,  der  11 80  spätestens  Salerno  verließ: 

„Strenuus  ambiguos  causarum  solvere  nodos." 

Aber  auch  Ursos  gute  Beobachtungsgabe  tritt  klar  hervor.  Ursos 
Harnschrift  zeigt  in  ihrer  Semiotik  ein  scharfes  Unterscheidungs- 
vermögen, das  aber  noch  in  weit  größerer  Schärfe  und  Klarheit  in 
den  beiden  Schriften  über  die  Einwirkung  der  Qualitäten  im  all- 
gemeinen auf  das  Naturgeschehene  und  auf  den  menschlichen  Orga- 
nismus insbesondere  (De  effectibus  qualitatum)  und  die  ^Yirkungen 
der  Arzneistoffe,  angeschaut  von  der  Qualitätenlehre  aus  (De  effec- 
tibus medicinarum),  sowie  über  die  allgemeinen  Heilprinzipien  her- 
vortritt. Noch  einleuchtender  wird  dies  klar  werden,  wenn  Ursos 
„Aphorismen",  eine  Sammlung  eigener  Leitgedanken  über  Heilkunde, 
und  sein  doppelter  ausführlicher  Kommentar  dazu  im  Drucke  er- 
schienen sein  werden. 

Damit  ist  die  literarische  Höhe  von  Salerno  erreicht,  das  sich 
in  raschem  Anstieg  aus  jahrhundertelanger  Pflege  ärztlicher  Kunst- 
übung in  eigenem,  umfassendem  Schrifttum  seit  dem  letzten  Jahr- 
zehnt des  II.  bis  zu  Ende  des  12.  Jahrhunderts  über  die  Grundsätze 
seines  Handelns  klar  zu  werden  gesucht  hatte  und  sich  für  Lehre 
und  Uebung  ärztlicher  Kunst  am  Vorbilde  des  von  KONSTANTIN 
dargebotenen  Araberwissens  (gewonnen  an  griechischer  Ueberliefe- 
rung)  nun  sein  eigenes  Rüstzeug  literarischer  Art  geschaffen  hatte, 
Früharabisches  mit  direkt  aus  der  Antike  Ueberkommenem  verbin- 
dend, und  nun  seit  der  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  daran  gegangen 
war,  dies  Emmgene  und  Angeeignete  wissenschaftlich  zu  vertiefen. 
Doch  erlahmte  seine  Kraft  an  dieser  Aufgabe,  der  auch  die  größten 
seiner  Vertreter  noch  nicht  gewachsen  waren,  weil  die  empirischen 
Prämissen  und  Hilfsmittel  noch  völlig  fehlten.  Was  ferner  noch 
geschaffen  wurde,  soweit  wir  es  übersehen  können,  sind  Lexika 
und  Tabellenwerke  eines  Salernus,  die  ein  Südfranzose  Bernhard 
aus  der  Provence  des  Kommentierens  wert  fand.  Schließlich  hat 
ein  Caesar  Coppula,  dessen  Lebenszeit  nicht  sicher  feststeht, 
einige  medizinische  Konsilien  geschrieben,  die  auf  uns  gekom- 
men sind. 

Doch  mit  dem  gegebenen  Gesamtüberblick  über  die  literarischen 
Leistungen  von  Hochsalerno  mit  einem  unbestimmten  Ausblick  auf 
Spätsalerno  haben  wir  die  Pflicht  gegen  die  älteste,  vornehmlich 
medizinische  Hochschule   des  Abendlandes  nicht  erfüllt,  wir  müssen 

M  eyer-Steineg  u.  Sudhoff,  Illustr.  Geschichte  der  Medizin.  I3 


194 


Salerno. 


uns  mit  seiner  Anatomie,  seiner  Chirurgie  und  seiner  G3'näkologie 
noch  befassen  und  uns  Rechenschaft  geben  über  seine  Wirkung 
als  Lehrstelle  der  Aerzteschaft  Süditaliens  und  Europas,  und  für 
den  gesamten  Aerztestand  überhaupt. 


Indem  Salern  seine  Schüler  in  der  Medizinschule  zum  „doctus 
istius  professionis  artifex"  heranzubilden  beflissen  war,  hat  es  das 
Kunstgemäße  des  heilenden  Tuns  unterstrichen,  aber  auch  die  Ge- 
lehrsamkeit, die  angestrebt  wurde.  In  den  Tagen  von  Frühsalerno 
vorkonstantinischer  Zeit  war  Gelehrsamkeit  noch  nicht  das  Zeichen 
des  dortigen  Arztes,  sondern  Beherrschung  der  ärztlichen  Kunst 
oder  wenigstens  dessen,  was  man  damals  darunter  verstand.  Der 
vielberufene  Warbod-Gariopontus  erhielt,  wie  wir  gesehen  haben, 
in  der  ersten  Hälfte  des  ii.  Jahrhunderts  noch  die  Zensur:  „literis 
eruditus  a  c  medicus".  Das  war  nach  Konstantin  anders  geworden  ; 
man  strebte  allmählich  nach  Gelehrsamkeit,  nach  Wissenschaftlich- 
keit, und  in  Urso  war  man  tatsächlich  nahe  an  die  experimentelle 
Begründung,  an  die  Nachprüfung  durch  das  Experiment  herange- 
rückt. Imponiert  hat  allerdings  wohl  mehr  Ursos  scharfe  logische 
Durchdringung  der  von  ihm  behandelten  Fragen,  was  sich  noch 
in  der  häufigen  Erwähnung  dieses  Salernitaners,  gelegentlich  selbst 
des  Maurus,  in  der  Enzyklopädie  des  Franzosen  Radulf  von 
Longchamps  (um  1216),  Schülers  und  Erklärers  des  Alanus  von 
]Jlle  ausspricht,  zugleich  ein  Beweis  des  schließlichen  Ueberganges 
von  Hochsalerno  in  die  Scholastik. 

Ein  Beleg,  wie  ernsthaft  man  in  Salerno  die  wissenschaftliche 
Vertiefung  des  in  der  Uebung  überkommenen  Schulwissens  und 
Schulkönnens  in  die  Hand  nahm,  ist  der,  wenn  auch  bescheidene. 
Versuch  einer  Pflege  der  Anatomie  in  der  „Civitas  Hippocratica", 
zunächst  nur  als  praktischer  Nebenbehelf  der  Heilkunst  in  sachlicher 
Anlehnung  an  die  neue  Lehre  des  Pantegni  Konstantins.  Es 
ist  Tieranatomie,  die  in  ihrer  ältesten  Form  eine  recht  naive  Auf- 
zählung und  Beschreibung  der  Eingeweide  gibt,  mit  ständigem  Ein- 
gehen auf  Physiologie,  Pathologie,  Semiotik.  Man  hat  dies  älteste 
anatomische  Schriftstück  als  Schweineanatomie  des  CoPHO  lange 
Zeit  geführt;  doch  ist  der  Name  dieses  beachtlichen  Klinikers 
der  kleinen  Ausarbeitung  grundlos  aufgestempelt  worden  ^).  Einen 
praktischen  Lehrtext,  am  Tierkadaver  vorgetragen,  hat  der  Bres- 
lauer Codex  Salernitanus  kennen   gelehrt,    der   gleichfalls   auf  KON- 

i)  Sie  steht  als  „Anatomia  parva  [Pseudo-JGaleni"  unter  den  „Spuria" 
der  lateinischen  Galen-Juntinen. 


Salerno.  1 95 

STAXTix  beruht,  sich  aber  einer  lebhaft  hinweisenden  Darstellung 
befleißigt,  die  gelegentlich  zu  kleinen  lehrhaften  Abschweifungen 
verleiten  läßt,  vielfach  wörtlich,  wie  die  Einleitung,  mit  Koxstantin 
übereinstimmend.  Hexschel  hat  der  namenlosen  Abhandlung  den 
Titel  „Demonstratio  anatomica"  mit  Recht  verliehen.  Diese  beiden 
Darstellungen,  deren  zweite  schon  auf  Systematik  Wert  legte,  dürften 
aus  dem  Ende  des  it.  und  dem  Anfang  des  12.  Jahrhunderts  stam- 
men; die  erste  ist  vielleicht  noch  älter.  Zeitlich  und  inhaltlich,  ja 
auch  in  der  Form  steht  ihnen  eine  bisher  nur  in  München  gesondert 
erhaltene,  abermals  völlig  selbständig  aus  Koxstaxtix  (bzw.  Halt 
Abbas)  entnommene,  kurze  anatomische  Schrift  nahe,  die  in  einem 
Würzburger  Kodex  mit  der  ältesten,  der  sogenannten  „anatomia 
Cophonis"  verflochten  ist.  Sie  hält  noch  m.ehr  auf  systematische 
Aneinanderreihung  als  ihre  beiden  Fachgenossen.  In  allen  dreien 
sprudelt  das  lebhafteste  Interesse  für  dies  wertvolle  Gut  anatomisch- 
physiologischer Belehrung  für  den  ärztlichen  Praktiker  und  der  Trieb, 
alles  der  nützlichen  Verwertung  zuzuführen. 

Als  Lehrgebiet  für  sich  von  selbständiger  Bedeutung  tritt  die 
Anatomie  in  einer  Gruppe  von  Darstellungen  uns  entgegen,  die 
sich  an  die  Namen  Nikolaus  und  Richardus  knüpfen.  Beide 
haben  von  Koxstaxtix  nicht  mehr  nur  den  anatomischen  Stoff, 
sondern  auch  die  Form  übernommen.  Man  schreibt  gelehrte  Ab- 
handlungen, man  hält  gelehrte  Vorträge  über  diese  selbständige 
medizinische  Disziplin,  und  Niederschriften  dieser  Lehrvorträge  in 
vielfach  wechselnder  Form  sind  uns  aus  der  zweiten  Hälfte  des 
12.  und  dem  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  erhalten.  Unter  dem 
Namen  eines  „Magistri  Nicolai  phisici"  hat  sich  eine  besondere 
gut  redigierte  und  streng  systematisch  geordnete  Form  dieser  Spät- 
anatomie von  Hochsalerno  erhalten.  Eine  Möglichkeit,  sie  etwa  dem 
gleichen  Nikolaus  zuzuschreiben,  dem  die  hochsalernische  Form 
des  Antidotarium  verdankt  werden  soll,  besteht  kaum;  denn  dieser 
müßte  in  den  Anfang  des  12.  Jahrhunderts  gesetzt  werden;  der 
Verfasser  der  „Anatomia  Nicolai",  Zeitgenosse  des  Urso,  gehört  in 
die  letzten  Jahrzehnte  dieses  Jahrhunderts.  Richardus,  unter  dessen 
Namen  eine  diagnostische  Schrift  erhalten  ist,  könnte  gar  schon  in 
den  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  gerechnet  werden,  gehört  aber 
doch  vielleicht  noch  in  das  letzte  Jahrzehnt  des  12.  Jahrhunderts, 
jedenfalls  vor  die  Zeit  des  Bekanntwerdens  des  Kanons  von  Avi- 
CEXNA.  Dagegen  entstand  die  pseudogalenische  „Anatomia  vivorum", 
welche  man  dem  Richardus  Anglicus  eine  Zeitlang  zuschreiben 
wollte,  erst  in  der  Zeit  des  13.  Jahrhunderts,  als  man  bei  ibn  Sinä 
sich  anatomische  Weisheit  zu  holen  begann.  Ob  aber  dann  nicht 
Frankreich  oder  wenigstens  andere  Gegenden  Italiens  als  Ursprungs- 

13* 


196 


Salerno. 


gegend  ins  Auge  zu  fassen  sind,  und  nicht  Salerno,  muß  sehr  ernst- 
haft geprüft  und  erwogen  werden.  Die  „Anatomia  Nicolai"  und  die 
,.Anatomia  Richardi"  samt  ihren  Derivaten  und  Variationen  in  Ab- 
schrift und  Lehrvortrag  gehören  aber  bestimmt  noch  nach  Salerno 
und  stellen  dessen  literarische  Höchstleistung  auf  dem  anatomischen 
Gebiete  dar, 

Ist  es  denn  aber  in  Salerno  immer  bei  bloßer  Tierzergliederung 
geblieben?  Eine  sichere  Antwort  auf  diese  Frage  vermag  die  Li- 
teratur von  Hochsalerno  nicht  zu  geben,  leider  auch  die  aktenmäßige 
Geschichte  nicht,  wenngleich  die  Wahrscheinlichkeit  dafür  spricht, 
daß  um  die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  ab  und  zu  eine  Vcrbrccher- 
leiche  an  der  Schule  zu  Salerno  feierlich  demonstrando  zergliedert 
wurde.  Die  Wahrscheinlichkeit,  wenn  auch  keineswegs  die  Gewiß- 
heit. Denn  die  Ueberlieferung,  daß  Martianus,  Protomedicus  von 
Sizilien,  den  großen  Staufen  Friedrich  IL  1238  dazu  bestimmt 
habe,  zu  befehlen,  daß  in  Salerno  alle  fünf  Jahre  eine  Menschen- 
leiche vor  den  Aerzten  und  Wundärzten  seziert  werden  müsse,  hat 
sich  bis  heute  nicht  mit  aller  Evidenz  bewahrheiten  lassen. 

An  anatomischer  Demonstration  fehlte  es  in  Salerno  auf  alle 
Fälle  nicht  vollständig,  und  auch  noch  400  Jahre  später  selbst  in 
Italien  verschmähte  man  es  nicht,  die  Lage  der  Eingeweide  am 
Schweinesitus  im  Unterricht  zu  demonstrieren. 

Daß  die  offenbar  fleißige  Beschäftigung  mit  der  Anatomie  in 
Salerno  der  klinischen  Medizin  wie  der  Hebung  des  wissenschaft- 
lichen Geistes  im  allgemeinen  zugute  kam,  dürfte  keinem  Zweifel 
unterliegen.  Am  fördersamsten  erwies  sie  sich  gewiß  für  die  aus- 
übende Chirurgie. 

Literarisch  lehnt  sich  die  Chirurgie  von  Hochsalerno  an  das 
9.  Buch  der  pars  practica  des  Pantegni,  also  an  den  Hali 
Abbas  in  der  Bearbeitung  Konstantins  an.  Aber  gerade  die 
operative  Chirurgie  dürfte  in  ganz  besonderem  Maße  auf  Uebung 
seit  der  Antike  her  in  Familientradition  in  Italien  sich  sttüzen.  In 
Kalabrien  und  dem  gegenüberliegenden  Sizilien  feierten  später  Pla- 
stik und  Steinschnitt  Erfolge;  auch  in  den  Bergen  Umbriens  war 
Hernienoperation  und  Starstich  bei  zahlreichen  Familien  in  Uebung 
(Norciner,  Precianer),  und  auf  dem  Kamm  der  Apenninen  südlich 
Bologna  sind  alte  Wundarztfamilien  nachgewiesen,  die  schulmäßig 
Chirurgie  übten.  Bis  in  die  Antike  leiten  freilich  nur  ganz  ver- 
wischte Spuren  aus  dem  Ausgange  des  Mittelalters  zurück.  Ueber- 
sehen  sollten  sie  aber  nicht  werden.  Zeitlich  einstweilen  und  in  der 
Tradition   schwer   greifbar,   hat  sich   in  Handschriften    des  früheren 


Salemo. 


197 


^Mittelalters   mehrfach   eine   Gruppe    von    2—3  Operationsbildern  er- 
halten, mit  kurzen  Beischriften  ausgestattet,  die  erkennen  lassen,  um 


Abb.  91.     Hämorrhoiden-,   Star-  und  Nasenpolypen-Operation  aus   einer  Handschrift 
II.  Jahrhunderts  (Brit.  ^luseum). 


Abb.  92.   Sechs  Brennstellenbilder  aus  einer  Handschrift  des  11 .  Jahrhunderts  (Brit.  Museum). 


iqS 


Salerno. 


was   es   sich   handeln   soll,    stets   aber   ohne   eigentlich   begleitenden 
Text.    Es  handelt  sich  um  Starstich  (albulae  oculorum  sie  excutiun- 


Abb.  93.    Operationsbilder  aus  einer  französischen  Rogerübersetzung,  gemalt  im  13.  Jahr- 
hundert (Brit.  Museum). 

tur),    Nasenpolypenoperation     (fungus     de    nare     sie    inciditur)    und 
Hämorrhoiden entfernung   (emoroida    inciditur  sie),    womit    diese  drei 


Salemo. 


199 


Operationen  doch  wohl  als  besonders  geläufige  hervorgehoben  wer- 
den. Manchmal  findet  sich  diese  Operationsbildgruppe  direkt  ver- 
bunden   mit    einer    sonst    weit    verbreiteten   Lehrbilderserie,    welche 


Abb.    94.      OperatioDsbilder    aus    französischer    Rogerübersetzung,    gemalt    im   13.   Jahr- 
hundert (Brit.  Museum). 


26 — 40  Körperstellen  hervorhebt,  an  welchen  das  Glüheisen  gegen 
innere  Krankheiten  angewendet  werden  soll.  Beide  Bildgruppen 
stammen  bestimmt  aus  der  Spätantike.   Mit  der  eigentlichen  Chirurgie 


200  '  Salerho, 

hat  nur  die  erstere  etwas  zu  tun,  während  die  zweite  nur  einen 
chirurgischen  Behelf  der  inneren  Medizin  darstellt,  der  in  der  Spät- 
antike und  bei  den  Arabern  gleich  beliebt  war  und  hier  aus  der 
Antike   selbst   ins  Mittelalter   lehrbildmäßig   heruntergeführt   wurde. 

Für  Salerno  selbst  fehlt  es  an  chirurgischen  Nachrichten  aus 
der  Frühzeit.  Erst  für  die  späte  Nachbehandlung  von  Kriegerver- 
letzungen gab  sich  an  den  Heimkehrern  aus  den  Kreuzzügen  dort 
Gelegenheit,  ohne  daß  wir  von  Zunft-  und  Gildengeheimnissen  hierin 
etwas  hören. 

Die  erste  schriftstellerische  Beschäftigung  Salernos  mit  der  Chir- 
urgie ist  uns  in  der  „Bamberger  Chirurgie"  erhalten,  welche  in  meh- 
reren Handschriften  (zwei  in  Bamberg,  eine  in  Cambridge)  auf  uns 
gekommen  ist  und  großenteils  auf  dem  Pantegni  beruht,  aber 
auch  manche  Abschnitte  direkt  aus  der  frühsalernitanischen  Literatur 
entlehnt  hat,  die  aus  der  Antike  stammen,  z.  B.  die  pseudo-hippo- 
kratische  „Epistula  de  flebotomia"  (s.  o.).  Spuren  eigner  chirurgischer 
Betätigung,  wie  sie  in  der  „Civitas  Hippocratica"  vorausgesetzt  werden 
darf,  treten  darin  nicht  zutage. 

Einen  echten  Chirurgen  durfte  aber  Hochsalerno  wirklich  sein 
eigen  nennen  in  der  Person  des  aus  langobardischem  Adelsblute 
entstammenden  Roger  Frugardi,  der  offenbar  an  der  Schule  Chir- 
urgie lehrte  und  um  1170,  anscheinend  aus  Schüleraufzeichnungen, 
durch  den  Literaten  Guido  von  Arezzo  einen  Leitfaden  seiner  chir- 
urgischen Lehren  in  vier  Abschnitten  von  je  20 — 50  Kapiteln  zu- 
sammenstellen ließ,  der  das  Gebiet  in  knappster  Form  vom  Kopf 
bis  zu  den  Füßen  umreißt  und  offenbar  am  Verbands-  und  Operations- 
tisch entstanden  ist,  voll  reicher  Erfahrung,  auch  operativer  Art. 
Eine  Reihe  von  Tafeln  aus  italienischen  und  französischen  Hand- 
schriften des  13.  und  14.  Jahrhunderts  läßt  die  Fülle  auch  des  ope- 
rativen Materials  in  fachgemäßen  Operationen  überschauen,  die  dieser 
rogerische  Leitfaden  enthält  (vgl,  Abb.  93  u.  94). 

Die  Rogerglosse. 

Schon  im  Lehrvortrag  ROGERS  selbst  wurde  dieser  chirurgische 
Leitfaden  Hochsalernos  durch  Einfügung  von  Kasustik,  lehrreichen 
Bemerkungen  und  neuen  Rezepten  glossiert.  Erweiternde  Margina- 
lien hatten  erhaltene  und  verlorene  Roger manuskripte.  In  Uebung 
und  Lektüre  wuchs  diese  erste  Rogerglosse;  sie  war  mit  jeder  neuen 
Abschrift  umfangreicher.  Aber  auch  bewußter  Um-  und  Weiter- 
arbeit ward  sie  unterzogen,  und  durchaus  nicht  nur  in  Salerno  selbst. 
Für  den  Bedarf  der  Praxis  und  des  Unterrichtes  hat  der  Bologneser 
Chirurge  Rolando  aus  Parma  das  gangbare  Lehrbuch  in  leichter 
Umarbeitung   und    Glossierung   zum    Bologneser   Schulbuch    umge- 


Salerno.  201 

staltet,  der  sogenannten  „Rolandina",  deren  Redaktion  zwischen  1230 
und  1240  vor  sich  ging.  Zu  gleicher  Zeit  hat  ein  Chirurg  von 
Gottes  Gnaden  in  Montpellier,  der  in  den  Albigenserkriegen  bei 
Simon  von  Montfort  sich  große  Erfahrung  erworben  hatte,  WiLLE- 
HELMUS  VON  CoNGENis  aus  Bourg,  den  Leitfaden  Rogers  seinen 
späteren  Vorträgen  in  Montpellier  zugrunde  gelegt.  Von  zweien 
seiner  Schüler  sind  Aufzeichnungen  erhalten,  deren  eine  uns  beson- 
ders wichtige  Einzelheiten  aus  dem  Operationszimmer  des  Wille- 
HELMUS  im  Heilig-Geist-Spital  zu  Montpelier  berichtet,  die  durch- 
blicken lassen,  wie  ernst  es  Willehalm  sich  angelegen  sein  ließ, 
auch  schon  auf  die  Ausbildung  künftiger  Operateure  sein  volles 
Augenmerk  zu  richten. 

Eine  Florentiner  Rogerglosse  läßt  erkennen,  wie  das  literarische 
Material  durch  das  wenigstens  bruchstückweise  Bekanntwerden  der 
Chirurgie  des  x\buloäsim  und  IBN  SixÄ  sich  erweiterte.  Die  be- 
scheidene Weiterbildung  in  Salerno  selbst  läßt  die  Chirurgia  Johannis 
Jamati  (Jamerii)  erkennen,  die  um  1250  am  Golfe  von  Pesto  fertig- 
gestellt sein  mag  und  von  Guy  dem  Auvergnaten  eine  so  schlechte 
Zensur  als  „Chirurgia  brutalis"  hundert  Jahre  später  erhielt.  Den 
Gipfel  literarischer  Umarbeitung  erstieg  die  Rogerglosse  gleichfalls 
um  die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  in  Frankreich  in  der  sogenannten 
Viermeisterglosse  zur  Chirurgie  des  Roger  und  Rolando,  die  be- 
sonders durch  den  Zusatz  des  Rolando  von  Parma  ihren  späten 
Ursprung  verrät.  Schon  in  der  Florentiner  Rogerglosse  des  Pucci- 
NOTTI  findet  sich  die  Notiz,  daß  an  ROGERS  Chirurgie  noch  drei  an- 
dere Salernitaner  Magistri  mitgearbeitet  hätten,  also  wohl  außer 
Guido  von  Arezzo  noch  zwei  andere  Literaten.  In  den  „Glossulae 
quatuor  magistrorum  super  Cirurgiam  Rogeri  et  Rolandi"  sind  es 
dann  genau  genommen  sechs  geworden,  die  beiden  bekannten  Chir- 
urgen und  vier  Internisten  Archimatthaeus  ,  Petroncellus, 
Platearius,  Ferrarius,  die  wir  schon  kennen,  deren  Lebenszeit 
sich  aber  über  ein  volles  Jahrhundert,  wenn  nicht  weiter  verbreitet, 
und  wienn  man  die  beiden  Chirurgen  mit  einbezieht,  gar  über  200 
Jahre.  Wie  schon  gesagt,  ist  dieser  immerhin  wichtige  Abschluß 
der  gesamten  Rogerglosse  höchst  wahrscheinlich  nach  der  Mitte  des 
13.  Jahrhunderts  in  Frankreich  erfolgt.  Roger,  Rolando  und 
Willehalm  von  Bourg  hat  etwa  zu  gleicher  Zeit  ein  französischer 
Verseschmied  mit  der  „Trotula"  und  anderem  zu  einem  umfänglichen 
„Poema  medicum"  verschmolzen. 

Ein  volles  Jahrhundert  eifriger  praktischer  und  literarischer  Arbeit 
spricht  sich  in  dieser  umfänglichen  Rogerglosse  aus,  die  noch  Interesse 
erweckte  in  Italien  und  besonders  in  Frankreich,  als  die  oberitalienische 
Chirurgie  schon  einen  weit  höheren  Flug  zu  nehmen  begonnen  hatte  I 


202  Salerno. 

Doch  wir  haben  mit  Nennung  der  „Trotula"  schon  ein  letztes 
Gebiet  Hterarischer  Betätigung  berührt,  das  sich  in  Früh-  und  Hoch- 
salerno  auszuwirken  begonnen  hatte,  das  der  Frauenheilkvmde. 
Daß  man  eine  „Laienschule"  war  und  keine  Klerikerschule,  wenn  man 
auch  geisthche  Lehrer  und  Schüler  keineswegs  ausschloß,  gab  von 
Anfang  an  die  Möglichkeit,  Geburtshilfe  zu  treiben  und  mehr  noch 
Frauenheilkunde.  Zu  ersterem  waren  die  Hebammen  damals  noch 
allein  berufen  mit  Ausnahme  äußerster  Notfälle,  die  in  die  Hand 
der  Chirurgen  gelegt  waren.  Die  Nächstberufenen,  sich  mit  dem 
allem  über  die  niederste  Hebammenhilfe  hinaus  zu  befassen,  waren, 
so  möchte  man  meinen,  Gattinnen  und  Töchter  der  ärztlichen  Lehrer 
in  Salern.  Wenn  man  aber  das  nachprüft,  was  z.  B.  COPHO  als  Be- 
handlungsweise  der  „Mulieres  Salernitanae"  anführt,  so  schmeckt  das 
stark  nach  Volksmitteln  der  Kinderstube  und  Hebammenwissen,  dem 
der  gelehrte  Arzt  meist  sein  besseres  Wissen  mit  „Ego  autem"  ent- 
gegenhält. Und  was  Bernhard  aus  der  Provence  im  13.  Jahr- 
hundert von  „Salernitaner  Weibern"  überliefert,  ist  teilweise  ebenso 
glatte  Volksmedizin  oder  stammt  aus  dem  „Nähkörbchen",  dient 
erotischen  und  kosmetischen  Bedürfnissen,  ist  sogar  zum  Teil  nicht 
ganz  ungefährlicher  Art.  Man  muß  sich  also  dadurch  den  Blick 
nicht  trüben  lassen,  daß  schon  im  11.  Jahrhundert  eine  Salernitaner 
Matrone  einen  französischen  Kleriker  mit  ihrem  Wissen  in  Erstaunen 
setzte;  das  zeigt  doch  nur,  daß  in  der  ärztlichen  Luft  am  Golf  von 
Pesto  eine  begabte  Frau  tüchtige  Kenntnisse  im  Zeitstil  zu  erwerben 
vermochte.  Daß  sie  etwa  die  „Trotula"  oder  gar  die  „Trotula  di 
Rugiero",  die  Gattin  des  ältesten  Giovanni  Plateario  gewesen  sein 
müsse,  ist  historisch  unbewiesen.  Ueberhaupt  muß  man  das  rühmende 
Gerede  von  den  „Mulieres  Salernitanae",  als  eines  beachtlichen  Bestand- 
teiles des  gelehrten  Salerno  im  11.  oder  12.  Jahrhundert,  wesentlich 
zurückstecken  und  den  überlieferten  Namen  von  Salernitaner  Aerztinnen 
ein  gesundes  historisches  Mißtrauen  entgegenbringen.  Die  „Trotula 
Mulierum",  wie  es  handschriftlich  wohl  heißt,  ist  keineswegs  der 
Name  einer  Aerztin,  sondern  ein  gynäkologisches  Werk,  das  den 
Titel  „Trotula"  führt  und,  auf  antiker  Ueberlieferung  textlich  größten- 
teils aufgebaut,  in  nachkonstantinischer  Zeit  seine  heutige  Gestalt 
erhalten  hat.  Wie  viel  aus  dem  Hebammenkatechismus  des  SORANOS, 
durch  dessen  Bearbeitung  eines  MUSTIO  in  die  Mönchsmedizin  und 
Frühsalerno  aus  bester  antiker  gynäkologischer  Quelle  geraten  war, 
haben  wir  ja  andeutungsweise  schon  kennen  gelernt;  im  Buche  „Tro- 
tula" finden  wir  es  wieder,  auch  Dammschutz  und  Naht  von  Damm- 
rissen. 

Besondere  Schriften  über  Kinderkrankheiten  aus  Hochsalerno 
besitzen  wir  nicht;  doch  dürften  die  beiden  kleinen  im  ,Janus'  1909 


Salemo. 


203 


und  igi6  veröffentlichten  pädiatrischen  Texte,  die  aus  der  Antike 
stammen,  in  Frühsalerno  schon  zur  Hand  gewesen  sein :  die  „Practica 
puerorum  adhuc  in  cunabuHs  jacentium"  und  der  „Liber  de  passionibus 
puerorum  [Pseudo-]Galieni". 

Aus  dem  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  oder  dem  Ausgang  des  12. 
ist  uns  schHeßlich  auch  in  vielen  Vortragsnachschriften  erhalten  eine 
stark    persönlich    gefaßte    „Practica    oculorum"    eines    Benvenuto 


J     ^.^__    '^V' 
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Abb.    95.      An   einem    Krankenbette    in    Süditalien    (Palermo).      Arabischer    Hamschauer 

(Arzt)  und  Astrologe  am  Krankenlager  des  letzten  Noimannenkönigs,  Wilhelm  II.  (f  1189). 

Süditalisches  Handschriftbild  aus  dem  Anfang  des  13.  Jahrhunderts. 

Graffeo,  Abkömmlings  einer  Sizilianer  Handelsfamilie,  die  von  Bau 
und  Erkrankungen  des  Auges  und  ihrer  medikamenteilen  und  ope- 
rativen Kur  in  wechselnder  Ausführlichkeit  handelt.  Er  nennt  sich 
selbst  nach  Salern,  was  man  später,  als  die  kleine  Medizinschule 
vergessen  war  (paläographisch  sofort  verständlich)  als  „Salem"  las 
und  in  das  geläufige  Jerusalem  umdeutete.    Die  erstaunlich  an  Um- 


204  Salerho. 

fang  und  selbst  Wortlaut  wechselnde  handschriftliche  Darbietungs- 
form hat  sich  bei  weiterer  Handschriftenkenntnis  des  früheren  Mittel- 
alters als  besonders  charakteristisch  gerade  für  Hoch-  und  Spätsalerno 
herausgestellt,  wo  die  Vorlesung,  der  Lehrvortrag  und  die  Schüler- 
nachschrift die  Literatur  beherrscht.  Die  leicht  reklamenhaft  ge- 
haltene praktische  Anweisung  fand  weite  Verbreitung,  auch  in  den 
Landessprachen.  Wie  Roger  ist  Benvenutus  namentlich  auch  in 
der  Provence  als  „Benvengut  de  Salern"  bekannt  geblieben,  bis  ihn 
weit  Besseres  aus  dem  Orient,  das  wir  früher  kennen  gelernt  haben, 
verdrängte.  Ganz  zu  verachten  ist  aber  auch  der  sich  selbst  an- 
preisende (Auftakt  des  späteren  Starstechermetiers!)  Eigenwuchs  von 
Salerno,  der  an  der  Antike  genährt  und  mit  Anleihen  aus  dem 
frühen  Islam  und  aus  Byzanz  aufgeputzt  war,  auf  diesem  Gebiete 
so  wenig  als  auf  anderen. 

Noch  im  Niedergange  hat  Salerno,  das  fast  nur  noch  an  seinem 
Glänze  im  12.  Jahrhundert  zehrte,  ja  als  die  Civitas  Hippocratica  fast 
schon  hippokratische  Züge  aufzuweisen  begann,  der  ganzen  Aerzte- 
schaft  des  Abendlandes  einen  ganz  besonderen  Dienst  erwiesen  da- 
durch, daß  es,  in  Fortführung  kluger  Maßnahmen  seiner  normannischen 
Vorfahren,  der  große  Staufenkaiser  Friedrich  IL  als  älteste  medi- 
zinische Lehrstelle  Italiens  mit  dem  Rechte  ausstattete,  nach  voll- 
endetem Studium  Aerzte  für  den  Bezirk  seines  Reiches  zu  appro- 
bieren. Salerno  allein  erhielt  dieses  Recht  mit  Uebergehung  der  eben 
erst  von  Friedrich  gegründeten  Hochschule  zu  Neapel,  immerhin  ein 
Zeichen  dafür,  daß  es  vor  den  scharfen  Augen  des  Kaisers  und  seines 
Kanzlers  in  seinen  Leistungen  noch  zu  bestehen  vermochte.  Das 
dortige  Studium  war  auf  fünf  Jahre  festgesetzt,  an  die  sich  ein  prak- 
tisches Jahr  anschließen  mußte,  ehe  die  Approbation  verliehen  werden 
konnte,  ein  Jahr  praktischer  Uebung  unter  der  Beratung  eines  er- 
fahrenen Praktikers.  Für  Chirurgie  war  ein  besonderer  einjähriger 
Lehrgang  vorgeschrieben.  Auch  die  weitere  Ausübung  der  Praxis 
wurde  behördlichen  Einflüssen  unterworfen.  Neben  der  Verpflichtung 
zur  unentgeltlichen  Ratserteilung  an  Arme  wurde  eine  reichliche  Taxe 
für  die  Entlohnung  festgesetzt,  die  Arzneibereitung  in  den,  eben 
unter  örtlichen  Einflüssen  in  Aufnahme  gekommenen  Apotheken  der 
Beaufsichtigung  unterworfen  und  Machenschaften  zwischen  Aerzten 
und  Apothekern  verboten.  Ja  für  das  süditalienische  Staufenreich 
erhielt  Salerno  eine  Art  Lehrmonopol  für  Medizin,  freilich  nur  für 
kurze  Zeit.  Im  Jahre  1240  war  die  Ordnung  des  Medizinalwesens 
vollendet,  und  1268  war  es  mit  der  Staufenherrschaft  in  Italien  am 
Ende;  Neapel  trat  an  die  Stelle  von  Salerno,  dessen  Ruhm  im 
14.  Jahrhundert  im  Munde  des  Petrarca  nur  noch  wie  eine  Sage  khngt. 


Salemo. 


205 


Nicht  viel  mehr  als  einen  Auf frischungs versuch  des  alten  Glanzes 
von  Salerno  bedeutet  auch  das  viel  beredete  „R egimen  Sanitatis 
Salernitatum",  das  namentlich  im  15.  und  16.  Jahrhundert  sich 
eines  großen  Namens  und  weiter  Verbreitung  erfreute,  aber  in  den 
Handschriften  selbst  des  14.  und  15.  Jahrhunderts  nur  eine  bescheidene 
Rolle  spielt,  vorher  überhaupt  nicht  nachzuweisen  ist.  Arnald 
von  Villanova  hat  zu  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  aus  altem  medi- 
zinischen Versgut  Salernos,  des  weiteren  Italiens  und  Frankreichs 
eine  kleine  Lese  von  einigen  360  Merkversen  zusammengestellt,  teils 
diätetischer,  teils  pharmazeutischer  und  prognostischer  Natur,  und 
mit  einem  Prosakommentar  versehen,  mit  dem  sie  zuerst  auch  immer 
gedruckt  wurden.     Das 

„Anglorura  Regi  scripsit  tota  schola  Salerni", 
das  so  viele  verführt  hat,  scheint  freie  Erfindung  des  dem  süd- 
italienischen Arragon  damals  wohlgeneigten  ^Mystifikators.  Medi- 
zinische und  diätetische  Merkverse  hatte  man  nebenher  im  versefrohen 
14.  und  15.  Jahrhundert  allenthalben  in  den  Handschriften  in  kleinen 
Gruppen  niedergelegt,  das  ist  dann  zum  Teil  im  15.  und  besonders 
im  16.  Jahrhundert  als  „salernitanisch"  der  Sammlung  des  Arnald, 
nachdem  sie  den  Kommentar  abgestreift  hatte,  angegliedert  worden. 
Namentlich  im  19.  Jahrhundert  ist  dann  dieses  Florilegium  medi- 
zinischer Merkverse  (als  „Flos  medicinae"  schon  in  Handschriften 
gelegentlich  bezeichnet)  zu  einem  starken  Umfange  angeschwollen,  zu 
einem  wohlgegliederten  Kompendium  der  Gesamtmedizin.  Wie  sich 
aber  allmählich  seine  Merkverse  von  der  alten  „leoninischen"  Versform 
immer  mehr  entfernten,  so  wich  auch  die  Prunkgestalt  der  3520  Verse 
in  zehn  Abschnitten  mit  je  vielen  Kapiteln  bei  DE  Renzi  von 
salernitanischem  Schulwissen  des  11.  und  12.  Jahrhunderts  schließlich 
ebensosehr  ab  wie  die  Treibhauskultur  eines  großen  botanischen 
Gartens  von  einem  blühenden  Wiesenstück  im  Firnlicht  der  Alpen 
oder  in  dem  Hochtal  der  Apenninen  von  Vallombrosa. 

Arnald  der  Katalane,  den  wir  noch  kennen  lernen  werden, 
hatte  ein  feineres  Gefühl  für  die  Schlichtheit  von  Altsalerno  als  die 
Sammelfreudigen  der  „Collectio  Salernitana"'  aus  der  Mitte  des  19.  Jahr- 
hunderts, die  mit  solchem  Ballast  von  Versen  den  unvergänglichen 
Ruhm  der  Civitas  Hippocratica  als  erster  medizinischer  I-ehr-  und 
Literaturstelle  des  Abendlandes  im  Mittelalter  neu  glaubten  auf- 
zimmern zu  müssen!  — 


Der  Aufstieg  mittelalterlicher  Chirurgie  in  Nord- 
italien während  des  dreizehnten  JahrhundertsJ 

Die  Befruchtung  des  bescheidenen  abendländischen  Eigenbaues 
in  Ausübung  und  Lehre  zu  Salerno  im  lo.  und  1 1.  Jahrhundert  durch 
die  Einfuhr  früharabischen  Wissensgutes  in  den  letzten  Jahrzehnten 
des  II.  Jahrhunderts  durch  Konstantin  hatte  die  erste  Blüte  abend- 
ländischer Heilwissenschaft  herangerufen,  die  ein  volles  Jahrhundert 
gedauert  hat  und  schließlich  in  die  Salernitaner  Frühscholastik  eines 
Maurus  und  Urso  ausklang,  die  auch  auf  die  naturphilosophische 
Scholastik  Frankreichs  im  13.  Jahrhundert  nicht  ganz  ohne  Einfluß 
blieb. 

Unterdessen  hatte  sich  in  Sizilien  am  Normannenhofe  eine  fleißige 
Uebersetzerschule  aus  dem  Griechischen  durch  Vermittelung  aus  Byzanz 
entwickelt,  welche  die  Naturwissenschaft  fast  ausschließlich  befruchtete, 
aber  schon  seit  der  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  Leben  gewonnen 
hatte  und  auch  nach  dem  Festlande  hinüber  Einfluß  erlangte,  der 
im  13.  und   14.  Jahrhundert  stärker  sich  aussprach  und  auswirkte. 

Wichtiger  bei  weitem  für  die  Medizin ,  wie  für  die  gesamte 
weitere  Geistesentwicklung  des  Mittelalters  wird  die  Uebersetzer- 
tätigkeit  aus  dem  Arabischen,  die  sich  in  Spanien  im  12.  und  auch 
im  13.  Jahrhundert  betätigte,  namentlich  in  Toledo.  Was  außerhalb 
Toledos  in  Spanien  seit  dem  Anfang  des  12.  Jahrhunderts  übersetzt 
wurde,  betraf  meist  die  Mathematik,  aber  nicht  die  Medizin.  In  Toledo 
jedoch  wurde  schon  zu  Beginn  des  zweiten  Viertels  des  12.  Jahr- 
hunderts von  dem  getauften  Juden  Avendeliut  (ibn  Dawud),  Johannes 
VON  Toledo  oder  Johannes  Hispanus  genannt,  das  diätetische 
Mittelstück  eines  Fürstenspiegels,  betitelt  „Epistola  Aristotelis  ad 
Alexandrum  de  observatione  diaetae",  aus  dem  Arabischen  übersetzt 
und  einer  spanischen  Fürstin  gewidmet.  Dieser  Pseudo- Aristoteles- 
brief machte  gewaltigen  Eindruck,  fand  weiteste  Verbreitung,  wurde 
früh  versifiziert  und  in  die  Landessprachen  übersetzt,  fand  auch 
früh  in  Salerno  Eingang  und  ist  die  Grundlage  für  die  umfängliche 
abendländische  Literatur  der  Gesundheitsregimina  aller  Art  geworden. 
Noch  100  Jahre  nach  seinem  Bekanntwerden  verwies  darauf  den 
Staufenkaiser  Friedrich  IL  in  einem  diätetischen  Briefe  sein  Leibarzt 
und  Hofphilosoph  Magister  Theodorus. 


Aufstieg  mittelalterl.  Chirurgie  in  Norditalien  während  des  13.  Jahrh.     207 

Zu  Ende  des  dritten  und  zu  Beginn  des  letzten  Viertels  im 
12.  Jahrhundert  ward  aber  die  große  Ueberschüttung  des  medi- 
zinischen Abendlandes  mit  dem  höchsten  Aerztegut  des  Islam  zur 
Wirklichkeit  durch  den  Lombarden  Gherardo  aus  Cremona,  den 
sein  Wissensdrang  vor  1170  nach  Spanien  getrieben  hatte,  und  um 
den  sich  nun  in  Toledo  eine  lernbegierige  Uebersetzerschule  bildete, 
die  vor  allem  auf  Astrologie  und  anderes  geheime  Wissen,  aber 
auch  auf  Medizin  ihr  Augenmerk  richtete.  Gerhard  starb  1187, 
ein  Jahrhundert  nach  KONSTANTIN.  Aber  noch  vor  Ende  des  Jahr- 
hunderts schrieb  einer  seiner  Schüler,  der  Engländer  Daniel  von 
Morley,  sein  astrologisches  Kompendium,  den  „Liber  de  naturis  in- 
feriorum  et  superiorum",  der  auch  für  die  latromathematik,  d.  h.  die 
astrologische  Medizin,  die  Grundlage  allei  neuen  Entwicklung  nach 
den  Tagen  des  Späthellenismus  in  sich  barg. 

Unter  dem  medizinischen  Literaturgut,  das  Gerhard  und  seine 
Schüler  aus  dem  Arabischen  genommen,  befindet  sich  zunächst  eine 
ganze  Reihe  von  Schriften  unter  dem  Namen  des  Galenos,  darunter 
auch  die  stark  astrologisch  orientierten  Schriften  über  die  Krisen  und 
kritischen  Tage.  Von  dem  großen  Perser  ar-Räzi  kommen  nun 
einige  seiner  Schriften  ins  Abendland,  namentlich  das  Gesamt- 
kompendium an  Mansur  und  die  Divisionen ,  das  Medikamenten- 
büchlein des  IBN  WÄFID,  das  Breviarum  des  Jachia  ibn  Serafiün 
(Serapion),  der  Kommentar  des  'Ali  ibn  Ridhwän  zur  kleinen 
Kunst  des  Galenos  und  vor  allem  der  Qanün  des  IBN  SiNÄ  sowie 
die  Chirurgie  des  Abu'l  Qäsim. 

Den  Einfluß  dieses  Platzregens  von  neuem  Wissensstoff  kann 
man  sich  gar  nicht  stark  genug  vorstellen,  er  war  auf  dem  Gebiete 
der  Medizin  mindestens  so  groß  wie  der  des  Bekanntwerdens  der 
naturwissenschaftlichen  Schriften  des  ARISTOTELES  im  13.  Jahr- 
hundert auf  die  Entwicklung  der  Philosophie,  des  ganzen  abend- 
ländischen Denkens.  Im  13.  Jahrhundert  kam  neben  anderem,  minder 
wichtigem  iVrabischen  vor  allem  hinzu  die  Bekanntgabe  des  ge- 
waltigen griechisch-arabischen  Sammelwerks  des  „Conti nens  Rasis" 
durch  den  Juden  aus  Girgenti  auf  Sizilien,  Faradsch  BEN  SÄLIM 
(1279),  der  in  Salerno  seine  Ausbildung  gefunden  hatte. 


Ihn  Sinä,  Abu'l  Qäsim  und  nebenher  auch  AR-RÄzi  blieben 
auch  auf  den  Zweig  der  italienischen  Medizin  des  Mittelalters  nicht 
ohne  Einfluß,  der  sich  mit  Roger  von  Salern  zu  einer  gewissen  Selb- 
ständigkeit durchgerungen  hatte,  auf  die  Chirurgie,  die  im  13.  Jahr- 
hundert in  eigener  genialer  Uebung  in  Oberitalicn  einen  so  hohen 
Stand  der  Ausbildung  erreichte  wie  kein  anderer  Zweig  der  Heilkunde. 


2o8     Aufstieg  mittelalterl.  Chirurgie  in  Norditalien  während  des  13.  Jahrh. 

Aus  einer  Adelsfamilie  von  Lucca,  der  der  BORGOGNONI,  gingen 
zwei  bedeutende  Chirurgen  hervor,  die  zum  Aufstieg  die  Grundlage 
schufen,  HuGO  von  Lucca  und  sein  Sohn  Theoderich.  Hugo,  ein 
geborener  Wundarzt,  führte,  wie  ROGER  der  Langobarde,  nicht 
selbst  die  Feder;  sein  gelehrter  Sohn  geistlichen  Standes  hat  das 
Ergebnis  gemeinsamer  Erfahrungen  aufs  Pergament  gebracht.  Um 
so  größer  war  die  praktische  Leistung  des  Vaters,  der  mit  genialem 
Blick  erkannte,  daß  die  Wundbehandlung  seit  mehr  als  einem  Jahr- 
tausend in  die  Irre  gegangen  war,  daß  nicht  die  Erregung  von  „pus 
bonum  et  laudabile"  in  der  Wunde  zu  deren  Heilung  der  Weisheit 
letzter  Schluß  sei,  sondern  die  Erstrebung  eines  eiterlosen  Wund- 
schlusses, einer  naturgemäßen  prima  intentio,  unter  einem  einfachen 
Alkoholverband  (cum  solo  vino  et  stupa  [Werg]  et  ligatura  decenti). 
Und  noch  ein  weiterer  großer  Fortschritt  ist  dem  geschickten  Ope- 
rateur zu  verdanken,  die  Anwendung  von  Schlafschwämmen  zur 
allgemeinen  Narkose  bei  chirurgischen  Eingriffen.  An  seinen  äußeren 
Lebensgang  knüpft  sich  auch  die  erste  völlig  sichere  Konstatierung 
einer  wichtigen  Erneuerung  antiker  Einrichtungen  auf  italienischem 
Boden  in  der  dauernden  Wiederbegründung  des  Stadtarztwesens  im 
Mittelalter.  Im  Jahre  1 2 1 1  wurde  HuGO  von  Lucca  als  städtischer 
Wundarzt  nach  Bologna  berufen  und  gleichzeitig  verpflichtet,  auch  als 
geriehtärztlicher  Sachverständiger  zu  dienen;  er  begleitete  als  Feld- 
scher das  Bologneser  Kontingent  ins  heilige  Land  und  nahm  an  der 
Belagerung  von  Damiette  teil.  1221  aus  der  Levante  heimgekehrt, 
hat  er  noch  mehr  als  3  Jahrzehnte  in  Bologna  gewirkt,  auch  in  che- 
mischer Arzneibereitung,  wie  mancher  fortschrittliche  Chirurg  des 
Mittelalters,  bis  zu  gewissem  Grade  erfahren. 

Ehe  der  mit  hoher  kirchlicher  Würde  bekleidete  und  doch  der 
ausübenden  Chirurgie  sein  Leben  lang  zugetane  Sohn  (Teodorico 
DEI  BoRGOGNONi,  1206 — 1298)  sein  Lehrbuch  der  Chirurgie  in 
vier  Büchern,  das  sich  neben  der  Anlehnung  an  die  Vorgänger  in 
der  hterarischen  Form  auf  der  väterlichen  und  eigenen  Erfahrung 
aufbaut,  vollendet  hatte,  wobei  der  Sohn  den  Vater  allenthalben  in 
würdiger  Weise  zur  Geltung  kommen  läßt,  ehe  also  dieses  Buch  in 
der  heute  noch  erhaltenen  Form  zum  Abschluß  gekommen  war,  hatte 
der  Kalabrese  Bruno  (aus  Longoburgo  oder  Longobucco)  zu  Pavia 
oder  zu  Padua  1252  (die  handschriftUche  Ueberlieferung  lautet  nicht 
ganz  einheitlich)  seine  wenig  geordnete  „Cyrurgia  magna"  fertigge- 
stellt, „omnia  vestigia  veterum  sapientum  perscrutans",  wie  er  selbst 
betont.  Mag  sein,  daß  er  in  seiner  Heimat  Kalabrien  einen  gewissen 
Anschluß  an  dortige  alte  chirurgische  Gildenübung  gefunden  hatte, 
Tatsache  ist  es,  daß  sein  Buch,  und  erst  recht  nicht  sein  kleiner 
Leitfaden  einer  „Chirurgia  minor",  davon  keine  Spur  erkennen  läßt. 


Aufstieg  mittelalterl.  Chirurgie  in  Norditalien  während  des  13.  Jahrli.     209 

Im  Gegenteil,  sein  Buch  läßt  als  Erstes  in  völlig  scholastischer  Weise 
den  Einfluß  der  Chirurgie  des  Ayicenxa  und  Abuloasim  hervor- 
treten, der  hier  im  vollen  Maße  zum  Durchbruch  gekommen  ist. 
Bruno  ist  es  Bedürfnis,  nicht  nur  die  Tatsachen  reden  zu  lassen, 
sondern  in  Exkursen  ein  wenig  zu  disputieren  (oportet  aliquantulum 
disputare). 


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Abb.  96.     Operationsbilder  aus  einer  Leidener  THEODERICH-Handschrift  (ums  Jahr  1400). 


In  Bologna  aber,  wo  RoLANDO  und  Ugo  nebeneinander  ge- 
wirkt und  in  der  Praxis  gelegentlich  aneinander  geraten  waren,  wo 
Theoderich,  mochte  er  auch  anderswo  als  Kirchenfürst  ernannt 
werden,  sein  Leben  lang  chirurgische  Praxis  getrieben  und  schließlich 
ein  großes  in  der  Wundarzneikunst  erworbenes  Vermögen  hinter- 
lassen konnte,  hat  neben  ihm  an  der  Hochschule  und  in  der  Praxis 
mit  großem  Erfolge  gewirkt  in  den  60er  und  70er  Jahren  des  13.  Jahr- 


Mey er-Steineg  u.  Sudhoff,  Illustr.  G«chichte  der  Medizin. 


14 


2IO     Aufstieg  mittelalterl.  Chirurgie  in  Norditalien  während  des  13.  Jahrh. 

hunderts  Wilhelm  der  Piacentiner,  nach  einem  dieser  Stadt  der 
Lombardei  nahe  gelegenen  Orte,  als  seinem  Geburtsorte,  auch  Gu- 
LIELMO  da  Saliceto  genannt.  Wilhelm  hat  ein  großes,  für  seine 
Zeit  als  stark  selbständig  zu  bezeichnendes  Werk  über  die  Gesamt- 
medizin geschrieben,  dessen  chirurgischen  Teil  er  noch  in  Bologna 
im  wesentlichen  fertiggestellt  hatte.  Der  „specialis  amor"  zur  opera- 
tiven Chirurgie  hatte  ihm  den  Anlaß  gegeben,  gerade  diesen  Ab- 
schnitt in  den  letzten  vier  Jahren  seiner  Bologneser  Tätigkeit  vorweg 
in  Angriff  zu  nehmen  und  in  den  ersten  Monaten  nach  seiner  Be- 
rufung an  das  Veroneser  Stadtarztamt  (1275)  die  letzten  Kapitel 
daran  noch  zu  schreiben,  so  daß  er  am  S.Juni  1275  das  Schlußwort 
unter  das  Werk  setzen  konnte.  Gewidmet  hat  er  seine  Chirurgie 
dem  BuONO  Di  Garbo,  namhaftem  Wundarzt  in  Bologna,  wo 
Wilhelm  schon  126g  aktenmäßig  nachweisbar  ist.  Das  ganze  übrige 
medizinische  Gesamtwerk,  das  er  „Summa  conservationis  et  curationis" 
betitelte,  hat  Wilhelm  erst  nach  1275  zu  Verona  vollendet,  wo  wir 
ihn  noch  im  März  127g  nachzuweisen  vermögen  an  der  Hand  einer 
kasuistischen  Eintragung  in  seine  Chirurgie,  der  er  während  der 
Ausarbeitung  der  diätetischen  und  internmedizinischen  Abschnitte 
seines  Handbuches  der  gesamten  Medizin  eine  pflegsame  Weiter- 
bearbeitung zuteil  werden  ließ.  Auch  dies  ist  für  seine  klinische 
Eigenarbeit   an  der  Medizin  seiner  Tage  ein  charakteristischer  Zug, 

Seine  Chirurgie  aber  bildet  den  wichtigsten  Abschnitt  in  dem 
wertvollen  Gesamtwerke.  Sie  behandelt  knapp  und  doch  erschöpfend 
das  ganze  Gebiet  in  selbständiger  Weise.  Ueberall  zeigt  sich  der 
erfahrene  Wundarzt,  der  auch  im  Verlauf  einer  Operation  noch  selber 
den  Weg  zu  finden  weiß,  der  zum  Ziele  führt,  wenn  die  über- 
kommene Erfahrung  und  Lehre  anderer  im  Stiche  läßt. 

Noch  mehr  kommt  die  in  Wilhelms  Erfahrung  wurzelnde 
Selbständigkeit,  die  sich  auch  in  der  bei  ihm  eingestreuten  Kasuistik 
bewahrheitet,  zum  Ausdruck  in  der  Arbeit  seines  Schülers  Lan- 
FRANCO,  in  der  wir  wohl  die  Höhe  mittelalterlicher  Chirurgie  über- 
haupt erblicken  können.  Chirurgische  Anatomie  hat  Lanfranc  nicht 
wieder  zur  Darstellung  gebracht,  nur  einen  kurzen  Abschnitt  über 
die  allgemeine  Anatomie  der  membra  consimilia,  der  einfachen  Ge- 
webe. Den  vortrefflichen  Abriß  einer  topographischen,  chirurgischen 
Anatomie  seines  Lehrmeisters  Wilhelm,  der  dessen  Chirurgie  ziert, 
hatte  Lanfranc  nicht  zu  übertreffen  hoffen  können. 

Aus  der  edlen  Familie  der  Laneranchi  in  Mailand  entsprossen, 
hatte  der  größte  Chirurg  des  Mittelalters  bei  Wilhelm  von  Sali- 
ceto eine  treffliche  Schule  durchgemacht  und  in  seiner  Vaterstadt 
eine  große  eigene  Praxis  entfaltet,  bis  ihn  der  unseHge  Parteihader 
in    seiner  Heimat,   bei   dem   sich  seine  Familie  zu  den  Gegnern  der 


Aufstieg  mittelalterl.  Chirurgie  in  Norditalien  während  des  13,  Jahrh.     211 

Visconti  geschlagen  hatte,  in  die  Verbannung  trieb,  aus  der  ihm  die 
Heimkehr  versagt  geblieben  ist. 

Er  wandte  sich  nach  Frankreich  mit  seiner  ganzen  Familie, 
zuerst  nach  L3'on,  wo  er  sich  praktisch  und  literarisch  ganz  der 
Chirurgie  widmete,  seinen  kurzen  chirurgischen  Leitfaden  fertigstellte 
und  sein  großes,  schon  in  Mailand  begonnenes,  chirurgisches  Haupt- 
werk weiter  förderte.  Im  Jahre  1295  siedelte  er  nach  Paris  über, 
wo  er  1296  dies  große  Werk,  die  „Ars  completa  totius  cirurgiae" 
zimi  Abschluß  brachte.  Auch  nach  Montpellier,  wo  sein  Sohn  Bo- 
XETUS  als  Chirurg  sich  niedergelassen  hatte,  gewann  Lanfranc 
Beziehungen,  und  es  ist  recht  wohl  möglich,  daß  der  Berxhardus, 
dem  er  mit  besonderer  Freundschaft  und  Verehrung  seine  beiden 
chirurgischen  Werke  gewidmet  hat,  die  damalige  Zierde  von  Mont- 
pellier. Bernhard  Gordox  gewesen  ist.  In  Paris  nahm  man  ihn 
mit  offenen  Armen  auf;  besondere  Verdienste  um  ihn  haben  dort 
Jeax  de  Passavant  und  Jeax  Pitard.  Die  Pariser  Aerzte  und 
das  junge  College  de  St  Come  scheinen  ihm  gleich  wohlgesinnt  ge- 
wesen zu  sein,  dem  König  Philipp  IV,  der  Schöne  (1285  — 1314),  seine 
Gunst  geschenkt  hatte.  Lehrend  und  operative  Praxis  übend,  hat  er 
in  Paris  noch  mehr  als  ein  Jahrzehnt  Glück  und  Ehre  genossen. 
Der  Heimatlose  war  dem  Adoptiv vaterlande,  besonders  dessen  Haupt- 
stadt, der  „terra  pacis  et  studii"  in  warmer  Dankbarkeit  ergeben; 
schier  unerschöpflich  ist  er  im  Lobe  dieses  irdischen  Paradieses  und 
der  Klugheit  seiner  Aerzte. 

In  seiner  großen  Chirurgie  ist  noch  eine  ziemliche  Anzahl  der 
praktischen  Belegfälle  der  Mailänder  Praxis  des  Laxfraxco  ent- 
nommen. Sie  machen  einen  Hauptwert  des  Werkes  aus,  mit  dem 
er  die  von  seinem  Lehrmeister  Wilhelm  schon  so  weit  geförderte 
Wundheilkunde  zur  Höhe  einer  Wissenschaft  zu  erheben  beflissen 
war.  Klinische  Chirurgie  ist  die  SigTiatur  trotz  aller  Knappheit  der 
Darstellung;  eigenes  Urteil  wahrt  er  auch  dem  verehrten  Meister 
gegenüber.  Freilich  die  große  Erkenntnis  der  eiterlo.sen  Wimd- 
behandlung  der  HuGO  und  Theoderich  unter  Anwendung  von 
Wein  als  Wundmittel  scheint  wieder  verloren;  dagegen  tritt  die 
Gefäßligatur  und  auch  die  Blutstillung  durch  Torsion  in  ihr  Recht. 
L.  übt  die  direkte  Naht  der  Nerven,  hat  in  der  Behandlung  kom- 
plizierter Frakturen  selbständige  Erfahrung  und  zeigt  bei  der  Ope- 
ration der  Mastdarmfistel,  daß  er  die  Hohlsonde  schon  kennt,  bei 
der  Naht  der  Bauchwunde,  daß  er  die  Gefahr  der  Entstehung  einer 
Bauchhernie  in  der  Narbe  schon  in  Betracht  zieht.  Durch  diesen 
großen  Italiener,  dem  es  eine  neue  Heimat  bot,  ist  Frankreich  auch 
die  Heimstätte  der  fortschrittlichen  Chirurgie  für  Jahrhunderte  ge- 
worden. 

14* 


Montpellier. 

Wie  in  Salerno  sind  auch  in  Montpellier  die  Anfänge  der  Me- 
dizinschule dunkel.  Offenbar  haben  sie  mit  der  Pflege  medizinischen 
Buchwissens  an  den  Kathedral-  und  Klosterschulen  in  Chartres, 
Tours,  Marmoutier  usw.  nichts  gemein.  Unwillkürlich  drängt  sich 
einem  der  Gedanke  auf,  daß  schwache  Einflüsse  aus  Römertagen 
in  der  Narbonensis  noch  am  Werke  gewesen  sein  möchten,  die  sich 
mit  islamisch-jüdischen,  die  über  die  Pyrenäen  kamen,  verflochten. 
Erstere  sind  aber  noch  weniger  zu  greifen  als  die  unbestimmten, 
wenn  auch  wohl  zweifellosen,  letzteren. 

Greifbar  wird  eine  Lehrkörperschaft  in  Montpellier  im  12.  Jahr- 
hundert. Besuche  gelehrter  Kleriker  aus  Deutschland  berichten  von 
dortigem  gelehrtem  Leben,  schon  aus  der  ersten  Hälfte  dieses  Zeit- 
raumes. Vom  Januar  1 1 80  datiert  eine  Art  akademischen  Toleranz- 
ediktes, das  der  Graf  Wilhelm  VIII.  von  Montpellier  erlassen  hatte, 
während  doch  die  Sage  geht,  daß  die  Medizinschule  in  Montpellier 
vorher  schon  den  Juden  und  Sarazenen  offen  gestanden  habe.  Gegen 
den  im  12.  Jahrhundert  zweifellos  überlegenen  Rivalen  Salerno 
hegte  man  offenbar  eine  gewisse  Abneigung,  die  der  begeisterte 
Schüler  der  süd italienischen  Hochschule  Gilles  aus  Corbeil  (nahe 
bei  Paris)  bitter  büßen  mußte,  als  er,  um  1180  von  Salerno  heim- 
gekehrt, Salernitaner  Lehrweisheit  in  Montpellier  vorzutragen  wagte; 
er  wurde  regelrecht  verprügelt.  Mag  sein,  daß  gerade  diese  hand- 
greiflichen Widerlegungsversuche  der  Koryphäen  von  Montpellier, 
die  einem  Urso  und  Maurus  aus  ihren  Reihen  keinen  Ebenbür- 
tigen gegenüberzustellen  vermochten,  nicht  nach  dem  Herzen  der 
Aufsichtsbehörde  waren  und  den  Erlaß  erklären  würden ;  damit  wäre 
die  Heimkehr  des  Aegidius  Corboliensis  von  Salerno  auf  eine 
immer  schon  vermutete  Zeit  genauestens  festgelegt  (1179).  Ver- 
gegenwärtigt man  sich,  wie  aus  Hartmanns  von  Aue  „Armem 
Heinrich"  hervorvorgeht,  daß  zu  Ende  des  12.  Jahrhunderts  die 
Schale  der  allgemeinen  Wertschätzung  der  beiden  Medizinschulen 
entschieden  zum  Vorteil  Salernos  sich  neigte,  so  kann  man  die  Frei- 
heit  der  Diskussion    und  Lehre   für  Montpellier  nur  nützlich  halten. 

In  Salerno  hatte  sicher  auch  der  Proven9ale  Bernhard  stu- 
diert, der  aus  Arles  stammte  und,   wie  wir  schon  gehört  haben,  die 


Montpellier. 


213 


„Tafeln"  des  ^Magister  Salerxus  mit  Erläuterungen  versah;  er 
scheint  dann  später  in  ^Montpellier  gelehrt  zu  haben,  doch  ist  dies 
nicht  bewiesen.  Gilles  nannte  als  dortige  Lehrer  einen  Rexau- 
DUS,  einen  Matheus  Salomox,  einen  RiGORDUS,  einen  Richardus 
senior,  die  alle  literarisch  unfaßbar  sind  wie  Frühnamen  von  Sa- 
lern.  Frühen  literarischen  Ruhm,  fast  ohne  eigenes  Zutun,  hatte 
sich  in  Salerno  Johannes  de  Sancto  Paulo  erworben,  den  wir 
schon  kennen  und  für  einen  Südfranzosen  halten,  der  kurz  nach 
AeCtIDIUS  in  die  Heimat  zu- 
rückgekehrt sein  mag,  wie 
auch  Walther  Agilox,  der 
Verfasser  eines  Harntraktates, 
eines  Büchleins  über  Arznei- 
dosen, einer  allgemeinen  me- 
dizinischen Praktik,  die  auf 
den  Faden  der  Harndiagnostik 
gefädelt  ist,  dessen  Lehrzeit  in 
Salerno  einige  Wahrschein- 
lichkeit hat,  der  aber  schon 
weiter  ins  13.  Jahrhundert 
hineingehört.  Enger  noch 
scheint  Johann  von  Aquila, 
der  Verfasser  eines  in  Disti- 
chen geschriebenen  Aderlaß- 
traktates, an  Salerno  gebun- 
den, wenn  er  auch  gleichfalls 
mit  Wahrscheinlichkeit  ein 
Südfranzose  aus  dem  Anfang 
des  13.  Jahrhunderts  ist. 


In  Montpellier  selbst  hatte 

man  unterdes  (1220)  sich  Sta-  Abb.  97.  Front  der  „Facult6  de  Medccine" 
tuten  geschaffen,  die  1240  ^  Montpellier  mit  der  Kathedrale  daneben, 
weiter  ausgeführt  wurden.  Die 

Regenz  ist  rein  hierarchisch;  neben  dem  Bischof  steht  ein  Kanzler. 
Die  gelehrten  Grade:  Baccalaurius,  Lizentiat,  Magister  oder  Doktor 
wurden  streng  geregelt.  Seit  1230  war  die  Praxis  in  Montpellier  an 
die  Bedingung  der  Prüfung  durch  zwei  Magister  der  Fakultät  ge- 
bunden.    Chirurgen  sollten  in  Montpellier  nicht  geprüft  werden. 

Die  zweite  Hälfte  des  13.  und  der  Anfang  des  14.  Jahrhunderts 
waren  eine  Zeit  besonderer,  auch  literarischer  Blüte  von  Montpellier. 

Hatte  man  gegen  Koxstantix  und  seine  Schule,  die  Frühara- 
bistik    von    Salerno,    allmählich    eine    gewisse   Abwehrstellung    ein- 


2 1 4  Montpellier, 

genommen,  ohne  ihr  nennenswertes  Eigenes  entgegenstellen  zu  kön- 
nen, so  studierte  man  nun  um  so  eifriger  die  reifere  Weisheit  des 
Islam,  die  über  die  Pyrenäen  aus  Toledo  und  dem  weiteren  Spa- 
nien herüberströmte.  An  der  neuen  Aneignung  durch  Uebersetzungen 
aus  dem  Arabischen,  wozu  man  durch  eigene  Judenschaft  als 
Dolmetscher  wohl  in  der  Lage  gewesen  wäre,  beteiligte  man  sich 
selbst  nur  in  geringem  Maße.  Der  einzige,  der  außer  dem  Spanier 
Arnald  einen  ernsteren  Versuch  machte,  war  Armengaud,  Sohn  des 
Blaise  (Armengaldus  Blasii),  der  neben  einigen  Pseudo-Galenicis 
eine  kleine  Schrift  des  Ibn  Sinä  und  eine  des  Maimonides  nach 
dem  Arabischen  oder  dem  Hebräischen  mit  Hilfe  des  Juden  Pro- 
FATIUS  (Profa(;ag  aus  Marseille)  übersetzte  (1280— 1303),  von  der 
Fakultät  aber  aus  unbekannten  Gründen  ausgestoßen  wurde. 

Der  erste  nennenswerte  Autor  von  den  Professoren  zu  Mont- 
pellier ist  der  Magister  Cardinalis,  der  um  1240  Glossen  zu  den 
Aphorismen  des Hippokrates  schrieb;  auch  ein  Gillibertus,  um 
1250  Kanzler  der  Fakultät,  hat  sich  literarisch  einen  Namen  gemacht 
durch  Kommentare  zum  Aegidius  und  zum  Viaticus.  Etwas  unbe- 
stimmt sind  die  Nachrichten  über  einen  Roger  de  Barone,  der 
in  Montpellier  wirkte,  um  1280  oder  später,  und  als  Verfasser  der 
„Rogerina"  vielleicht  zu  gelten  hat,  die  als  „Practica  Rogerii"  in  die 
„CoUectiones  Chirurgicae"  der  Renaissancezeit  versehentlich  ge- 
raten ist:  ein  intermedizinisches  Werk,  zweifellos  nicht  ohne  Wert, 
das  dem  Salernitaner  Chirurgen  Roger  sicher  nicht  zugerechnet 
werden  kann.  Die  größten  Namen,  die  das  medizinische  Katheder 
in  Montpellier  im  zu  Ende  gehenden  13.  und  beginnenden  14.  Jahr- 
hundert geziert  haben,  sind  Arnald  der  Katalane  und  Bern- 
hard (von)  Gordon. 

Arnald  von  Villanova,  geboren  ca.  1235  in  der  Nähe  von 
Valencia  in  Spanien,  und  sein  Leben  lang  mit  dem  Hofe  von  Ara- 
gon in  nahen  Beziehungen,  hat  mehr  als  ein  Jahrzehnt,  etwa  1289 
bis  1299,  in  Montpellier  gelehrt  und  gewirkt,  sprengt  aber  die  Mons- 
pessulanischen  Schulschranken.  Er  ist  zweifellos  die  fortschrittlichste 
Aerztepersönlichkeit  des  hohen  Mittelalters,  wenn  ihm  auch  die  Aus- 
geghchenheit  fehlte,  um  völlig  führend  zu  wirken.  In  Montpellier 
sind  die  „Parabolae  medicationis  secundum  instinctum  veritatis 
aeternae"  entstanden,  sein  tiefstes  Werk,  ein  Lehrkanon  heilender 
Betätigung  des  Arztes  aus  den  Instinkten  ewig  gültiger  Wahrheit 
entnommen,  großzügig  und  doch  wirklichkeitsecht.  Größere  Wir- 
kung war  noch  seinem  „Breviarium"  beschieden,  einem  weitge- 
spannten Abriß  der  internmedizinischen  Praxis,  ebenso  bedeutend 
in  der  Erfassung  und  Herausarbeitung  der  Krankheitserscheinungen, 


Montpellier.  2 1 5 

wie  der  Benutzung  aller  erreichbaren  Heilfaktoren.  Arnald  hatte 
auch  schon  die  große  Bedeutung  der  Alchemie,  die  eben  im  Abend- 
lande ihre  großen  Fortschritte  bahnbrechend  auswirkte,  für  die  Arznei- 
bereitung erkannt,  wenn  auch  noch  nicht  voll  auszubilden  vermocht; 
doch  knüpfen  sich  bei  ihm  die  ersten  Verbindungen  zwischen  Me- 
dizin und  Scheidekunst,  wie  er  denn  allem  Geheimwissen  zugetan 
war  und  seinen  Geist  auf  allen  Gebieten  einen  hohen  Flug  wagen 
ließ,  dei  freilich  mehrfach  in  Ueberspanntheiten  ausartete.  In  der 
Medizin  hat  er  den  festen  Boden  nirgends  verloren  und  in  der  Fülle 
seiner  Werke  namentlich  auch  die  Diätetik  nie  aus  den  Augen  ge- 
lassen, ja  in  seinen  Schriften  über  die  Bewahrung  der  Gesundheit 
und  die  Verhütung  des  Alterns  manches  Goldkorn  niedergelegt. 
Er  hat  es  nicht  verschmäht,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  aus  An- 
regungen, die  ihm  wohl  in  Neapel  und  an  dem  Hofe  der  Arago- 
nesen  in  Sizilien  geworden  waren,  an  das  bescheidene  Blühen  von 
Salerno  anzuknüpfen,  medizinische  Merkverse  aus  Salerno  und  dem 
weiteren  Abendlande  zu  sammeln  und  zu  einem  bequemen  Kom- 
pendium ärztlich  gesehener  Lebensweisheit  in  Versen  zusammen- 
zustellen, die,  unabhängig  geworden  von  einem  Prosakommentar,  mit 
dem  er  sie  ausführlich  ausgestattet  hatte,  ein  langes  Nachleben  hatten 
und  sich  zu  einem  Leitfaden  gesunder  Lebensführung  für  Laien  und 
Aerzte  für  viele  Jahrhunderte  auswuchsen,  ohne  daß  man  seines 
Namens  dabei  gedacht  hätte. 

Sicher  war  der  Einfluß  Arnalds  (f  131 1)  als  gefeierter  Lehrer 
und  Gelehrter  und  Weltverbesserer  in  Montpellier  nicht  gering. 
Nachhaltiger  vielleicht  und  eindrucksvoller,  weil  stetiger  und  weni- 
ger unruhig  und  sprunghaft,  war  wohl  noch  das  Wirken  eines 
anderen  bedeutenden  Arztes,  Bernhard  Gordon  (Bernardus  de 
GORDONIO),  über  dessen  Herkunft  wir  nicht  genau  unterrichtet  sind. 
Ob  man  ihn  mit  Recht  für  einen  Schotten  hat  ausgeben  wollen, 
bleibt  zweifelhaft.  Er  wirkt  ganz  als  in  der  Praxis  überaus  erfah- 
rener und  wissenschaftlich  hochbedeutender  Südfranzose,  neben  dem 
Schweifstern  Arnald  unbestreitbar  die  hervorstechendste  Aerzte- 
persönlichkeit  Montpelliers  im  Mittelalter. 

Er  begann  seine  Lehrtätigkeit  um  1282  und  hat  bis  in  das 
zweite  Jahrzehnt  des  14.  Jahrhunderts  gelebt  (gegen  1318).  In  einer 
Jugendschrift  über  den  Theriak  lehnte  er  sich  an  den  Spanier  IBN 
ZunR  (Avenzoar)  an,  ist  aber  in  all  seinem  späteren  bedeutenden 
Schriftwerk  völlig  selbständig,  von  dem  ein  Traktat  über  Diätetik 
in  Fieberkrankheiten  (1294),  eine  prognostische  Abhandlung  über 
Krisen  und  kritische  Tage  (1295),  eine  allgemeine  Therapeutik  („De 
ingeniis  curandorum  morborum",  Juli  1299),  sein  großes  Handbuch 
der  inneren  Aledizin  („Lilium  medicinae",  Juli  1303)   und  ein  zusam- 


2 1 6  Montpellier. 

menfassendes  Werk  über  mittelalterliche  Blutlehre  (Aderlaß,  Harn- 
lehre, Pulslehre  und  Lebenserhaltung,  Februar  1308)  als  das  Wich- 
tigste genannt  seien.  Wenn  auch  in  völlig  anderer  Weise  metho- 
disch ausgeführt,  stellt  sich  das  systematische  Lilium  in  7  Abschnitten 
als  Lehrbuch  würdig  neben  das  praktische  Handbuch  des  Arnal- 
dinischen  „Breviarum",  das  vielfach  neue  Wege  geht.  Bernhard 
zeigt  auch  schon  Spuren  scholastischer  Lehrmethodik  in  man- 
cherlei akademischen  Quaestiones,  neben  geheimwissenschaftlichen 
und  Lebensverlängerungs-Verordnnngen,  die  sich  zum  Teil  direkt 
mit  Arnalds  Schriftwerk  berühren,  wenn  auch  die  dabei  zum  Wort 
kommende  fromme  Gesinnung  von  den  chiliastischen  Spielereien 
und  Religionsverbesserungsplänen  des  Ekstatikers  Arnald  scharf 
absticht. 

Da  es  immerhin  möglich  ist,  daß  Bernhard  Gordon  kein 
geborener  Franzose,  sondern  ein  Schotte  ist,  wenn  ich  es  auch  nicht 
gerade  für  besonders  wahrscheinlich  halte,  so  seien  hier  doch  einige 
namhafte  Aerzte  des  13.  und  14.  Jahrhunderts  genannt,  die  eng- 
lischer Herkunft  sind,  so  der  viel  herumgekommene  RiCHARDUS 
Anglicus  (von  Wendowre  oder  Wendmere,  f  1252),  geb.  zu  Oxford, 
eine  Zeitlang  päpstlicher  Leibarzt  zu  Rom,  später  zu  Paris,  der  eine 
ganze  Reihe  von  Schriften  verfaßt  haben  soll.  Auch  Gilbert,  der 
Engländer,  ein  Zeitgenosse  des  Richard,  soll  weit  gereist,  in  Mont- 
pellier und  Salerno  gewesen  sein.  Er  schrieb  ein  „Compendium 
medicinae"  für  Aerzte  und  Chirurgen,  das  manches  Wichtige  ent- 
hält, z.  B.  in  der  Pathologie  der  Infektionskrankheiten  (Lepra,  Pocken, 
Masern  usw.).  Ein  Zeitgenosse  Bernhards  Gordon  war  John 
OF  Gaddesden  (um  1320).  Er  schrieb,  kurz  nach  dem  „Lilium" 
Bernhards  und  stark  daran  angelehnt,  ein  „Rosa  anglica"  ge- 
nanntes Lehrbuch  der  praktichen  Medizin. 

Aus  dem  Anfang  des  1 4.  Jahrhunderts  sind  als  Lehrerin  Mont- 
pellier zu  nennen  Guillaume  de  Beziers  (de  Biterris,  f  1323), 
Kanzler  der  Hochschule,  Verfasser  einer  ärztlichen  Hodegetik ;  auch 
der  Italiener  Wilhelm  Corvi  von  Brescia,  Verfasser  einer  be- 
rühmten „Practica",  hatte  als  Leibarzt  der  Päpste  Bonifaz  VIII.  und 
Klemens  V,  in  Avignon  lose  Beziehungen  zu  MontpeUier.  Mag. 
Jordanus  de  turre,  als  Lehrer  von  13 13 — 1335  nachweisbar, 
schrieb  über  Schwangerschaft,  wobei  darauf  hingewiesen  sei,  daß 
das  Zölibat  in  Montpellier  nicht  die  strikte  Vorbedingung  zur  Lehr- 
tätigkeit war,  wie  in  Paris  an  der  medizinischen  Fakultät.  Ste- 
phanus  Arnaldi,  Vizekanzler  13 19,  wird  noch  1340  genannt  und 
hat  sich  auch  chirurgisch  betätigt,  wie  auch  seine  Schriften  erkennen 
lassen,  die  sich  mit  der  Anatomie  bei  Hippokrates  und  Galenos 


Montpellier.  217 

und  der  des  MONDINO  befassen  und  über  Aderlaß  und  über  den 
Star  handeln.  In  der  zweiten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  wirkte 
Bernardus  Alberti,  der  1353  belegt  ist,  über  Harn  und  Fieber 
schrieb  und  schon  in  rein  scholastischer  Manier  eine  Einführung  in 
die  Praxis  ausdrücklich  an  einen  Abschnitt  aus  dem  Kanon  des  IBX 
SiNÄ  anlehnte,  wie  sein  Zeitgenosse  Geraldus  de  Solo,  Lehrer  zu 
Montpellier  1335 — 137 1,  eine  Zeitlang  Kanzler  der  Hochschule,  einen 
Kommentar  zum  9.  Abschnitt  des  Mansurischen  Buches  des  AR 
RÄzi  schrieb  und  zur  Isagoge  des  HoNEix  (Johannitus)  neben 
einer  Einführung  in  das  Studium  (Introductorium  juvenum),  einer  Fie- 
berschrift usw.  Als  Rivalen  um  die  Kanzlerwürde  treten  uns  im 
Jahre  1364  Johannes  Jacobi  (t  1384)  und  Johann  von  Torna- 
mira  (1329 — 1396)  entgegen,  beides  hervorragende  Männer  in  Praxis, 
Wissenschaft  und  Lehre.  Ersterer  schrieb  über  die  Pest,  über  Blasen- 
stein und  einen  kurzen  Abriß  der  praktischen  Medizin  (Secretarium 
practicae  medicinae);  Jean  de  Tournemire  aus  der  oberen  Lan- 
guedoc  schrieb  eine  Einführung  in  die  Praxis  (introductorium),  eine 
Erläuterung  (Clarificatorium)  zum  9.  Buche  an  Älansur  und  eine 
Fieberschrift.  Als  letzte  Größen  des  mittelalterlichen  Montpellier  sind 
Johannes  de  Piscis  aus  der  Languedoc  und  der  Spanier  (oder 
Gascogner?)  Valescus  de  Taranta  (Balescon  de  Tharante) 
zu  nennen.  Jean  de  Piscis  wird  1396  und  1426  als  Kanzler  ge- 
nannt; er  schrieb  eine  Practica.  Ein  Buch  gleichen  Titels,  auch 
Philonium  genannt,  von  Balescon,  der  14 18  schrieb,  hat  bis  weit 
in  das  1 6.  Jahrhundert  hinein  als  Handbuch  der  praktischen  Medizin 
gegolten  und  ist  oft  gedruckt  worden.  B.  war  auch  der  Verfasser 
eines  chirurgischen  Buches,  wie  sich  denn  Montpellier  gleich  Bologna 
auch   für  die  Wundarzneikunst  allezeit  wohl  interessiert  gezeigt  hat 

Wir  haben  schon  erfahren,  wie  zu  Anfang  des  13.  Jahrhunderts 
Willehalm  von  Bourg  (de  congenis)  in  den  Tagen  der  Roger- 
glosse in  Montpellier  chirurgische  Lehrvorträge  hielt  und  im  Spital 
zum  Heiligen  Geist  Schüler  in  die  operative  Chirurgie  einführte. 
Um  die  Wende  des  13.  zum  14.  Jahrhundert  übte  in  Mont- 
pellier Boneto  Lanfranco,  der  Sohn  des  größten  Chirurgen  des 
hohen  Mittelalters,  die  chirurgische  Praxis.  Gleichzeitig  unterrichtete 
dort  der  gelehrte  scholastische  Mediziner  und  schon  längere  Zeit  als 
ausübender  Wundarzt  in  Paris  in  Krieg  und  Frieden  tätig  gewesene 
Henri  von  Hermondeville  (Mondeville)  um  1304  Chirurgie 
und  Anatomie  in  Montpellier.  Sein  großes  in  der  Darstellung  schon 
völlig  scholastisches  Handbuch  der  Chirurgie,  das  leider  ein  Torso 
geblieben  ist,  hat  er  unter  Einfügung  der  Anatomie,  nach  Paris 
zurückgekehrt,  verfaßt,  wo  er  auch  sein  Leben  um  1317  oder  1320  be- 


2l8 


Montpellier. 


schloß.  Er  ist  besonders  beachtenswert  auch  um  deswillen,  weil  die 
anatomischen  Tafeln,  mit  denen  er  seinen  Lehrvortrag  in  Montpellier 
illustrierte,  einen  wesentlichen  Fortschritt  in  der  anatomischen  Gra- 
phik bedeuten  (s.  u.).  In  der  Chirurgie  ist  es  sein  großes  Verdienst, 
erneut  und  mit  großer  Eindringlichkeit  auf  die  eiterlose  Wund- 
behandlung der  BORGOGNONI  hingewiesen  zu  haben  und  von 
seinen  eigenen  bedeutenden  Erfolgen  mit  dieser  primären  Wund- 
heilung nachdrücklichst  Bericht  erstattet  zu  haben,  ohne  freilich  mehr 
Nachfolge  erreichen  zu  können  als  HuGO  und  Theoderich,  von 
deren  Wundbehandlungsmethode  nicht  einmal  die  beiden  großen 
Meister  der  Wundarzneikunst  Bolognas  Wilhelm  von  Saliceto 
und  Lanfranc  ernsthaft  und  ausdrücklich  Notiz  genommen  haben, 
obgleich  sie  neben  ihnen  und  vor  ihren  Augen  noch  Theoderich 
geübt  hat. 

Besser  ist  es  auch  dem  eifrigen 
Lobredner  einer  eiterlosen  Wund- 
heilung Henri  nicht  erg'angen. 
Der  hervorragendste  chirurgische 
Schriftsteller  Frankreichs  im  Mit- 
telalter, Guy  de  Chauliac,  aus- 
gebildet in  Montpellier  und  Bo- 
logna (f  1368),  nimmt  in  seinem 
berühmten  „Collectorium  c3Tur- 
gie"  (1363),  dem  Ergebnis  lang- 
jähriger eigener  Erfahrung  und 
gewissenhafter,  kritischer  Benut- 
zung der  abendländischen  und 
morgenländischen  chirurgischen 
Literatur,  soweit  sie  in  lateinischen 
Uebersetzungen  zugänglich  war, 
von  der  Wundbehandlung  des 
Henri  d'Hermondeville  kaum 
Notiz,  noch  weniger  von  dem 
Eigenen,  das  in  HuGO  und  Theo- 
derichs  Chirurgie  darin  steckt. 
Mit  scharfem  Urteil,  wenn  auch  nicht  ohne  Parteilichkeit,  sitzt  Guy 
über  die  ihm  zu  Gebote  stehende  Literatur  zu  Gericht  und  hat 
mit  viel  Selbständigkeit,  aber  ohne  den  Leser  an  der  Beurteilung 
durch  Vorlage  eigener  Kasuistik  teilnehmen  zu  lassen,  das  ganze 
Gebiet  unter  ständiger  Berücksichtigung  des  AviCENNA  und  Abu'l 
Qäsim  zur  Darstellung  gebracht  und  offenbar  gar  manches  aus 
eigener  Erfahrung  hinzugetan,  ohne  dies  selbst  ausdrücklich  her- 
vorzuheben.     Ob     er     selbst     ausübender    Operateur     gewesen     ist, 


Abb.  98.  Guy  de  Chauliac 
trägt  seine  Chirurgie  vor.  Aus 
französischen  Hand- 
schrift im  Vatikan. 


Montpellier.  2 1 9 

darüber  steigen  dem  Leser  immer  wieder  Zweifel  auf,  trotz  aller 
Eigenwüchsigkeit  des  Urteils.  Die  Darstellung  krankt  gar  viel- 
fach an  den  Fehlern  der  scholastischen  Methode,  wie  bedeutend 
auch  das  ganze  Werk  als  wissenschaftliche  Leistung  ist.  Die  knappe 
Klarheit  und  klinische  Geschlossenheit  der  „großen  Chirurgie"  des 
eigenwüchsigen  operativen  Meisters  Lanfranc  wird  schmerzlich 
vermißt  in  dem  Buche,  das  trotzdem  nicht  unverdient  das  führende 
Handbuch  der  Chirurgie  des  ausgehenden  Mittalalters  geworden  ist 
bis  zu  Pierre  Franco  und  dem  genialen  Ambroise  Pare! 

Ueberschaut  man  die  lehrende  und  gelehrte  Arbeit  von  Mont- 
pellier im  LIittelalter,  das  immer  ausschließlich  Aerzteschule  ge- 
blieben ist  im  Laufe  von  drei  Jahrhunderten,  so  ist  sie  lange  Zeit^ 
trotz  aller  arabischen  Belehrung  aus  dem  nahen  Spanien,  doch  frei 
geblieben  von  den  quälenden  Spitzfindigkeiten  der  Scholastik,  die 
erst  seit  dem  14.  Jahrhundert  einzuziehen  beginnt.  Man  hat  den 
Eindruck,  als  habe  der  gesunde  medizinische  Sinn  eigener  Erfah- 
rung und  Lehre,  vielleicht  unter  Einwirkung  nachklingenden  Ein- 
flusses aus  der  Antike,  auch  auf  dem  spätbesiedelten  Hügel,  wenig 
mehr  als  10  Kilometer  von  der  Alittelmeerküste,  ausgestattet  mit 
dem  ältesten  botanischen  Garten  Frankreichs,  ein  Gegengewicht  in 
sich  selbst  besessen  gegen  die  Lockungen  der  Scholastik,  die  mit 
den  Literaturströmen  arabischen  Wissens  seit  dem  Ende  des  12.  Jahr- 
hunderts aus  Spanien  nach  Frankreich  sich  ergossen  und  ihren  festesten 
Boden  an  der  Hochschule  von  Paris  gefunden  haben.  Eine  Spur 
von  dieser  Empfindung  ist  auch  bei  GuY  de  Chauliac  noch  leben- 
dig, wenn  er  von  Henri  d'Hermondeville  betont,  als  in  Mont- 
pellier selbst  schon  die  Scholastik  in  der  Medizin  herrschte,  er  sei: 
„Parisiis  nutritus  inter  philosophos",  unter  dem  Einflüsse  der  Pariser 
Scholastik  aufgewachsen. 


Scholastik  in  der  Medizin, 
Paris,  Bologna,  Padua. 

Gilles  de  Corbeil  hatte  zu  Ende  des  12.  und  zu  Anfang  des 
13.  Jahrhunderts  versucht,  die  Medizin  von  Hochsalerno,  gekleidet 
in  die  seit  dem  Pseudo-Macer  in  der  Medizin  Frankreichs  so  be- 
liebte Versform,  nach  Paris  zu  überführen.  Harnlehre,  Pulslehre, 
Arzneimittellehre,  ein  Abriß  der  Therapie,  alles  im  Sinne  Salernos 
gefaßt,  war  in  Versen  von  ihm  hinausgegangen,  und  man  hat  dem 
nicht  geringe  Beachtung  geschenkt,  wie  mancherlei  Kommentierungen 
beweisen.  Wirkungsvoller  in  weiteren,  auch  philosophischen  Kreisen 
ward  das  direkte  Bekanntwerden  mit  den  Werken  des  Maurus 
und  Urso,  wie  wir  schon  gesehen  haben.  Als  Arzt  und  Philosoph 
wirkte  in  Paris  Jean  de  Saint  gilles  (Joh.  de  Sancto  Egidio), 
Leibarzt  des  Königs  Philipp  August,  der  auch  in  Montpellier  gelernt  und 
gelehrt  hatte,  zu  Anfang  des  1 3.  Jahrhunderts,  der  auch  einen  Traktat 
über  Bau  und  Bildung  des  Menschenkörpers  geschrieben  hat,  kurz 
nachher  auch  Pontius  de  Sancto  Egidio,  der  aus  Montpellier  kam 
und  ein  medizinisches  Kompendium  schrieb.  Magister  Gerauld  aus 
Bourges  (GiRALDUS  Bituricensis)  hat  einen  Namen  durch  seinen 
Kommentar  zum  Viaticus  Constantini;  er  war  in  Salern  und  Mont- 
pellier gebildet  und  praktizierte  zu  Paris. 

So  gehen  die  Fäden  zwischen  den  drei  Hochschulen  hin  und 
her,  und  es  war  nur  selbstverständlich,  daß  der  Portugiese  Petrus 
Juliani  (Hispanus)  auf  seinen  Reisen  sowohl  Montpellier  als  Paris 
besuchte  und  an  beiden  Stellen  studierte  und  unterrichtete,  ehe  er 
1249  in  Pisa  auftauchte,  wo  er  am  längsten  als  Lehrer  und  Arzt 
gewirkt  zu  haben  scheint,  ohne  daß  man  bis  heute  bestimmt  sagen 
könnte,  wo  sein  Schriftwerk,  vor  allem  der  vielverbreitete  „Thesaurus 
Pauperum"  entstanden  ist;  sein  Papsttum  als  Johann  XXI,  (1276) 
hat  ja  nur  wenig  Monate  gedauert. 

Bedeutung  als  medizinische  Lehrstelle  hat  Paris  ja  zunächst 
kaum  erlangt;  dagegen  hat  die  Chirurgengilde,  das  „College  de 
St.  Come"  schon  im  13.  Jahrhundert  sich  gebildet  und  allmählich 
seit  dem  Beginn  des  14.  Jahrhunderts  Bedeutung  gewonnen,  in 
Praxis  und  Lehre,  namentlich  durch  Jean  Pitard,  der  es  sich  eine 


Scholastik  in  der  Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua. 


221 


Ehre  sein  ließ,  dem  großen  Laxfraxco  die  Wege  zu  ebnen,  und 
durch  Laxfranco  selbst.  Auch  Henri  d'Hermondeyille  trug 
zum  Ruhme  des  College  mächtig  bei;  er,  wie  Lanfranc  haben  zu 
Paris  mit  Erfolg  Chirurgie  gelehrt.  Dadurch  ward  die  Eifersucht 
des  AerztekoUegiums  langsam  rege,  die  in  jahrhundertelangem  Kampfe 
der  beiden  Korporationen  austobte  und  mit  dem  Siege  der  Chirurgen 
endete  und  enden  mußte. 

Ruhm  und  Einfluß  erlangte  die  Pariser  Hochschule  durch  ihre 
Artistenfakultät,  während  die  medizinische  Fakultät,  die  lange  Zeit 
bei  der  Artistenfakultät  in  der  Rue  du  Fouarre  zu  Gaste  war  und 
sich  erst  1369  ein  eigenes  Haus  in  der  Rue  de  la  Bucherie  erw^arb, 
auch    wissenschaftlich    vorher    noch    kaum    allzuviel    Geltung    hatte. 


Abb.  gq.     Lage  der  ecole  de  Medecine   gegenüber  der  Rue  du  Fouarre  nahe  der  Notre- 
Dame  und  des  Hötel-Dieu  (aus  NiCAiSE,  Chirui^e  de  Pierre  France,  1895). 


Trotz  des  heftigen  Widerstandes,  welchen  die  Pariser  Universität 
anfänglich  dem  Einströmen  des  naturwissenschaftlichen  Aristoteles 
aus  Toledo  entgegensetzte,  wurde  Paris  doch  recht  bald  der  Mittel- 
punkt für  die  ganze  scholastische  und  philosophische  Naturwissen- 
schaft. Hier  verweilten  sie  jahrelang  fast  alle,  die  in  der  Hoch- 
scholastik einen  großen  Namen  haben,  Franzosen,  Engländer,  Deutsche 
und  auch  ItaHener,  manche,  nachdem  sie  sich  in  Toledo  und  Sizilien 
den  Blick  geweitet  hatten,  wie  Michael  Scottus,  dessen  physiogno- 
misches  Werk  auch  für  die  Medizin  Bedeutung  hatte.  Hier  weilten 
vorübergehend  auch  Roger  Bacon  und  Albert  V'>n  B<'LLSTAEDT 


222  Scholastik  in  der  Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua. 

und  dessen  Schüler  Vincenz  von  Beauvais,  der  die  größte  Enzy- 
klopädie des  Mittelalters  verfaßt  hat,  in  der  auch  die  Medizin  zu 
ihrem  Recht  kommt. 

Roger  Bacon  (12 14 — 1292),  der  neuplatonisches,  aristotelisches 
und  arabisches  Wissen  in  weitem  Umfange  in  sich  aufgenommen 
hat,  erkannte  doch  schon,  daß  damit  die  naturwissenschaftliche  Er- 
kenntnis noch  nicht  ihre  endgültigen  Grenzen  erreicht  habe,  und 
suchte  an  seinem  Teile  daran  weiterzubauen.  Sein  „Opus  majus" 
enthält  auf  dem  Gebiete  der  exakten  Naturwissenschaften  Keime 
des  Fortschrittes  in  Fülle.  Weniger  von  Bedeutung  sind  seine 
medizinischen  Ausarbeitungen,  die  sich  zum  Teil  in  iatromathe- 
matischen  Spitzfindigkeiten  verlieren,  wie  in  den  Schriften  über  die 
kritischen  Tage,  zum  Teil  größer  sind  in  der  Kritik  (De  erroribus 
medicorum)  als  in  positiver  Leistung,  z.  B.  in  der  Lebensverlängerung, 
da  ihm,  der  der  Erfahrung  gegenüber  der  Autorität  und  dem  Rai- 
sonnement  so  großen  Wert  zumaß,  die  eigene  Erfahrung  in  der 
Praxis  und  am  Krankenbette  völlig  abging.  Sein  mathematisch  ge- 
richteter Neuplatonismus  führte  ihn  überhaupt  von  ARISTOTELES  und 
seiner  organischen  Naturwissenschaft  in  der  Erforschung  des  Tier- 
körpers und  seiner  Lebensäußerungen  hinweg,  bringt  ihn  in  Gegen- 
satz zu  dem  größten  deutschen  Naturforscher  des  Mittelalters,  zu 
Albert  dem  Großen,  dessen  Bedeutung  für  die  Medizin  gerade  in 
seinen  Pflanzen-  und  Tierstudien  liegt. 

Der  Schwabe  Albert  Graf  von  Bollstädt  (1206— 1280)  stu- 
dierte in  Padua,  lehrte  einige  Jahre  in  Paris  (1245 — 1248),  vorher 
und  nachher  meist  in  Köln,  am  dortigen  „Studium  generale";  einer 
Bitte,  1268  nochmals  die  Lehrkanzel  in  Paris  zu  übernehmen,  leistete 
er  keine  Folge.  Hier  ist  von  den  Leistungen  des  universellen  Denkers 
nur  auf  sein  Schaffen  in  den  biologischen  Wissenschaften  hinzuweisen. 
Ausgehend  von  Aristoteles  und  Avicenna,  hat  er  vor  allem  in 
der  Tiergeschichte  zahlreiche  Beweise  dafür  gegeben,  daß  er  ein 
Beobachter  höchsten  Ranges  gewesen  ist  und  in  der  Biologie  Wege 
eingeschlagen  hat,  wie  man  sie  erst  im  16.  Jahrhundert  wieder  be- 
schritt. 

Auch  in  der  Botanik  sind  Alberts  Leistungen  epochemachend ; 
man  kann  ihn  mit  Recht  als  den  ersten  wissenschaftlichen  Bearbeiter 
der  Pflanzenkunde  seit  dem  Eresier  Theophrastos,  dem  Schüler 
des  Aristoteles,  bezeichnen. 

Zu  seinen  Lebzeiten  entstand  in  Frankreich  eine  Uebersetzung 
des  „Circa  instans",  einer  salernitanischen  alphabetischen  Pharmako- 
logie, welche,  wie  wir  oben  erfahren  haben,  unter  dem  Namen  eines 
Platearius    geht.      Dieser    französische    Platearius,    beginnend 


Scholastik  in  der  Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua. 


22- 


Abb.  loo. 


Abb.  loi. 


Abb.    loo,    loi    und    102.      Kornrade   (Gith, 
Agrostemma  Githago  L.)  und  Mohn  aus  fran- 
zösischen PLATEARius-Handschriften  („Secrets 
de  Saleme")  um   1400. 


„En  cette  presente  besoigne", 
wurde  später,  wohl  schon  im 
14.  Jahrhundert,  mit  Pflanzenabbil- 
dungen versehen,  welche  in  der 
botanischen  Graphik  Beachtung 
verdienen;  stellen  sie  doch  zum 
Teil  die  ersten  wirklich  wieder  nach 
der  Natur  gezeichneten  wissen- 
schaftlichen Pflanzenillustrationen 
dar  seit  Dioskurides  oder  gar 
seit  Krateuas;  als  ihre  Vorläufer 
sind  zahlreiche  vortreffliche  Pflan- 
zenbilder auf  Miniaturen  Frank- 
reichs, in  Livres  d'heures  usw.  des 
14.  Jahrhunderts  anzusehen.  Doch 
die  Pflanzenbilder  des  französischen 


Abb.    I02. 


2  24  Scholastik  in  der  Medizin.    Paris,  Bologna,  Padua. 

Platearius,  von  denen  wir  umstehend  einige  wiedergeben,  haben 
bis  weit  in  die  Inkunabelgraphik  Frankreichs  und  Deutschlands,  ja 
ins  1 6,  Jahrhundert  hinein  gewirkt.  Sie  bilden  immerhin  ein  Ruhmes- 
blatt Frankreichs  im  sinkenden  Mittelalter.  — 


Wer  aber  im  13.  und  14.  Jahrhundert  z.  B.  in  Deutschland 
Medizin  studieren  wollte,  ging  selten  nach  Paris,  häufiger  schon 
nach  Montpellier,  meist  aber  nach  Bologna  und  Padua,  den  Haupt- 
sitzen der  medizinischen  Scholastik. 

Bologna,  zuerst  ausschließlich  Juristenschule  führt  seine  medizi- 
nischen Anfänge  bis  in  das  Ende  des  12.  Jahrhunderts  zurück.  Be- 
deutung gewinnen  Mediziner  und  Artisten  dort  erst  im  13.  Jahr- 
hundert. Die  Blüte  der  Bologneser  Chrurgie  haben  wir  schon  kennen 
gelernt.  Auch  sie  knüpft  an  Abu'l  QäSIM  und  IBN  Sina  an  und 
wäre  ohne  das  Bekanntwerden  beider  literarisch  sicher  nicht  in 
gleichem  Umfang  und  gleicher  Bedeutung  in  die  Erscheitmng  ge- 
treten. Doch  ist  die  italienische  Chirurgie  Oberitahens  im  13.  Jahr- 
hundert durchaus  nicht  etwa  arabistische  Entlehnung,  wenn  sie  auch 
als  ein  Teil  der  medizinischen  Scholastik  aufgefaßt  werden  muß, 
aber  als  ein  Teil,  der  auf  eigener  Beobachtung  und  den  Ergebnissen 
eigener  Erfahrung  neben  der  Herübernahme  islamischer  Ueber- 
lieferung  sich  aufbaut  und  insofern  direkt  an  die  spätalexandrinische 
Chirurgie  des  PAULUS,  wenn  auch  unwissentlich,  anknüpft.  Bei 
Guy  De  Chauliac  spricht  sich  die  Anlehnung  an  Paulus  schon 
dem  Worte  nach  aus,  wenn  auch  Paulinisches  Chirurgische  ihm  wohl 
nur  aus  Abu'l  Qäsim  bekannt  ist. 

Wie  aber  entwickelt  sich  die  innere  Medizin  in  Bologna?  Wie 
die  Anatomie? 

Wir  sehen  noch  nicht  klar  über  die  dortigen  Anfänge,  zumal 
in  der  Frage,  ob  dort  etwa  ein  gewisser  Gegensatz  zur  Schule  von 
Salerno  in  die  Erscheinung  trat  wie  in  MontpeUier.  Die  vorsalerni- 
tanische  und  die  sogenannte  frühsalernitanische  Literatur  wird  in 
Bologna  nicht  gefehlt  haben,  soweit  sie  aus  der  Spätantike  stammte 
und  als  „Mönchmedizinisches"  im  ganzen  Abendlande  Kurs  hatte. 
Auch  dem  Einflüsse  Konstantinischen  Früharabismus  wird  man  sich 
nicht  haben  entziehen  können.  Und  die  Literatur  Hochsalernos? 
Wie  weit  gewann  sie  in  Bologna  Einfluß?  Wenn  man  aus  der  Ent- 
stehung der  chirurgischen  „Rolandina"  in  Bologna  weitere  Schlüsse 
ziehen  darf,  die  das  wundarzneiliche  Schulbuch  Hochsalernos,  den 
Roger,  mit  geringen  Veränderungen,  aber  in  Bologneser  Umprä- 
gung sich  einfach  aneignete  und  nur  mit  einer  neuen  Etikette,  einem 
andern   Titel    versah,   müßte    man    Aehnliches    auch   für   die   innere 


Scholastik  in  der  Medizin.    Paris,  Bologna,  Padua.  22^ 

Medizin  erwarten.  Aber  einfache  Umprägung  irgendeiner  Salerni- 
taner  „Practica"  in  einen  Bologneser  Leitfaden  der  praktischen  Me- 
dizin ist  bisher  noch  nicht  bekannt  geworden.  Die  Literatur  des 
frühen  13.  Jahrhunderts  in  Bologna  ist  aber  noch  kaum  erforscht, 
noch  weniger  die  des  auskUngenden  12.  Jahrhunderts.  Ein  Bolog- 
neser Schulbuch  scheint  die  „Practicella"  eines  internistischen  Par- 
mesanen  zu  sein,  sie  kann  aber  im  Ernst  nicht  mit  der  „Rolandina" 
des  Roland  von  Parma  in  Parallele  gestellt  werden,  denn  sie  ist 
keine  praktische  Medizin,  also  spezielle  Pathologie  und  Therapie, 
sondern  nur  ein  pharmakologisch -therapeutischer  Leitfaden,  wohl 
frühestens  in  der  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  entstanden, 
und  setzt  die  Entstehung  eines  großen  Unbekannten  voraus,  des 
„Mesue  junior",  der  wiederum  die  Einführung  der  zweiten  großen 
arabischen  Literaturmasse  gegen  Ende  des  12.  Jahrhunderts  von 
Toledo  aus  durch  den  Lombarden  Gherardo  zur  Voraussetzung 
hat  und  vermutlich  in  Oberitalien  selbst  entstanden  ist,  vielleicht  so- 
gar in  Bologna.  Darf  man  heute  schon  die  Frage  auf  werfen:  stellt 
etwa  die  kühne  Mystifikation  „Mesues  des  Jüngeren"  in  einem  neuen 
Antidotarium,  nach  welchem  gerade  jetzt  ein  besonderer  Bedarf  war 
und  in  einer  neuen  Practica  die  Grundleistung  Bolognas  in  der 
vollen  Aneignung  der  arabischen  inneren  Medizin  im  Abendlande 
dar?  Daß  sich  so  bedeutende  Norditaliener,  wie  Peter  VON  Abano 
und  Franz  von  Piemont,  mit  der  Weiterarbeit  am  Mesue  junior 
befaßten,  spricht  laut  für  die  Bedeutung,  die  man  gerade  im  öst- 
lichen Norditalien  den  Büchern  beimaß,  vielleicht  auch  für  deren 
Entstehung  in  Oberitalien  selbst.  Doch  gehört  diese  ganze  Ange- 
legenheit zu  den  ungeklärtesten  des  so  vielfach  noch  unaufgehellten 
Mittelalters.  Bestimmt  wurden  jedoch  Bologna  und  Padua  mit  der 
zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  vornehmlich  die  Pflegestätten 
der  sogenannten  medizinischen  Scholastik,  als  deren  führendes  Haupt 
der  Florentiner  Taddeo  Alderotti  (1223 — 1303)  zu  gelten  hat. 

Was  hat  man  nun  unter  Scholastik  in  der  Medizin  zu  ver- 
stehen? Die  Frage  lag  dem  Leser  gewiß  schon  lange  auf  den 
Lippen !  — 

Kümmerliche  Wissenschaft  und  kümmerliche  Kunstübung  war 
für  die  Medizin  des  frühen  Mittelalters  die  Signatur.  Hochsalerno 
hatte  hierin  die  erste  Aenderung  gebracht  unter  Vermittelung  früher 
arabischer  Literatur  durch  KONSTANTIN.  „Scholastisch"  könnte  man 
auch  dies  alles  schon  nennen,  wie  denn  auch  am  Ausgang  der  An- 
tike die  Wissenschaft  scholastische  Züge  schon  deutlich  zeigt,  wenn 
Unlebendigkeit  und  einseitig  schulmäßiger  Betrieb  für  alle  Schola- 
stik wesentliche  Zeichen  sind.    Im  hohen  Mittelalter  hatte  die  Schola- 

Meyer-Steineg  u.  Sudhoff,  Illustr.  Geschichte  der  Medixin.  I5 


226 


Scholastik  in  der  Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua. 


stik  aber  eine  besondere  Note,  die  man  wohl  als  „Mesalliance  von 
Wissen  und  Glauben"  bezeichnet  hat.  In  Wahrheit  stellt  sie  die 
Ueberflutung  zunächst  der  Theologie,  weiter  der  gesamten  Wissen- 
schaft mit  Aristotelischer  Philosophie  dar,  die  aus  dem  Griechischen 
ins  Syrische,  aus  dem  Syrischen  ins  Arabische,  aus  dem  Arabischen 
mit  hebräischer  Beihilfe  ins  Lateinische  umgekleidet  war  und  über- 
dies nach  Frankreich  usw.  in  Begleitung  arabischer  Kommentierung, 
namentlich  zuletzt  noch  des  Averroes  (f  1198)  gelangte.  Aus  dieser 
so  verhüllten  Aristotelischen  Naturphilosophie  hat  das  13.  Jahrhundert 
im  Abendlande  allmählich  in  harter  Arbeit  den  eigentlichen  Aristo- 
telischen Kern  herausschälen  müssen  und  gleichzeitig  eine  vollkom- 
mene Harmonie  der  Weltanschauung  des  Aristoteles  mit  der  der 
christlichen  Kirche  herzustellen  sich  bemüht. 

Auch  für  die  Medizin  ergab  sich  das  Problem,  eine  Harmonie 
herzustellen  zwischen  den  verschiedenen  Ueberlieferungen,  die  meist 
dadurch  erreicht  wurde,  daß  man  sich  widerspruchslos  dem  größten 
Kopfe  aus  der  Medizin  des  Islam  gefangen  gab,  dem  Perser  ibn 
SiNÄ.  Die  religiöse  Frage  tritt  vielleicht  nur  bei  Taddeo  stärker 
hervor. 

Entscheidend  für  die  Medizin  wurde  es  aber,  daß  sie  unweiger- 
lich wie  die  Theologie  und  die  „Artes"  an  den  Universitäten  das  scho- 
lastische Gewand  der  Wissenschaft  übernehmen  mußte,  die  gesamte 
deduktive  Methode  des  Definierens,  Klassifizierens,  Argumentierens 
in  Syllogismen  und  Axiomsätzen,  des  Systematisierens  nach  Autori- 
täten  und   harmonisierenden  Prinzipien.     Grundlage  des  Unterrichts 


Abb.    103.     Medizinischer    Lehrvortrag    in    Bologna    (vom    Sarkophag   des    Professor    der 
Medizin  JIichei.e  Bertalia,  1328). 


Scholastik  in  der  Medizin.    Paris,  Bologna,  Padua.  227 

wurde  die  „Lectio",  die  Erläuterung  eines  gegebenen  Textes,  regel- 
mäßig, etwa  alle  zwei  Wochen,  unterbrochen  durch  die  „Disputatio 
ordinaria"  über  das  Gelesene  und  Erläuterte  nach  den  Regeln  der 
Disputierkunst,  daneben  zweimal  im  Jahre  die  großen  „Disputationes 
de  quolibet"  oder  „quodlibetariae",  wo  jeder  Student  und  jedes  son- 
stige Universitätsmitglied  die  Möglichkeit  hatte,  beliebige  Fragen 
zu  stellen  und  auf  deren  Diskussion  zu  bestehen,  woraus  sich  die 
große  Quästionen-Literatur  der  „Quaestiones  disputatae"  und  „Quae- 
stiones  de  quolibet",  kurz  „Quodlibeta",  entwickelte.  Kennzeichnend 
ist  ferner  das  ständige  Hantieren  mit  Autoritäten,  auf  die  man  zu- 
rückgreift statt  auf  Beobachtungstatsachen;  sie  umkleiden  die  Be- 
weisführung mit  dem  Schimmer  der  Wahrheit  als  unbestreitbarer 
Norm  im  Widerstreit  des  „pro"  und  „contra"  und  deren  „solutio"  in 
Harmonisierungsbestrebungen.  Tabulae,  Florilegia,  Sentenzensamm- 
lungen bilden  die  Rüstkammern  des  gelehrten  Streites,  Concordan- 
ciae,  Conciliatores  controversiarum  usw.  sind  die  Ergebnisse ;  die  von 
der  Erfahrung  losgerissene  Natur-  und  Heilkunde  trieb  auf  dem 
Meere  der  „Conclusiones"  und  „Deductiones".  Nach  induktiver  Me- 
thodik war  nur  spärlicher  Bedarf,  etwa  mit  Ausnahme  von  Albert 
und  Roger  Bacox,  der,  so  sehr  er  auch  in  die  Scholastik 
hineingehört,  doch  in  seinem  Denken  aus  den  Schranken  derselben 
hinausweist. 

Typischer  Meister  medizinischer  Scholastik  ist  Taddeo  Alde- 
ROTTI,  der  schon  durch  seine  niedere  Herkunft  zu  den  Aristokraten 
von  Salerno  in  Gegensatz  steht,  aber  als  reicher  Mann  in  Bologna 
sein  Leben  schloß.  Spät  erst  kam  er  zum  ärztlichen  Gelehrtenberuf. 
Um  1260  begann  er  in  Bologna  zu  lehren,  ganz  in  der  eben  skiz- 
zierten Weise  der  kommentierenden  „lectio"  nach  dem  Vorbilde  der 
Bologneser  Juristen.  Die  weitschweifigen  Kommentare  sind  noch 
erhalten ;  sie  betreffen  außer  den  Isagogae  des  HUNAIX  nur  griechische 
Schriftsteller,  wie  HiPPOKRATES  (Aphorismen,  Prognostica,  Regimen 
acutorum)  und  Galenos  (Tegni,  Krisen,  De  interioribus  usw.),  was 
immerhin  sehr  zu  beachten  ist.  Seine  Bibliothek  enthielt  freilich 
den  Kanon  des  Avicenna,  den  Liber  mansuricus  des  Razes  und 
die  Pandekten  des  Serapion  neben  Galenischen  Folianten.  Von 
seinen  Schriften  sind  charakteristisch  für  die  Zeit  mancherlei  Quae- 
stiones usw.,  die  sich  auch  an  die  Kommentare  anschließen,  ein  Re- 
gimen sanitatis  im  Stile  der  ARISTOTELES-Epistel  an  Alexander  und 
zahlreiche  (156)  Konsilien,  und  unter  den  letzteren  eine  Abhandlung 
über  den  Weingeist  und  seine  Darstellung,  die  zum  ersten  Male  eine 
regelrechte  Kühlvorrichtung  aufweist  —  also  auch  bei  diesem  als 
Urtypus  aller  medizinischen  Syllogistik  verpönten,  zweifellos  bedeu- 

15* 


228  Scholastik  in  der  Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua. 

tenden  Manne  schon  Beweise  eines  fortschrittlichen  Strebens,  an 
dem  die  verschrieene  Scholastik  trotz  der  tausend  Hemmschuhe  ihrer 
Methodik  keineswegs  arm  ist. 

Einer  der  vielen  namhaften  Schüler  des  Taddeo  war  der  oben 
schon  genannte  GuiLELMO  Cor  vi  da  Brescia  (1250 — 1326),  der 
zuerst  Logik  in  Padua  gelehrt  hatte,  lange  päpstlicher  Leibarzt 
in  Avignon  war,  zuletzt  in  Paris  wirkte  und  seinen  Namen  in  Bo- 
logna durch  ein,  zum  Dank  für  die  dort  erhaltene  medizinische  Be- 
lehrung errichtetes  Stipendium,  lebendig  hielt.  Seine  Praktik  der 
inneren  Medizin  trug  ihm  den  '  bezeichnenden  Namen  „Aggregator 
Brixiensis"  ein.  Ein  anderer  Schüler  Bartolomeo  Varignana 
(f  13 18)  lehrte  lange  in  Bologna  selbst,  wie  auch  andere  seines  Na- 
mens,   und    hat   als   Kollegien  hefte   Kommentare    im   scholastischen 


Abb.   104.     Bogenhallen  in  der  alten  Universität,  dem  Archiginnasio  zu  Bologna. 

Stile  ZU  AviCENNA  und  Galenos  hinterlassen.  Ein  Schwager  des 
Taddeo,  mit  Namen  BuoNO  Di  Garbo,  war  Chirurg  und  Freund 
des  Wilhelm  von  SaHceto;  sein  Sohn  Dino  (Aldebrandino) 
DI  Garbo  (f  1327)  war  der  erste  der  großen  AviCENNA-Kommen- 
tatoren,  die  in  fast  ununterbrochener  Reihe  bis  zum  Anfang  des 
17.  Jahrhunderts  verlaufen  und  manch  bedeutenden  Mann  unter  sich 
zählen,  der  sein  fortschrittliches  Denken,  ja  seine  Entdeckungen  in 
dem  Kommentarvverk  mehr  verborgen  als  kundgegeben  hat.  Es  ist 
noch  mancherlei  auszugraben  in  dieser  langen  Reihe  der  AviCENNA- 
und  RAZES-Kommentare,  einiges  schon  ausgegraben  worden,  DiNO 
hat  aber,  schon  um  des  Lehrwerkes  willen,  auch  zu  Hippokrates 
und  Galenos   in   seiner   Lehrtätigkeit   an    zahlreichen   Hochschulen 


Scholastik  in  der  [Medizin.    Paris,  Bologna,  Padua. 


229 


Italiens  Kommentare  verfaßt.  Der  Ehrentitel  „Expositor"  zeichnete 
ihn  aus.  Sein  Sohn  TOMMASO  Di  Garbo,  selbst  freierer  Denk-  und 
Schreibart,  ein  vom  Aerztehasser  Petrarca  geschätzter  Praktiker, 
betont  von  seinem  Vater,  er  sei  dem  Galexos  gefolgt  wie  dem 
Evangelium.  TOMMASO  hat  eine  unvollendete  „Summa  medicinalis" 
hinterlassen.  Pietro  Torrigiano  dei  Torrigiani  (Trusianus), 
gleichfalls  noch  Taddeos  Schüler,  wirkte  eine  Zeitlang  in  Paris. 
Seine  Erläuterungen  zum  Tegni  des  Galenos  wollten  mehr  sein 
als  ein  bloßer  Kommentar,  weil  er  alles  Mögliche  dahinein  schach- 
telte; man  hat  ihn  selbst  darum,  halb  preisend,  halb  spottend,  den 
„Plusquam  Commentator"  genannt. 


Abb.   105.     Säulenhof  der  Universität  zu  Padua. 


Die  Paduaner  medizinische  Schule  des  13.  und  14.  Jahrhunderts, 
wenig  jünger  als  die  von  Bologna,  erlangte  besonderen  Ruhm 
durch  Pietro  aus  Abano  (1250 — 13 15),  der  eindrucksvoll  auch  in 
Paris  gewirkt  hat.  Eine  vorwärtsdrängende  Persönlichkeit,  hat  er 
sowohl  geheimem  Wissen  (wie  Arnald)  sich  zugeneigt  als  auch 
Konstantinopel  aufgesucht,  um  der  pseudoaristotelischen  „Proble- 
mata"  willen  und  um  seinen  Gesichtskreis  ins  Griechische  zu  er- 
weitern. Wie  üblich,  besonders  in  Paris,  verketzert,  hat  er  in  seinem 
„Conciliatordifferentiarum,  quae  inter  philosophos  et  medicos 
versantur"  ein  typisches  Werk  medizinischer  Scholastik  geschaffen,  das 
doch  vielfach  physikalisch,  anatomisch  und  ärztlich  tiefere  Einsicht 
erkennen  läßt.  Wenn  man  dem  Pietro  seine  astrologischen  Nei- 
gungen aufrechnen  will,  so  versteht  man  die  Zeit  nicht.  Seit  Da- 
niel VON  MoRLEY  ist  die  Astrologie  im  Abendlande  wieder  hei- 
misch  geworden;   sie   gilt   als   mathematische  "Wissenschaft    und    ist 


230  Scholastik  in  der  Medizin.    Paris,  Bologna,  Padua. 

auch  dem  Roger  Bacon  sehr  ans  Herz  gewachsen.  Um  die  Mitte 
des  14.  Jahrhunderts  gibt  es  in  Bologna  drei  Lehrgänge  der  Heil- 
kunde :  die  praktische  Medizin,  die  theoretische  Medizin  (medizinische 
Philosophie)  und  die  medizinische  Astrologie  (Astrologie  im  Allge- 
meinen und  latromathematik). 

Als  Schüler  des  PiETRO  aus  den  Euganen  gelten  mehrere  Mit- 
glieder der  Paduaner  Aerztefamilien  Santa  Sofia  und  dei  Dondi. 
GiACOMO  de'  Dondi  (f  1359)  untersuchte  die  Heilquellen  von  Abano 
und  schrieb  einen  „Aggregator  de  simplicibus"  über  die  Qualitäten 
der  Arzneistoffe,  der  ihm  den  Beinamen  „Aggregator  Paduanus" 
eintrug.  Der  Astronom  Giovanni  (y  1380),  Sohn  des  Giacomo, 
Verfertiger  eines  Planetariums  in  1 6-jähriger  Arbeit,  genoß  durch  ganz 
Italien  auch  den  Ruhm  eines  großen  Arztes  und  war  mit  Petrarca 
befreundet. 

Der  hervorragendste  Anhänger  des  Peter  von  Abano  war  je- 
doch Gentile  dei  Gentili  da  Foligno,  der  vornehmste  der  Avi- 
cenna- Kommentatoren,  dem  man  den  Ehrennamen  „Anima  Avi- 
cennae"  beigelegt  hat,  ein  vielseitiger  Mann,  der  an  mehreren  Hoch- 
schulen lehrte,  zuletzt  in  Perugia,  nahe  seiner  Heimat  Foligno,  wo 
ihn  die  Pest  im  Sommer  1348  dahinraffte  noch  in  der  Blüte  der 
Jahre,  ihn,  den  man  auch  wegen  der  Vielseitigkeit  seines  spintisie- 
renden Nachdenkens  den  „Speculator"  getauft  hat.  Als  sein  blei- 
bend Wertvollstes  hat  man  sich  gewöhnt,  seine  zahlreichen  „Kon- 
silien" anzusehen,  die  zweifellos  zu  den  hervorragendsten  dieser 
Literaturgattung  gehören,  in  der  seit  den  Frühtagen  des  Taddeo 
die  Kliniker  aus  den  Reihen  der  medizinischen  Scholastiker  ihre 
Beobachtungen  vom  13.  Jahrhundert  an  niederzulegen  beflissen 
waren.  Man  hat  in  diesen  Konsilien  einen  Wegzeiger  des  Fort- 
schrittes im  ausgehenden  Mittelalter  sehen  wollen,  ja  sie  als  Teile 
der  Renaissance  bezeichnet;  sie  stehen  aber  schon  in  den  Mannes- 
jahren der  mittelalterlichen  Medizin,  als  welche  man  die  zwei  bis 
drei  Jahrhunderte  der  medizinischen  Scholastik  bezeichnen  kann, 
vom  Anfang  an  als  Malsteine  am  Wege.  Wir  haben  sie  so  gut 
von  Taddeo  und  Mondino  und  Bartolomeo  Varignana,  wie 
auch  von  Gentile,  Antonio  Cermisone  (t  1441),  Ugone  Bencio, 
Bartol.  montagnana  (t  1470),  Matteo  Ferrario  (t  1480)  und 
Baverio  (t  i486);  in  allen  trifft  man  gelegentlich  Beobachtungen 
von  Bedeutung. 

Als  Kommentatoren  des  AviCENNA,  wie  auch  des  Hippokrates 
und  Galenos,  sind  noch  zu  nennen  GiACOMO  della  Torre  aus 
Forli  (Jacobus  Foroliviensis,  f  141 3)  und  der  gleichzeitige  Ja- 
QUES  Despars  aus  dem  Hennegau,  Professor  zu  Paris.  Das 
gesamte   Wissen    der   Scholastik    zu    Beginn    des    15.  Jahrhunderts 


Scholastik  in  der  Medizin.    Paris,  Bologna,  Padua.  231 

faßte  in  sieben  gewaltigen  Büchern  medizinischer  Sermone  NiCOLÖ 
Falcucci  in  Florenz  (t  141 2)  zusammen,  namenthch  aus  den  Lehren 
der  Araber,  aber  auch  das  neu  hinzugebrachte  „Scholastische"  aus 
dem  Abendlande  und  die  überlieferten  Lehren  aus  dem  Altertum, 
auch  aus  allen  Spezialgebieten  der  Heilkunde.  Eine  knappere,  selb- 
ständige und  übersichtliche  Darstellung  der  internen  Praxis  allein 
schrieb  um  1450  ^Iichele  Savonarola,  Professor  in  Padua  und 
Ferrara,  bei  der  er  sich  den  Kanon  des  AviCENNA  zum  Vorbilde 
nahm. 

Noch  der  ersten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  gehören  zwei  wert- 
volle Werke  an,  welche  der  Absicht  entsprungen  sind,  in  den  zahl- 
reichen Antidotarien  und  „Libri  simplicium"  Ordnung  zu  schaffen 
und  für  Identifizierung  der  Arzneipflanzenmassen  aus  der  Antike 
und  dem  Orient  eine  Unterlage  zu  gewinnen:  der  „Clavis  sana- 
tionis"  Simons  von  Genua  (Januensis,  i  1303),  auch  „Synonyma 
medicinae"  geheißen,  und  die  „Pandectae  medicinae"  des  Matthaeus 
Sylvaticus  (t  1342),  der  sein  Werk  in  Salerno  schrieb  und  dem 
König  Robert  von  Sizilien  gewidmet  hat.  Namentlich  das  Buch 
Simons  ist  von  allergrößtem  Werte,  nicht  nur  als  Wörterbuch  aller 
bei  griechischen,  arabischen  und  lateinischen  Schriftstellern  vorkom- 
menden Arzneipflanzen,  die  er  auf  ausgedehnten  Reisen  festzustellen 
gesucht  hatte,  sondern  auch  durch  die  genauen  Angaben  über  die 
von  ihm  zu  Rate  gezogenen  Schriftsteller.  Und  so  erfahren  wir 
denn  durch  ihn,  daß  man  damals,  also  zu  Ende  des  13.  Jahrhun- 
derts, neben  den  Arabern  nicht  nur  den  Galenos,  den  Dioskurides 
in  zwei  lateinischen  Uebersetzungen,  den  „Passionarius",  den  Pli- 
NUS,  die  Practica  (PsEUDO-)  Democriti,  den  Cassius  Felix  und 
Theodor  Priscianus  benutzte  und  die  „Genetia"  des  MusTio,  son- 
dern auch  den  Paulos  von  Aigina,  die  Synopsis  des  Oreibasios, 
ja  den  für  uns  verlorenen  „Ophthalmicus"  des  Demosthenes  und 
zum  ersten  Male  wieder  den  A.  Cornelius  Celsus.  Die  Renais- 
sance der  Antike  hatte  also  in  beachtenswertem  Umfange  praktisch 
schon  begonnen,  Jahrzehnte  vor  Petrarca. 

Indem  wir  oben  bei  Gentile  dei  Gentili  der  Pest  von  1348, 
also  des  „schwarzen  Todes"  gedachten,  haben  wir  mit  dem  Finger 
auf  eine  Prüfungsstunde  der  mittelalterlichen  Medizin,  der  medizi- 
nischen Scholastik  gewiesen,  eine  Prüfungszeit,  in  der  sie  zeigen 
konnte,  ob  sie  einen  Fortschritt  verkörpere  oder  nicht;  man  kann 
sagen,  sie  hat  diese  Prüfung  bestanden.  In  diesen  schweren  Epi- 
demienzeiten, den  Zügen  der  „Beulenpest"  und  „Lungenpest",  von  der 
Mitte  bis  zum  Ende  des  1 4.  Jahrhunderts,  zeigte  es  sich,  daß  das  Pendel 
medizinischer   Entwickelung    in    Seuchenverständnis    und    Seuchen- 


232 


Scholastik  in  der  Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua. 


bekämpf ung  einen  gewaltigen  Ausschlag  nach  vorwärts  aufwies. 
Bei  der  Pest  des  Justinian  im  6.  Jahrhundert,  die  die  greulichsten 
Verheerungen  machte,  schweigt  die  ärztliche  Literatur,  und  von  Ab- 
wehrmaßregeln der  Behörden  ist  keine  Rede.  Bei  der  Epidemie 
des  schwarzen  Todes  werden  schon  zu  Anfang  vielfach  scharfe  Ab- 
sperrungsmaßnahmen ergriffen,  die  sogar  Teilerfolge  brachten,  und 
sofort  setzt  eine  große  Literatur  in  allen  Ländern  Europas  ein.  Meh- 
rere hundert  Pesttraktate  sind  allein  in  den  letzten  anderthalb  Jahr- 
hunderten des  Mittelalters  zu  verzeichnen.  Ja,  in  wenigen  Jahrzehnten 
entwickelte  sich  in  Italien  und  Südfrankreich  ein  Abwehrsystem  mit 

Hafensperren ,  Isolie- 
rungsplätzen ,  Quaran- 
tänen ,  Anzeigepflicht 
und  Absonderung  der 
Kranken  und  ihrer 
Pfleger,  Desinfektion  der 
Betten ,  Verbrennung 
alles  nicht  Abseifbaren 
aus  der  unmittelbaren 
Umgebung  des  Kranken 

oder  Gestorbenen, 
schließlich  Desinfektion 
der  Waren,  Geldstücke, 
Briefe  im  geschäftlichen 
Verkehr.  Vollkommen 
durchschaut  waren  die 
Gefahren  der  Kontakt- 
infektion überhaupt  und 
daraus  die  Sicherungs- 
vorschriften erflossen,  die 
dem  i8.  und  19.  Jahr- 
hundert prinzipiell  kaum 
viel  Neues  zuzufügen  übrig  ließen.  Und  das  alles  in  den  letzten 
Jahrzehnten  des  14.  Jahrhunderts!  Wie  war  diese  große  Wandlung 
zuwege  gekommen  ?  Sie  geht  in  die  Zeiten  der  verspotteten  „Mönchs- 
medizin"'  zurück.  Hier  ist  sogar  direkt  aus  dem  Boden  der  Priester- 
medizin Zukunftsreichstes  erwachsen. 

Die  wohl  schon  in  den  Zeiten  des  klassischen  Altertums  spora- 
disch den  atlantischen  Küsten  durch  die  Küstenschiffahrt  in  Spanien 
und  Frankreich  und  weiter  nördlich  ausgesäte  Lepra  (und  weis  man 
sonst  darunter  verstand)  hatte  im  5.  und  6.  Jahrhundert  im  Süden 
und  Westen  Frankreichs  ins  Land  hinein  steigende  Bedeutung  ge- 
wonnen.    Dem  Episkopat  stieß   die  Not  der   ihm    anvertrauten   Be- 


Abb.    106.     Aussätziger  mit  Hom   {lior7igibniodcr)  um 

sich  bemerklich    zu    machen,    vor    Christus.      Deutsches 

Handschriftbild  um   looo. 


Scholastik  in  der  ^Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua. 


233 


völkerung  ans  Herz,  und  man  besann  sich  auf  die  Priesterpflichten 
aus  dem  alten  Bunde,  die  ja  auch  den  Kirchenvätern  des  Ostens, 
allen  voran  Basileios  dem  Großen  die  Wege  gewiesen  hatten  zu 
seinen  klugen  Absperrungshäusern  für  die  Aussätzigen  in  Kaisareia 
usw.  Das  Konzil  von  L3'on  vom  Jahre  583  gibt  Vorschriften  gegen 
den  freien  Verkehr  der  Aussätzigen,  die  von  weiteren  Konzilien  aus- 
gebaut wurden.  Das  Edikt 
des  Langobardenkönigs  Ro- 
thari  von  644  verlangt  die 
Isolierung  der  Leprösen.  In 
wenigen  Jahrhunderten  wurde 
die  Leprabekämpfung  durch 
Vermeidung  jeder  Form  von 
Kontakt  und  Ausatmungs- 
übertragung aufs  feinste  aus- 
gebaut bis  zur  Forderung-  be- 
sonderer Weihwasserbecken 
und  Sitzplätze  für  die  Aus- 
sätzigen in  den  Kirchen,  so- 
lange man  ihnen  nicht  be- 
sondere Kapellen  zuwies.  Be- 
sonders streng  gehandhabt 
wurde  die  Vorschrift  auch  im 
Nahrungsmittelhandel.  Die 
amtliche  Schau  für  die  Leprö- 
sen und  ihre  Beurteilung  durch 
ärztliche  Körperschaften  war 
im  14.  Jahrhundert  bis  in  die 
feinsten  Beurteilungsregle- 
ments ausgebaut.  In  Frank- 
reich und  Deutschland  gab  es 
gegen  10  000  Isolierungshäuser 

für  Lepröse  ums  Jahr  1400.  Im  zähen  Kampfe  hat  man  Fuß  für 
Fuß  der  schleichenden  Krankheit  den  Boden  abgewonnen  und  sie 
schließlich  zum  Erlöschen  gebracht.  Aber  schon  hatte  sich  auch 
der  Blick  mächtig  geweitet;  der  Begriff  der  „morbi  contagiosi",  der 
durch  direkte  Uebertragung  ansteckenden  Krankheiten,  war  den 
Aerzten  des  13.  Jahrhunderts  allmählich  in  Fleisch  und  Blut  über- 
gegangen, unabhängig  von  der  neuen  Belehrung  aus  dem  Osten. 
Erst  5.  dann  8,  dann  11,  schließlich  13  ansteckende  Krankheiten 
wurden  aufgezählt.  Zu  Lepra,  Influenza,  Augenblennorhoe  und  Tra- 
chom, Skabies,  Impetigo  kam  bald  Anthrax.  Diphtherie,  Erysipel,  ty- 
phöse Fieber,  Pest,  sogar  Lungenphthise  usw.  hinzu,  die  alle  für  an- 


Abb.   107.     Aussatzschau.     Die  Aerzte   und 
Bader  (den  Blutkucben  auswaschend),   151; 


234  ScHolastik  in  der  Medizin.    Paris,  Bologna,  Padua. 

steckend,  die  davon  Betroffenen  als  zu  Meidende,  Auszuschließende 
erklärt  wurden.  Und  als  man  die  Syphilis  von  anderen  chronischen 
Hautaffektionen  mit  Allgemeinerkrankung  zu  scheiden  sich  ge- 
wöhnte, eine  vor  allem  auf  dem  Wege  de  juvantibus  et  nocentibus 
gewonnene  Erkenntnis,  zog  man  die  von  der  Lues  Betroffenen  in 
den  Kreis  der  Abzusondernden  sofort  mit  hinein.  —  Seit  der  Mitte 
des  14.  Jahrhunderts,  seit  die  Pest  ihre  neue  große  Reihe  von  Seu- 
chenzügen begonnen  hatte,  zog  man  vor  allem  diese  furchtbare 
Menschheitsgeißel  in  den  Bann  der  neuen  Lehre  von  den  Morbi  con- 
tagiosi  und  baute  gegen  sie  das  ganze  Abwehrsystem,  wie  wir  schon 
angedeutet  haben,  zu  fast  lückenloser  Vollkommenheit  aus,  indem 
man  auch  Ratten  und  Kleinvieh  und  Stadtreinigung  nicht  vergaß. 
Wie  die  Cholera  weiland  1830 ff.,  so  hat  die  Pest  1348  ff.  die  ge- 
samte Stadthygiene  in  gemeinsamer  Arbeit  von  Aerzten  und  Be- 
hörden bis  herab  zur  Kontrolle  der  Badestuben  zur  Ausbildung 
gebracht. 

Wie  anders  schon  damals  die  Zeit  geworden  war,  beweisen 
zwei  Worte,  mit  denen  das  von  der  scholastischsten  aller  medizini- 
schen Fakultäten  auf  behördliches  Verlangen  erflossene  Pestregle- 
ment von  1348  anhebt.  Dort  heißt  es  nicht  mehr  „Sicut  dicit  Ga- 
lienus"  oder  „Sicut  ait  Avicenna",  sondern:  „Visis  ef f ectibus  .  .", 
nachdem  wir  die  Wirkungen  der  Pest  gesehen  haben !  Und  wenige 
Jahre  später  bricht  ein  Niederdeutscher  in  die  Worte  aus:  wir  euro- 
päischen Aerzte  des  14.  Jahrhunderts  wissen  jetzt  schon  mehr  von 
der  Pest  als  alle  Aerzte  des  Altertums  und  des  Islam, 

Die  Pestliteratur  der  zweiten  Hälfte  des  14.  und  des  ganzen 
15.  Jahrhunderts  knüpft  aber  an  eine  andere  Literaturgruppe  an, 
auf  die  wir  oben  schön  hingewiesen  haben,  an  die  der  Gesundheits- 
regimente,  deren  erstes  im  Abendlande  der  Pseudo-ARlSTOTELESbrief 
an  Alexander  in  der  tlebersetzung  des  Johann  VON  Toledo  ca. 
1130  gewesen  ist,  dem  sich  unzählige  weitere  anschlössen,  nach 
dessen  Vorbild  es  auch  dem  großen  Taddeo  Alderotti  nicht  zu 
gering  schien,  ein  Regimen  sanitatis  in  der  Volkssprache  zu  schrei- 
ben. Damit  war  erst  recht  der  Damm  gebrochen,  und  der  ärztlichen 
Lebensregeln  Zahl  schwoll  immer  mehr  an,  von  deren  Verfassern 
nur  ein  paar  besonders  namhafte  genannt  seien :  Arnald  von  Vil- 
LANOYA,  Aldebrandino  von  Siena,  Giacomo  Albini  di  Mon- 
CALiERi,  Vitale  da  Furno,  Jacobini  de  Conflentia  usw.  Hinzu- 
kommen bald  Gesundheitsregimina  für  besondere  Fälle,  z.  B.  für 
Schwangerschaft,  für  Land-  und  Seereisen  (besonders  die  Fahrt  ins 
Heilige  Land),  für  die  Rekonvaleszenz  nach  Fiebern,  für  besondere 
Krankheitsdispositionen,  wie  Rheuma,  Gicht,  Schlag,  Blasensteine, 
die    man    zu    haben     oder    befürchten    zu    müssen    g-laubte.      Und 


Scholastik  in  der  Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua. 


^00 


wenn  gar  eine  Krankheit  dem  ganzen  Volke,  der  eigenen  Stadt 
drohte,  wandten  sich  die  Landes-  und  Stadtbehörden,  Fürsten  und 
Fürstinnen  an  Leibärzte  oder  Doktoren-Kollegien  mit  dem  Auftrag, 
allgemeine  Schutz-  undVer- 
haltungsmaßregeln  zu  ver- 
fassen, die  dann  wohl  be- 
hördlich approbiert  wurden. 
All  dies  ist  in  den  Tagen 
ärztlicher  Scholastik  groß 
geworden  und  hat  ins  i6. 
und  17.  Jahrhundert  munter 
hineingedauert,  wie  die  mit 
dem  Schlag  Worte  „Re- 
naissance" keineswegs  ab- 
getane Scholastik  selber. 

Wie  sich  diese  um  die 
Wende  des  14.  Jahrhunderts 
in  der  täglichen  Praxis  und 
am  Krankenbette  gebär- 
dete,  dafür  gibt  uns  eben 
wieder  aus  dem  aller  schola- 
stischsten Paris  ein  Auf- 
zeichnungsbuch Kunde,  das  ein  junger  Deutscher  in  eben  diesem 
Paris  sich  angelegt  hat,  dessen  Namen  wir  leider  nicht  kennen.  Im 
„Consortium    in   practica"   der  beiden  Mitglieder  der   Pariser   medi- 


Abb.  108.    Handschriftbild  einer  anatomischen  Lehr- 

zergiiederung  (um  1400).   An  der  Leiche  der  Dissek- 

tor  und   der  Demonstrator   auf  dem  Katheder  (fast 

ganz  zerstört)  der  Lektor. 


Q||OT(T\OT|TDiai 
t)et.Q00lS-«T- 


Abb.   109.     Sarkophagrelief:  der  lehrende  Mondino. 


!36 


Scholastik  in  der  Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua. 


zinischen  Fakultät,  der  Ordinarien  GuiLLAUME  Boucher  (Carnificis) 
und    Pierre    d'Auxonne   (Danszon),    hat   sich    ein    Magister   „de 


Abb.   HO.     Typische  Lehranatomie  in  Bologna.     Holzschnitt  von   1535  (Carpi, 

Isagoge  breves). 

Almania"   fortlaufend    Notizen    gemacht    über   die    Diagnostik     und 
Therapie  zahlreicher  Fälle,  welche  in  deren  Sprechstunden  oder  bei 

Besuchen  tagsüber  und 
nachts  zu  seiner  Beobach- 
tung   gekommen    waren. 

Eine  Wolfenbütteler 
Handschrift  hat  dieses 
Tagebuch  aus  der  poli- 
klinischen Praxis  uns  auf- 
bewahrt, welches  uns  die 
gelehrten  Herren  jener 
Tage  als  Aerzte  von 
Kenntnis,  Umsicht  und 
Erfahrung  recht  vorteil- 
haft kennen  lehrt. 

Ein  besonderes  Ver- 
dienst der  scholastischen 
Unterweisung  Bolognas 
im  ausgehenden  13.  und 
beginnenden  1 4.  Jahr- 
hundert stellt  schließlich 
Abb.  III,  Anatomisches  Theater  in  Archiginnasio  noch  der  anatomische  Un- 
zu  Bologna.  terricht  dar,    wie   ihn  die 


Scholastik  in  der  Medizin.    Paris,  Bologna,  Padua.  237 

Leichensektionen  unter  MONDIXO  und  seinen  Xachfolgern  uns  vor- 
führen. Blieb  es  für  Salerno  sogar  unter  Friedrich  II.  zweifelhaft,  ob 
menschliche  Leichname  dort  wirklich  zur  Zergliederung  kamen,  so  ist 
dies  für  Bologna  völlig  gewiß.  MoNDixo  DEI  Luzzi  hat  mindestens 
seit  1306  an  der  Leiche  anatomische  Demonstrationen  gehalten.  Von 
GuLiELMO  DA  Varignana  ist  eine  anatomische  Leichenschau  schon 
von  1302  überliefert.  Eindruckvoll  steht  in  der  anatomischen  Literatur 
MoXDixos  Lehrvortrag  von  1316,  der  als  Büchlein,  frisch  von  der 
Leiche  weg,  einen  gewaltigen  Eindruck  machte,  trotzdem  er  nur 
die  Galenische  Anatomie  in  arabischer  Ueberlieferung  in  knapper, 
doch  lebendiger  Darstellungsweise  bietet,  also  nur  die  L'eberlieferung 
fixiert  und  an  der  Leiche  verifiziert.  Auf  ein  ^lehr  w^ar  es  noch 
für  ein  Jahrhundert  und  länger  nicht  abgesehen  als  auf  diese  demon- 
strative Festlegung  des  überkommenen  Wissensstandes  am  Kadaver, 
auf  eine  demonstratio  ad  oculos,  wie  sie  für  das  Mittelalter  nicht 
eindrucksvoller  gedacht  werden  konnte.  Auf  dem  Katheder  dozierte 
der  Professor  (später  eine  erklärende  „Lectio"  des  Buches  des  Mux- 
Dixus),  unten  in  der  Mitte  der  Korona  (später  des  anatomischen 
Theaters  in  am phi theatralischer  Form)  der  Dissektor  und  zwischen 
beiden  (und  den  Zuschauern)  vermittelnd  der  Demonstrator  mit  seinem 
Stäbchen  (x\bb.  1 10).  Für  Bologna  war  damals  die  Zahl  der  Teilnehmer 
auf  20  bei  einer  „anatomia"  einer  männlichen,  auf  30  bei  einer 
weiblichen  Leiche  fixiert.  Mehr  hätten  auch  wohl  beim  Zuschauen 
keinen  Vorteil  gehabt.  Eine  solche  Sektion  (anatomia)  dauerte 
damals  vier  Tage.  Am  ersten  Tage  wurde  der  Bauch  (Bauchmus- 
keln) und  sein  Inhalt,  die  Eingeweide,  vorgenommen,  am  zweiten 
Tage  die  Brust  und  ihr  Inhalt  (die  membra  spiritualia),  am  dritten 
Tage  der  Kopf  und  der  Schädelinhalt  (membra  animata),  am  vierten 
Tage  Extremitäten  mit  ihren  Muskeln,  Adern  und  Knochen  und 
die  Wirbelsäule.  Zum  ersten  Male  wurden  nun  wieder  wirklich  wie 
ein  bis  anderthalb  Jahrtausend  vorher  in  Alexandrien  Leichen 
untersucht.  Strenge  Anatomie  wurde  damals  und  auch  später 
freilich  nicht  vorgetragen,  sie  war  vermischt  mit  Physiologie  und 
praktischer  Medizin  ;  Unterleibserkrankungen  samt  Bauchwassersucht 
und  Bauchstich  wurden  eingeschaltet,  Nierenkrankheiten,  Nieren- 
und  Blasensteine  usw.  Häusliche  Demonstrationen  und  eigene  Sezier- 
übungen, mit  Leichenraub  zu  ihrer  Ermöglichung,  waren  in  Bologna 
früh  an  der  Tages-  bezw.  Nachtordnung. 

Als  Weiterführer  des  Werkes  des  MONDINO  (f  1327)  in  Bologna 
sind  zu  nennen  sein  Schüler  Bertuccio,  der  Lehrer  des  Guy  de 
Chauliac,  der  schon  genannte  Tommaso  DI  Garbo,  Giovanni 
DA  CONCOREGGIO,  die  schon  weitere  Fortschritte  in  eigenen  Ent- 
deckungen  bringenden,    Gabriele   Zerbi   (ca.    1470 — 1505),  Ales- 


238  Scholastik  in  der  Medizin.    Paris,  Bologna,  Padua. 

SANDRO  Achillini  (1463— 15 12),  Jacopo  Bp^rengario  da  Carpi 
(1470— 1550),  die  größtenteils  ihre  Lehrbücher  nur  als  erweiterten 
Mondino  gaben,  namentlich  auch  der  letzte  (Berengar),  der  einen 
sehr  umfangreichen  Kommentar  zum  Mundinus  schrieb  und  als 
Chirurg,  wie  man  schon  aus  seiner  Anatomie  sieht,  mit  Recht  einen 
Namen  hatte. 

In  Padua  ist  die  früheste  Sektion  einer  menschlichen  Leiche  im 
Jahre  1341  nachweisbar,  an  der  Gentile  dei  Gentili  teilnahm. 
Im  15.  Jahrhunderts  fanden  in  Bologna  die  Leichensektionen  regel- 
mäßig zweimal  im  Jahre  statt,  in  Padua  strebt  man  zu  Ende  des 
15.  Jahrhundert  das  gleiche  Ziel  zu  erreichen.  Damals  wirkte  dort 
der  schon  stark  humanistitsch  angehauchte  Alessandro  Benedetti 
da  Legnano  (f  1525),  dessen  „Anatomice"  1503  abgeschlossen  wurde. 
Er  entdeckte  schon  die  Ausführungsgänge  der  Bartholinschen  Drüsen 
am  introitus  vaginae.  In  Florenz  wirkte  besonders  Benedettis 
Lehrer  Antonio  Benivieni  (f  1,502),  der  zahlreiche  Sektionen  machte, 
ein  hervorrag-ender  Humanist.  In  Siena  ist  1427  die  erste  „Ana- 
tomie" nachweisbar,  in  Ferrara  zu  Ende  des  15.  Jahrhunderts,  in  Pavia 
schon  Jahrzehnte  vorher ;  dort  beschreibt  der  schon  genannte  GlAM- 
MATTEO  Ferrari  da  Grado  (1432 — 1472)  Eierstöcke  und  Tuben; 
Marcantonio  della  Torre  weckte  große  Hoffnungen,  starb  aber 
kaum  33-jährig  1506;  doch  wollte  auch  er  noch  „ex  placitis  Galeni" 
schreiben.     In  Pisa  fand  1507  die  erste  Anatomie  statt. 

In  Montpellier  hat  der  in  Bologna  gebildete  Henri  d'  Her- 
mondeville,  damals  schon  (seit  1303)  Wundarzt  der  königlichen  Fa- 
milie zu  Paris,  anatomische  und  chirurgische  Vorlesungen  gehalten 
(1304,  s.  o.),  die  um  des  willen  besonders  bemerkenswert  sind,  weil 
er  sie  zwar  nicht  am  Kadaver  vorzutragen  vermochte,  aber, .  wie  er 
selbst  berichtet,  mit  13  selbstentworfenen  anatomischen  Zeichnungen 
und  einem  Schädel  zu  illustrieren  unternommen  hatte,  deren  einige 
wir  auf  S.  23g  Abb.  112  a — f  dem  Leser  vorführen.  Um  sie  völlig- 
würdigen  zu  können  —  es  handelt  sich  freilich  nur  um  zierliche 
Miniaturen,  die  das  Detail  der  Vorlesungstafeln,  die  ihnen  zugrunde 
lagen,  sicher  nicht  erschöpfen  —  führen  wir  im  Ueberblick  ein  paar 
Stichproben  der  gesamten  vorhenricianischen  Ueberlieferung  in  der 
anatomischen  Graphik  des  Mittelalters  vor  (S.  240 ff.  Abb.  113  — 117). 
Sie  beruht  zweifellos  auf  Lehrzeichnungen  aus  Alexandreia,  von  denen 
uns  eine  Fünfbilderserie  sowohl  in  abendländischer  als  in  morgen- 
ländischer Ueberlieferung  in  einer  stattlichen  Zahl  von  Einzelsericn  er- 
halten ist,  die  ich  zu  publizieren  in  der  Lage  war.  Die  beiden  ältesten 
stammen  aus  der  bayerischen  Donauebene  (1158,  Abb.  113a — e), 
eine   etwas   abweichende  Ueberlieferungsform,   die   schon    näher   auf 


Scholastik  in  der  [Medizin.     Paris,  Bologne,  Badua.  239 


Abb.  112.     Sechs  anatomische  Miniaturen 


aus  einer  französischen  Chirurgie  Henris 
d'Hermoxdeville. 


240 


Scholastik  in  der  Medizin.    Paris,  Bologna,  Padua. 


(tiwivmrur  ff  trei 
mtruf  «V 


«  pmfdulG  fj'#iuüil^  f^iumro  i-«coppenurfr«of 

fuyttipuir.ft  mut.n  Cß^'5^  (^^  CöUii^anr  ibi  intUio 
tiTiuf  et ad'i-ciidn-  VL^yf  III Jmmjire parte  cjpn i* 


f 


Abb.  113a— e.   Fünf  anatomische  Hockbilder  (Arterien,  Venen,  Knochen,  Nerven,  Muskeln) 
aus  Kloster  Prüfening,  1158;  f  Skelett  von  1323  (Dresden). 


Scholastik  in  der  Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua. 


241 


.»^^^^ 


Abb.  114.  Füaf  Hockbilder 
einer  provencalischen  Anatomie 
des  13.  Jahrhunderts  in  Basel 
{Venen ,  Arterien ,  Knochen, 
männliche  und  weibliche  Geni- 
talien). 

Henris  Bilderzuführt,  ist 
um  1 250  in  der  Provence 
gezeichnet  (Abb.  1 1 4), 
Sie  streckt  die  anato- 
mischen Ganzfiguren  et- 
was, während  die  äl- 
teste Ueberlieferung  im 


Mejrer'Steineg  u.  Sadhoff,  lllustr.  Geachicbte  der  Medizin. 


242 


Scholastik  in  der  Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua. 


Abendlande  tiefe  Hockbilder  zeigt,  wie  sie  sich  auch  auf  allen  bis 
heute  bekannt  gewordenen  persischen  Bildserien  finden  (Abb.  115), 
bei  denen  zu  den  fünf  auch  im  Abendlande  erhaltenen  Bildern 
(Arteriensystem,  Venensystem,  Knochensystem,  Muskel-  und  Nerven- 
system) noch  ein  sechstes  Bild,  da^  einer  Schwangeren,  hinzugefügt  ist. 


Abb.   115.     Sechs   persisehe  anatomische  Hockbilder  (Venen,  Arterien,  Knochen,  Nerven, 

Muskeln,  Schwangere). 

Neben  diesen  anatomischen  Ganzbildern,  wie  sie  die  anatomische 
Graphik  bis  in  das  1 7.  Jahrhundert  beherrschen,  haben  sich,  wenn 
auch  seltener,  graphische  Darstellungen  von  Einzelorganen  erhalten, 
deren  wichtigste  in  Pisa  und  Oxford  anzutreffen  sind.  Graphisch 
geht  dies  bis  in  die  Inkunabelholzschnitte  im  Peyligk  herunter  und 


Scholastik  in  der  Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua. 


243 


^ 


Abb.  iiba— c.  Drei  anatomische 
Ganzfiguren  aus  Guido  de  Vigevano 
('345)-  d  Uterus  aus  dem  Brüsseler 
Mustio  (um  900).  e  Sieben  Uterus- 
zellen nach  Magnus  Hundt,  f— h 
Organbilder  einer  Handschrift  in 
Oxford  von   1290. 


244 


Scholastik  in  der  Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua. 


im  Anthropologium  des  MAGNUS  Hundt  (Abb.  1 1 6  e,  1501) ;  auch  einige 
Mondevillehandschriften  haben  (zu  Unrecht)  solche  Organzeichnungen. 


ft-r^"?"- 


lJ)~?^CfAnr  -.liw.v.  Anna-  fr»«-  -itiSsÄ-'W'flC 
-lAt-nfC  ^m^<>.«nV'.^AU;ft^.^>  ■'*'<*•''  »»'-t»'»n^'*- 


^^L 


Abb.   117.     Organbilder  einer  Handschrift  in  Pisa  ca.   1220, 


Was  sich  im  „Fascicujus"  medicinae"  angeblich  eines  „JOHANNES  DE 
Ketham"  (Kirchhain?)  von  1491  an  Ganzbildcrn  findet,  gehört  nur 
mit  der  Gravida  in  diese  anatomische  Bilderreihe,  die  auch  im  Abend- 


Scholastik  in  der  Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua. 


245 


Abb.    118.      Vier    Hockbilder    einer    Schwangeren    a — c    aus   Handschriften    in    Leipzig, 
Kopenhagen  und  München,  d  aus  dem  gedruckten  Fasciculus  medicinae  von  1493. 


246 


Scholastik  in  der  Medizin.     Paris,  Bologna,  Padua. 


lande  an  Einzelbildern  der  Schwangeren  nicht  arm  ist  (Abb.  118). 
Was  sonst  an  Ganzbildern  im  „Ketham"  sich  findet  —  Aderlaßmann, 
Wundenmann,  Krankheitsmann,  Tierkreiszeichenmann  —  sind  selb- 
ständige graphische  Lehrschemata,  die  auch  in  Handschriften  häufig  von 
mir  gefunden  wurden  und  ebenfalls  in  recht  alte  Zeit  zurückgehen. 
Der  „Ketham"  von  1493  bringt  ein  neues  Bild  der  Gravida,  welches  aus 
Bologna  stammt  und  deswegen  eine  große  Bedeutung  besitzt,  weil  es 

zum  ersten  Male  seit  Alexandrien 
wieder  ein  wirklich  nach  der 
Leiche  gezeichnetes  mensch- 
liches Organ  vorführt,  einen 
schwangeren  Uterus  im  vierten 
Monat,  den  der  Künstler  beim 
Blick  in  die  Bauchhöhle  einer 
weiblichen  Leiche  aufgefaßt  und 
wiedergegeben  hat.  Eigener 
Kenntnis  von  der  Leiche  her  ver- 
danken die  Bauchmuskelzeich- 
nungen kaum  ihre  Entstehung, 
welche  der  „Conciliator"  des 
PlETRO  d'Abano  seit  1496  in 
mehreren  Venetianer  -  Drucken 
enthält;  sie  sind  vom  Künstler 
nicht  direkt  nach  der  Natur, 
sondern  nach  mündlichen  An- 
gaben des  Anatomen  schematisch 
wiedergegeben. 

Künstlerzeichnungen  nach 
Angaben  der  Anatomen  unter 
Benutzung  der  Bilder  zur  Anatomie  des  Henri  d'  Hermondeville 
sind  schließlich  auch  die  16  anatomischen  Bilder  zur  Anatomie  des 
Guido  de  Vigevano,  medecin  de  la  reine  Jeanne  de  Bourgogne 
(i345>  S.  243  Abb.  ii6a — c),  zugleich  aber  ein  Beweis  der  fortge- 
schrittenen französischen  wissenschaftlichen  Graphik ,  auch  wo  sie 
nicht  direkt   an  die  Natur  sich  anlehnen  kann. 


Abb.    119.      Bauchmuskelzeiclinung   in    einem 

Venetianer-Drucke  von  1496  des  „Conciliator" 

Petri  Aponensis. 


Renaissance  und  Humanismus. 

Auch  das  scholastische  Mittelalter  hatte  allezeit  den  allergrößten 
Respekt  vor  dem  klassischen  Altertum.  Sah  man  doch  in  dem  über 
Toledo  eingeführten  arabischen  Schriftwerk  in  allererster  Linie  die 
wiedergeschenkte  Antike,  vornehmlich  den  Aristoteles,  von  dem 
man  vorher  nur  einen  kleinen  Teil  sein  eigen  hatte  nennen  können,  für 
den  der  AuGUSTiNische  Piatonismus,  der  Timaios  des  Chalcidius, 
der  Macrobius  und  BOETHIUS  auf  die  Dauer  nur  bescheidenen 
Ersatz  boten.  Auch  die  Platoniker  freilich  zog  es  zur  arabischen 
Naturwissenschaft,  schon  um  deren  mathematischen  Gehaltes  willen ; 
für  die  Aerzte  war  es  aber  vor  allem  das  Biologische  bei  ARISTOTELES 
und  der  Galenismus  bei  IBX  SiNÄ,  was  sie  lockte. 

Doch  selbst  die  Fortgeschrittensten  unter  den  naturwissenschaft- 
lichen Vertretern  der  Scholastik,  wie  beispielsweise  Roger  Bacox, 
hielten  sich  an  das  Altertum  und  die  Araber  und  klagten  wohl 
darüber,  daß  man  vom  wirklichen  Altertum  leider  nur  eine  un- 
genügende Kenntnis  habe,  vor  allem  auch  weil  man  die  griechische 
Sprache  nicht  beherrsche. 

Da  trat  denn  für  die  Mediziner  das  zwei-,  ja  dreisprachige  Süd- 
italien wieder  in  die  Bresche.  Von  frühen  sizilianischen  Ueber- 
setzungen  aus  dem  Griechischen,  z.  B.  des  Henricus  Aristippus 
in  Catania  im  12.  Jahrhundert,  war  andeutungsweise  schon  oben  die 
Rede.  Daneben  hatte  BuRGUNDiO  aus  Pisa  (11 10—1194)  die  physio- 
logische Schrift  des  Nemesius,  die  Aphorismen  des  HiPPOKRATES, 
von  Galenos  diätetische,  Puls-  und  therapeutische  Schriften  über- 
setzt mit  Hilfe  (auf  diplomatischem  und  Handelswege  erworbener) 
griechischer  Sprachkenntnisse.  Auch  der  Pistojese  AccORSO  aus 
dem  Anfange  des  i  3.  Jahrhunderts  is*-  als  Galenübersetzer  zu  nennen. 
Im  weiteren  13.  Jahrhundert  kam  ja  allerdings  eine  Welle  von  Ueber- 
setzungen  nach  griechischer  Vorlage  aus  dem  Norden,  die  schließ- 
lich auch  Medizinisches  mitheranspülte.  ROBERT  Grosseteste, 
Bischof  von  Lincoln,  kommt  für  die  Medizin  zwar  nicht  in  Betracht, 
wohl  aber  der  flamländische  Dominikaner  Wilhelm  von  Moerbeke 
(12 15 — 1286),  seit  1277  Erzbischof  von  Korinth.  Er  übersetzte  1260 
zu  Theben  die  Aristotelische  Schrift  über  die  Teile  der  Tiere,  1277 
zu  Viterbo  die  Schrift  des  Galenos  über  die  Kräfte  der  Nährstoffe, 


248  *  Renaissance  und  Humanismus. 

zu  Korinth  das  pseudo-hippokratische  „De  prognosticationibus  aegri- 
tudinum  secundum  motum  lunae".  Man  war  also  schon  in  den  Tagen 
des  ersten  Aufschwunges  medizinischer  Scholastik  z.  B.  in  Bologna 
daran  gewesen,  griechisches  ärztliches  Schriftwerk  direkt  nach  dem 
Original  zu  übersetzen,  und  wenn  Roger  Bacon  solche  Ueber- 
setzungen  völlig  verwirft,  so  ist  dies  zum  Teil  auf  den  Gegensatz 
der  Franziskaner  zu  dem  Dominikanerorden  zu  setzen;  die  moderne 
klassische  Philologie  fällt  ein  besseres  Urteil. 

Es  hatte  aber  an  Bearbeitungen  nach  dem  Griechischen  auch  vor 
dem  Beginn  des  1 4.  Jahrhunderts,  wie  man  sieht,  nicht  völlig  gefehlt, 
selbst  wenn  man  es  für  ganz  unbestreitbar  erklärt,  daß  von  den 
Konstantinischen  Uebersetzungen  griechischer  Autoren  alle  nach  dem 
Arabischen  hergestellt  sind.  An  Kommentaren  griechischer  Aerzte- 
bücher  hat  es  in  den  Tagen  der  Scholastik  gleichfalls  niemals  ge- 
mangelt, wie  das  schon  der  Unterrichtsbetrieb  der  Hochschule  mit 
sich  brachte,  der  „Lektionen"  über  Hippokrates  und  Galenos 
vorschrieb,  was  wir  schon  betont  haben,  die  aber  bei  Ugo  Bencio 
und  Jacques  Despars  um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  nicht  anders 
zu  bewerten  sind  als  schon  im   13.  Jahrhundert. 

Und  doch  bedeutet  es  etwas,  wenn  man  zu  Anfang  des  1 4.  Jahr- 
hunderts erneut  an  Byzanz  anknüpft  in  den  Massenübersetzungen 
nach  von  dort  verschriebenen  griechischen  Handschriften  durch 
NicOLO  DI  Deoprepio  (t  ca.  1350)  aus  Reggio  in  Kalabrien,  in  den 
Jahren  1308 — 1343  im  Auftrage  des  Königshauses  der  Anjou  in 
Neapel,  Wurden  damals  durch  ihn  doch  von  Hippokrates  wort- 
getreu, ja  zu  wortgetreu,  neu  übersetzt  die  Aphorismen,  die  Pro- 
gnostik, das  Gesetz  und  die  Lebensregel  in  akuten  Krankheiten,  von 
Galenos  Aphorismenkommentar,  Therapeutik  an  Glaukon,  Nutzen 
der  Teile,  Geschwülste,  verdünnende  Diät,  Gesunderhaltung,  Wir- 
kungen der  Arzneistoffe,  Causae  continentes,  Subfiguratio  empirica, 
Partes  artis  medicativae  und  anderes,  schließlich  auch  das  byzan- 
tinische Arzneimittelbuch  des  NiKOLAOS.  Auch  zu  Guy  de  Chauliac 
nach  Montpellier  gelangten  nachweislich  einige  dieser  neuen  Ueber- 
setzungen, vielleicht  durch  Vermittelung  des  ihm  befreundeten  Herolds 
der  neu  erwachenden  Antike,  Francesco  Petrarca  (1304 — 1374). 

Mit  Nicolös  da  Reggio  Tode  setzt  Petrarcas  heftige  Be- 
fehdung der  zeitgenössischen  Aerzteschaft  ein;  1352  sind  seine„In- 
vectivae  in  medicum  quendam"  geschrieben,  eine  der  heftigsten 
Streitschriften  gegen  die  Aerzte,  die  je  erschienen  sind,  zweifellos 
in  vielem  damals  berechtigt,  wenn  auch  der  persönliche  Haß  des 
Verfassers  allzu  stark  darin  zu  spüren  ist  und  die  Wirkung  beein- 
trächtigt.    Petrarca    bekämpfte    den   Arabismus    auf    der    ganzen 


Renaissance  und  Humanismus.  249 

Linie  mit  Todfeindschaft,  nicht  nur  in  der  Medizin,  wo  er  selbst  den 
HiPPOKRATES  nicht  völHg  gelten  lassen  will  und  den  Galexos  als 
Prahler  kennzeichnet,  überhaupt  die  griechischen  Aerzte  für  die  da- 
malige Körperkonstitution  nicht  recht  geeignet  hält. 

Wenn  er  die  Aufgeblasenheit  der  Aerzte  geißelt,  fühlt  man  sich 
versucht,  seine  eigene  eitele,  ewig  mit  sich  selbst  beschäftigte  Art 
daneben  zu  halten,  was  wiederum  die  Wirkung  abschwächt.  Mit 
vollem  Rechte  verspottet  er  die  medizinische  Astrologie  und  die 
Harnschau  jener  Tage,  den  ewigen  Wortstreit  auf  Kosten  der 
Krankenbehandlung  und  die  dürftigen  Heilkünstchen  bei  so  großen 
Versprechungen.  Uebers  Ziel  hinaus  schießt  er  bei  der  Verhöhnung 
der  strengen  Diätvorschriften  mit  ihren  Unbequemlichkeiten  und 
Beschränkungen  für  den  Kranken,  wenn  es  auch  mehr  gewesen  sein 
mag  als  pure  Medisance,  daß  die  Aerzte  von  Enthaltsamkeit  in 
Speise  und  Trank  nur  für  die  Kranken  wüßten  und  selber  schlemmten 
und  praßten.  Ihr  Anspruch  auf  Wissenschaftlichkeit  sei  weder  in 
Lehren  noch  im  Handeln  berechtigt,  was  der  Wahrheit  nahekam. 

Großer  Erfolg  war  der  herben  Kritik  nicht  beschieden,  wie  gut 
auch  viele  der  Hiebe  saßen.  Mit  der  Geißel  des  Spottes  und  Hasses 
war  die  Herrschaft  des  Arabismus  nicht  zu  stürzen.  Nur  ganz  all- 
mählich rang  sich  in  der  Aerztewelt  die  Erkenntnis  von  seiner  Un- 
zulänglichkeit durch  und  von  der  Hohlheit  seiner  Doktrinen  und 
haarspalterischen  Unterscheidungen,  während  an  den  Hochschulen 
selbst  das  Spiel  der  Antithesen  und  Syllogismen  vielfach  noch  zu- 
nahm. 

In  manchen  Gegenden  Italiens,  z.  B.  in  Toskana,  scheint  man 
sich  sogar  schon  von  Anfang  an  mit  Zähigkeit  und  auf  die  Dauer 
mit  Erfolg  den  Auswüchsen  der  Arabistik  auch  in  der  Praxis  ferner 
gehalten  und  sich  z.  B.  zu  den  spanischen  und  jüdischen  Aerzten, 
die  allenthalben  die  Träger  der  Arabistik  waren,  in  einen  gewissen 
Gegensatz  gestellt  zu  haben.  In  Toskana,  namentlich  in  Florenz, 
haben  denn  auch  Renaissance  und  Humanismus  am  schnellsten 
Boden  gewonnen  im  Gegensatz  zu  Bologna  und  Padua,  als  ihre 
Zeit  gekommen  war. 

Ob  die  direkten  Uebersetzungen  aus  dem  Griechischen  diesen 
Prozeß  stark  beschleunigten,  steht  dahin.  Gerade  die  des  NicOLo 
waren  in  der  Form  zu  wenig  ansprechend,  um  nicht  mehr  zu  sagen. 
Von  größerer  Wirkung  war  die  allmählich  sich  verbreitende  Kenntnis 
der  Griechensprache  selbst,  in  der  auch  die  Aerzte  nicht  ganz  zurück- 
blieben. Auch  als  die  italienischen  Gelehrten  sich  selbst  nach  dem 
Osten  auf  die  Reise  machten,  ehe  das  Türkentum  auch  die  letzten 
Bollwerke  brach,  Konstantinopel  einnahm  und  alles  überflutete  {1403), 
da  waren   auch   Aerzte    unter   den   Erfolgreichsten.     AurispX,    der 


250  •  Renaissance  und  Humanismus. 

1423  mit  einer  großen  Bibliothek  von  Kodizes  von  seinem  östlichen 
Fischzug  heimkehrte,  hatte  als  Giovanni  Noto  Siciliano  vorher  in 
Bologna  medizinisch  lehrend  und  schriftstellernd  gewirkt,  wie  eine 
Pestschrift  seines  Namens  vom  Jahre  1398  heute  noch  dartut.  Hand- 
schriften griechischer  Aerzte  kamen  damals  gleichfalls  in  erheblicher 
Anzahl  aus  dem  Osten ;  die  kostbare  illustrierte  chirurgische  Niketas- 
Handschrift  hat  Janos  Laskaris  sogar  noch  1495  auf  Kreta  er- 
werben können  und  nach  Florenz  gebracht. 

„Renaissancen"  hat  es  in  der  menschlichen  Kulturgeschichte 
viele  gegeben,  auch  in  der  Medizin.  Was  Galenos  erstrebte,  war 
zum  großen  Teile  eine  Renaissance  des  Hippokratismus,  was  der 
Islam  im  9. — 12.  Jahrhundert  schuf,  vor  allem  des  Galenismus.  Was 
man  im  Abendlande  karolingische  Renaissance  heute  nennt,  ist  dem- 
gegenüber etwas  sehr  Bescheidenes,  nicht  nur  in  der  Medizin.  Und 
das  Unternehmen  der  Schule  von  Salerno  ist  kaum  klar  als  Renais- 
sance der  klassischen  Medizin  gedacht  gewesen,  wie  man  es  wohl 
hinzustellen  beliebte. 

Aber  die  „Renaissance  der  Heilkunde  im  15.  Jahrhundert",  die 
Renaissance  kat'exochen  ?  —  Eine  Renaissance  der  Kunst,  der  Literatur, 
des  Stils  usw.  des  Altertums  war  möglich,  aber  der  antiken  Heil- 
kunde? War  sie  wirklich  erwünscht  oder  Bedürfnis,  etwa  im  Sinne 
eines  Neugalenismus? 

Ist  die  Wiedergeburt  einer  alten  Wissenschaft,  wie  die  Medizin, 
nach  einem  bis  zwei  Jahrtausenden  durch  Wiedergewinnung  ihrer  Texte 
überhaupt  erreichbar?  Mag  sein;  aber  es  kommt  darauf  an,  was  in 
dem  sie  wiedergewinnenden  Lande  unterdessen  geschehen  ist.  Und 
da  ist  die  Sachlage  für  Italien  und  das  gesamte  Abendland  im 
15.  Jahrhundert  doch  eine  ganz  besondere.  Eine  nicht  unerhebliche 
Eigenarbeit  langer  Zeiträume  liegt  vor,  die  sich  auf  eine  umfassende 
Verarbeitung  der  zu  erneuernden  Wissenschaft  und  Kunst  in  völlig 
anderem  Kulturzusammenhange  stützt,  dem  eine  Kenntnis  der  Lite- 
ratur der  zu  erneuernden  Wissenschaft  beschieden  gewesen  war 
in  einem  Umfange,  den  das  15.  Jahrhundert  niemals  sich  zu  ver- 
schaffen hoffen  konnte! 

Gewiß  hatte  das  13.  und  14.  Jahrhundert  die  große  alte  Griechen- 
medizin durch  die  Brille  des  Arabismus  angeschaut,  aber  eben  diese 
Araber  hatten  dafür  diese  Griechenmedizin  doch  noch  in  einer  ganz 
anderen  Vollständigkeit  besessen,  als  sie  auch  die  glücklichsten 
Handschriftenbefunde  je  wieder  herbeizubringen  vermochten.  Und 
wenn  es  der  scholastischen  Philosophie  des  13.  Jahrhunderts  gelingen 
konnte,   durch   alle  Hüllen   wiederholter  Uebersetzungen  und  Kom- 


Renaissance  und  Humanismus.  251 

mentare,  selbst  durch  den  Averroismus  hindurch  den  rechten  Ari- 
stoteles wiederzugewinnen,  war  ein  gleiches  in  der  Medizin  für 
HiPPOKRATES,  Galexos  und  etwa  den  Paulos  unmöglich?  wo  es 
doch  im  wesentlichen  auf  das  Tatsächliche  hinauskam  und  die  Form 
doch  erst  in  zweiter  Linie  stand? 

Gehen  wir  doch  heute  in  zahlreichen  Fällen  wieder  den  gleichen 
Weg  wie  Gerhard,  der  Lombarde  um  1170  und  halten  uns  für 
Galexos  an  die  arabischen  Schriften,  wo,  wie  bei  den  7  Schluß- 
büchern der  anatomischen  Encheiresen,  jede  Hoffnung  auf  Wieder- 
entdeckung des  griechischen  L'rtextes  geschwunden  ist. 

Allzuviel  war  ja  im  15.  und  16.  Jahrhundert  für  Praxis  und 
Lehre  der  Medizin  wohl  nicht  zu  gewinnen,  wenn  man  bestimmte 
Traktate  des  Galexos  nun  griechisch  lesen  konnte,  die  man  bisher 
nur  in  der  L'ebersetzung  über  die  Araber  gekannt  hatte!  War  denn 
der  Geist  der  Griechen  gar  so  fest  an  die  Form  gebunden,  auch  in 
der  Heilwissenschaft?  Eine  Besserung  der  Form,  des  Stils  tat  der 
scholastischen  Medizin  gewiß  bitter  not,  ja  eine  völlige  Umkehr  ^). 
War  dazu  aber  etwa  Galenos  in  seiner  unerträglichen  Weit- 
schweifigkeit eine  so  große  Verbesserung  gegenüber  dem  wortreichen 
IBX  SiXA?  Da  war  jedenfalls  in  dieser  Hinsicht  die  Wiedergewinnung 
des  Corpus  Hippocraticum  und  anderer  Griechenärzte  wichtiger,  wie 
des  Aretaios,  des  Ruphos,  Alexaxdros  und  besonders  des  Paulos. 
Am  wichtigsten  ward  hier  vielleicht  die  Heranholung  des  vergessenen 
A.  CoRX.  Celsus  aus  dem  Norden;  denn  die  Zahl  der  Aerzte,  die 
des  Griechischen  genügend  kundig  wurden,  um  die  neuen  Hand- 
schriftenfunde voll  zu  genießen  und  Nutzen  davon  zu  haben,  blieb 
gering;  die  Mehrzahl  war  nach  wie  vor  auf  Uebersetzungen  an- 
gewiesen. 

In  Ausgaben  und  Uebersetzungen  aller  taten  sich  besonders 
auch  humanistisch  gebildete  deutsche  Aerzte  hervor,  die  an  den 
großen  italienischen  Gesamtausgaben  fleißig  mitarbeiteten :  philologische 
Mediziner  im  besten  Sinne  des  Wortes,  diesseits  und  jenseits  der 
Alpen.  Aber  auch  ihr  Wirken  konnte  für  eine  wirkliche  Re- 
formation der  Heilkunde  nur  ein  bescheidenes  bleiben,  welche  auf 
eine  wirkliche  Wiedergeburt  der  antiken  Medizin,  des  medizinischen 
Geistes  in  den  Blütetagen  von  Alexandrien  schließlich  doch  hinaus- 
kommen mußte.  Dabei  darf  man  auch  die  Gefahr  nicht  übersehen, 
welche  in  einer  durchgehenden  Erneuerung  im  Sinne  der  Griechen- 


1)  Wenn  Barbarei  des  Stils  mit  Recht  im  fehlenden  Zusammen- 
klang von  Form  und  Inhalt,  im  Zusammenraffen  von  Phrasen,  die  nicht 
hinpassen,  in  Mangel  an  Sprach-  und  Stilgefühl  gefunden  wird,  haben  gerade 
die  Humanisten  nicht  selten  noch  barbarischer  geschrieben  und  geredet 
als  die  mittelalterliche  Scholastik. 


252  Renaissance  und  Humanismus. 

medizin  liegen  konnte  für  alles,  was  das  abendländische  Mittelalter 
an  Eigenem  verarbeitet  hatte,  das  dem  unverdienten  Geschick  aus- 
gesetzt sein  konnte,  einfach  nicht  mehr  zu  gelten. 

Was  half  es,  daß  man  neue  Autoritäten  zu  erwerben  sich 
bestrebte  statt  der  alten,  ja  daß  man  sie  wirklich  erwarb?  Kann 
damit  einer  Erfahrungswissenschaft  gedient  sein?  Jede  Scholastik 
kommt  dazu,  und  auch ,  die  medizmische  Scholastik  war  dazu  ge- 
kommen, daß  ihr  die  Begriffe  des  eigenen  Systems  wichtiger  werden 
als  die  Dinge  selbst.  Not  war  ihr  hinauszutreten  aus  dem  Zauber- 
banne des  Systems  auf  die  grüne  Weide  der  Tatsachen.  Zerrissen 
werden  mußte  das  Band,  gesprengt  werden  der  Ring,  der  die 
„Autoritas"  an  die  „Ratio"  schmiedete;  nicht  neue  Autoritäten  und 
spitzfindigere  Erwägungen  mußte  die  Losung  sein,  sondern  Er- 
fahrung und  scharfsinnige  Prüfung  des  Beobachteten  —  experientia, 
experimenta  ac  ratio!  —  Hohenheim  hat  es  1525  einmal  ganz 
präzise  gegen  die  philologische  Medizin  seiner  Tage  ausgesprochen, 
es  dürfe  nicht  mehr  der  Leitgedanke  sein :  „Perscrutamini  scripturas", 
sondern  der  müsse  lauten:  „Perscrutamini  naturas  rerum"!    — 

Ehe  wir  aber  zum  Sachlichen  der  medizinischen  Weiterentwicke- 
lung übergehen,  noch  einige  Worte  über  einige  äußere  Umstände, 
die  für  diese  Entwickelung  von  Bedeutung  wurden. 


Wie  im  Ausgang  des  4.  und  namentlich  zu  Beginn  des  5.  Jahr- 
hunderts der  Hintritt  des  bequem  zu  handhabenden  Kodex  an  die 
Stelle  der  Buchrolle  auf  die  gesamte  Literatur  eine  bedeutende  Wir- 
kung übte,  hat  auf  die  Entwickelung  auch  der  Medizin  die  neue, 
aus  Deutschland  gekommene  Vervielfältigungsform  der  Texte  durch 
den  Buchdruck  mit  beweglichen  Lettern,  der  gleich  Hunderte  von 
billigen  Einzeltexten  auf  einmal  lieferte,  einschneidende  Bedeutung 
gewonnen.  Mit  der  leichten  Beschaffungsmöglichkeit  ging  die  Lite- 
ratur mächtig  in  die  Breite.  Doch  auch  davon  abgesehen,  ist  die 
medizinische  Literatur  der  Frühdrucke  bis  in  die  ersten  Jahrzehnte 
des  1 6.  Jahrhunderts  von  Wichtigkeit.  Sie  gibt  uns  in  ganz  anderer 
Weise,  trotzdem  enge  Angleichung  an  die  Handschriften  in  jeder 
Aeußeriichkeit  erstes,  langdauerndes  Bestreben  war,  die  Möglichkeit 
einer  genauen  Kontrolle,  eines  vollen  Ueberblickes  über  ihre  Art 
und  Verbreitung  als  in  den  Tagen  der  ausschließlichen  Textverviel- 
fältigung durch  Handschriftenkopieren,  das,  nebenbei  bemerkt,  durch- 
aus nicht  mit  dem  Auftreten  des  Buchdruckes  ein  Ende  hatte. 

Zunächst  tritt  populäres  Schrifttum  neben  dem  wissenschaftlichen 
stark  hervor.  Gleich  das  erste  Druckwerk  medizinischen  Inhalts  ist, 
wenn  auch  für  Aerzte  bestimmt,  doch  halb  populärer  Art,  ein  Ader- 


Renaissance  und  Humanismus.  253 

laß-  und  Laxierkalender  für  die  Monate  des  Jahres  auf  1457,  zu 
Mainz  Ende  1456  mit  den  Typen  der  36-zeiligen  Bibel  hergestellt, 
eines  der  allerältesten  Druckwerke  überhaupt.    Es  gibt  die  Wochen- 

Cöiüi'tiofs  1  Offofirofs  folis  ft  lunr  ac  mFuroK  ftfrtff  nr  c  nö  öire  ji  itifDins 
laranuisf  ummDislln  anno  Dfii  fUtrcc  Inii  irui^*  h  Iw  DniwliB  aiiiaure^nüe 
InrmiallüijrrtjtDmittßonrurmitfBunaDies-:*        •:•       •:♦       ♦:- 

x^oftciorda  [cöa  p"  fttiaröi  tjora  \x  p^  mfribif  }ft«nrio  in  öic  töunfionis 
ifdUUQriuof  pauiitiora  o  pofl  maiDif fninutionfsfria  [cöa  ft  tfcciapoö  tircünTioißöüi 

V|arariua(ummtaiffriröiiimrprtDiijacoirrfimDnQnotiirhui°ramCis 

<©fl»fweDiraflilonifbDratiarimroDiE^ftfffi8Dienia[hifapfiboraaan 
mfoDif  Wftuofsfabßa  1  Dnita  p"  aiplonie  D  tajp>' aalftinn  iii  p"matlj« 
lawtiua  tUmmöa  D  Di  oi  I  «in  ra -Eni  rffiirfi^Tii  at  ffp  Die  biiius  mmii'9 
CiÖffiodno  fraa  qiira  an  gtegonl  t^ora  ri  p?  mriDic^t*««^«  annüriatois  rm- 
m  üora  fma  poß  rafriöiEm  fHi'urorä  pöif  1  Die  gettcuDis  ft  Düita  p^  gernuä 
larariua  fumf  nöa  iiii  n  di  ?iii  riiijjEa  mü  tElili  at  fed  Die  buiuß  mfnfis 
^.-iDHioIitio  taböQ  poQ  ambrodjin  mnDif^»«HÖo'rraß(na  gforgiitjoatea 
^^pfÜ!s(^    an  mtiDimt plfutors  fcira p^  ambroCii  pDif  1  Die  ipbureii  Düira  1  feiatcöa p^ 
X^trburai  lacatiua  f  umfnöa  i  n  in  r  ri  m  m  rr  cgi  reDüi  mtat  «f  Dit  ti''  mifiß 
^^hI^o  fcöa  p^  gortiaröi  in  mpöia  notte>««Ö8  tcöä  an  urüani  boä  oi  p?  raf'iö 
)Bmm(^    mmurofs Dir gortiarDi  i  Die feqptiDipgoröiani  1  Dif  [ttjJripDir foptiifiDif 
\_nuIDfm  laranua  fumfta  oii  niü  ir  m  raii  roiij  e|o  rrai  1 1  coii  Dir  b^  mKiß 

CiOffoCirio  rtrcia  poö  banifafii  üaapma  p^  mfiDif^tÄfo  qfta  poß  albani 
boa  Dil  aft  mEiÖ  jnrutorä  qfta  1  o  afi  bonif  am  ai  1  labBo  p"  banüarij  a  1  d| 
antf  albani  laratiua  fumfla  iii  iifiD  riiiiErnjra  m\  m\\  mmw  Die  b^  mfCia 


iqnap"DtalnribDärip^inEiDiE4««HtepDiEmanEmagtar^0QOp9 

Abb.  120.     Aderlaß-  und  Laxierkalender,  Mainz  1456,  verkleinert. 

tage  für  den  Aderlaß  (Minutio,  z.  B.  2.  und  3.  Januar)  und  Abführen 
üaxatio  sumenda,  z.  B.  9.,  10.,  11.,  18.,  20.,  28.  und  29.  Januar)  in 
lateinischer  Sprache  wieder.     Das  Blatt   in  Schwarz-  und  Rotdruck 

J^flötltaa  nart)  Dctn  nnuru  lar  an  öic  paru 
ttunitao  uor  üiiö  tcrtxtv  üüiiio  abciit  an  öic  fucfe 
au  Der  Drrv  tiunig  tag  uuü  Dar  uait  an  nao  tiaupt 
an  lauö  (cbafnan  unö  aancfcn  tan  an  Die  Icut 
an  CauO  paul  pcticrunn  abmt  au  Die  (rl}aai 

^lorMuo 
jflm  imbtincftaa  an  Dlffucf? 
au  blafv  unD  pt^mntan  Dar  uarb  an  Daa  baunf 

Abb.  121.    Jenner  und  Hornung.     Ausschnitt  axis  einem  Aderlaßkalendcr  für  1469. 

hatte  zahllose  Nachfolger  in  deutscher  und  lateinischer  Sprache, 
deren  sich  über  zweihundert,  meist  in  ^Deutschland  gedruckt,  vor 
1501  erhalten  haben,  die  uns  zeigen,  eine  wie  große  Rolle  diese 
I.aßtafelkunst   (denn    das   ist   die  Hauptsache)   im  Leben   der  Aerzte 


254 


Renaissance  und  Humanismus. 


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Abb.   122.    Eine  Aderlaßtafel,  d.  h.  Kalender  für  die  Tagewahl  des  Aderlasses,  ca.   1485. 


Renaissance  und  Humanismus.  255 

und  des  Volkes  spielte,  trotzdem  auch  der  Spott  darüber  bald  sich 
einstellte.  Wie  eingehend  die  Laßstellen  angegeben  werden  und 
wie  selbstverständlich,  dafür  möge  der  Januar  eines  deutschen 
Mainzer  Aderlaßkalenders  aufs  Jahr  1469  (Abb.  121)  als  sprechendes 
Beispiel  dienen. 

Die  gepriesene  Renaissance  nahm  diesen  medizinischen  Unfug 
der  Laßzettel  noch  weit  ins  16.  Jahrhundert  mit;  erst  HOHEXHEIM 
hat  aufs  schärfste  gegen  diese  „Irrung  der  Laßzettelarzet"  Stellung 
genommen,  1527. 

Die  ersten  datierten  wissenschaftlichen  medizinischen  Werke  nach 
der  Naturgeschichte  des  Plixius  (1469)  waren  ein  Antidotarium  des 
,.Mesue",  ein  „Conciliator"  des  PlETRO  dAbaxo  und  das  „Anti- 
dotarium Nicolai"  aus  Salern,  alle  drei  1471  in  Venedig  erschienen, 
zu  Pavia  in  gleichem  Jahre  die  Practica  (an  den  Liber  Mansuricus 
des  Razes  sich  anlehnend)  des  dort  noch  lebenden  Matteo  Ferrari 
DA  Gradi,  der  das  Buch  schon  einmal  vorher  ohne  Jahrzahl  hatte 
erscheinen  lassen  und  offenbar  selbst  in  Druck  gegeben  hat,  während 
die  drei  anderen  Werke  einfache  Handschriftenabdrucke  darstellen: 
Gangbarstes  und  Meistverlangtes,  in  seiner  Auswahl  höchst  bezeich- 
nend, wurde  vom  Verleger  in  der  neuen  Vervielfältigungsform 
schleunigst  auf  den  Markt  gebracht.  Als  solche  gelten  noch  das 
führende  Salernitaner  und  das  hochgeschätzteste  scholastische  Anti- 
dotarium. und  der  dem  letzteren  nicht  völlig  fernstehende  Peter  aus 
dem  Badeort  an  den  Euganeen,  dessen  Conciliator  schon  1472  zu 
Mantua  wieder  herauskam !  Außerdem  erschienen  in  letzterem  Jahre 
zu  Bologna  als  altes  wertes  Literaturgut  das  Regimen  Sanitatis  des 
Taddeo  Alderotti  und  zu  Augsburg  sein  deutsches  Ebenbild 
einer  „Ordnung  der  Gesundheyt"  oder  „nützlich  regiment",  ferner 
als  aktuelle  neue  Erscheinung  des  Paduaner  Professors  Pa<^L<^  Ba- 
GELLARDI  „Libellus  de  egritudinibus  infantium",  eng  an  des  RÄz! 
Kinderbüchlein  sich  anschließend  und  offenbar  von  Bagellardi 
selbst  herausgegeben.  Schon  1473  trat  dann  der  Augsburger  Arzt 
D.  Bartholomäus  Metlinger  mit  seinem  weit  selbständigeren 
„Regiment  der  jungen  Kinder"  hervor,  vermutlich  vom  Augsburger 
Verleger  Günther  Zainer  mit  Rücksicht  auf  das  Buch  Bagellardis 
dazu  veranlaßt.  Das  Jahr  1473  bringt  neben  einem  neuen  latei- 
nischien  Mesuedruck  und  einem  Serapion  über  die  einfachen  Arznei- 
stoffe, ebenso  wie  diese  beiden  zu  Mailand  erschienen,  den  ersten 
Druck  vom  Kanon  des  IBX  SixÄ  als  besonders  wichtige  Erscheinung, 
ferner  das  Buch  über  Gifte  des  noch  sehr  geschätzten  Peter  vox 
Abaxo,  sowie  den  wertvollen  „Clavis  sanationis"  SiMoxs  des  Ge- 
nuesen   und,    offenbar   wegen   ihrer  praktischen    Nützlichkeit,    zwei 


256  Renaissance  und  Humanismus. 

Badeschriften  des  Casteli,o  und  Gentile,  dazu  endlich  den  viel- 
leicht vorher  schon  einmal  ohne  Jahresangabe  gedruckten  Hippo- 
krateskommentar  Jakobs  von  Forli  (Della  Torre),  der  schon 
60  Jahre  im  Grabe  ruhte,  1474  erschien  eine  zweite  Auflage  des 
Metlinger,   ein    Nachdruck  der  Synonyma   des  Simon   von  Genua 


JjJjAnn  nacb  anfehung  g6tlicbrc 
j/7/vnb  mmrd>lifhrr  oioenung  vnnö 
/  gefdqt  ein  ßetTÜch  vattrr  vnc>  mü- 
tcr  gcbiccbditbcirfo  ircnKin^mbcfuiiejcc 
öic  nocJ)  in  hintiirbcm  alter  vfioer  fibcn  ia 
xtn  feinö/  ö  urcb  ictn  vnfleiT?  vnD  vcrfeimir 
nuf?  ;u  rtccn5Üt>crarit5?iirt£nvnö  5c  bulfe* 
rcbulöigfciiiö/vnöabcc  follicb  vcrfaum» 
nufnü;cpci?ii  aufjvnit^irTtnbcit  bcfcbehn 
magalfo  dasvattccnocb  murer  mtverfre« 
cn  noch  ctfvennc  mic  mc  hifiö  in  gcfunrfcnc 
'^"öi"A^3nrKbcitro  gei^aTftm  w 

gen  €r  tsourb  vfi  lob  gtfagt  fcß/  vno  faner 
vpcrti  mutet  tcr  ii]ng^im>emanf<3ercbc 
boi  als  mä^alt  nach  )rpi  gcbiitt  taufet  ^ier> 
bunDcrf^^D  vn  z>z  {fpLi\'\axi  an  ecm  acbcm 
Den  tag  fant  6n;^2t8  tcB  p3?6ifFfcDtcm. 

Abb.  123.  Anfang  und  Schluß  des  ersten  Druckes  von  Barthol.  Metlingers  „Regiment 
der  jungen  Kinder",  Augsburg  1473. 

und  zum  ersten  Male  die  „Pandekten"  des  Matthaeus  Sylvaticus. 
Von  GUAINERI  (f  1440)  kamen  1473  und  1474  kleinere  Schriften 
heraus,  ferner  ein  Gesundheitsregimen  des  noch  lebenden  Manfredi, 
der  als  latromathematiker  besonders  bekannt  ist  (f  1493).  1475  ging 
hinaus  ein  Neudruck  der  Pandekten  des  Matteo,  des  Giftbuchs 
Peters  und  zum  erstenmal  die  Gifterkennungsschrift  des  Arxald 
von  Villanova.  Von  Peter  von  Abano  wurde  zum  erstenmal 
der  Kommentar  zu  den  Problemen  Pseudo-Aristotelis  in  die  Presse 
gelegt,  desgleichen  der  umfängliche  Tegnikommentar  des  jAKOB 
von  ForU  und  die  Pestschrift  des  Valescus  de  Taranta,  sowie 
zweimal  die  Opera  Mesue,  nach  denen  stärkste  Nachfrage  war,  ein- 
mal sogar  in  italienischer  Sprache.  Auch  das  „Regimen  Salerni" 
kam  in  diesem  Jahre  zum  ersten  Male  datiert  in  die  Presse,  des- 
gleichen die  „Summa  conservationis"  des  Wilhelm  von  Saliceto. 
1476  erschienen  Neudrucke  des  Kanon  AviCENNAE,  des  Conciliator 


Renaissance  und  Humanismus. 


^57 


CONCnJATOR  DIFFBRENTIA 
BVM  PHILOSOPHORN'M  :  ET 
PRAEÜPVE  MEDICORVM  CLA 
RISSIMl  V^RI  PETRI  DE  ABA 
NOPATAVINI  FEUaTERLN^' 
OPIT.     PROLOG  VS. 


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Bva^s  ponwaateK  ibroaoeiadaKa -I  puoia . 
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napw iirfaafaBowia  jcDÜBarmccafKkarrpo/' 
(cäacaiwHiaanaiBobaHO.  CMaadaaoadav 
rar  aacäctiir  Mteau.  pi  Knü  qoidin  t|K  (daiee 
faUlam  faMlu.fcMqaniB>dMuoaiifTqaa<jiip. 
I^ine  anrm  per  iribnoac  Ciqaianba ;  Ol  pkuip 
■ma  ({KÜtenMiiiiia  !»■■  MÜa  <  rdäq^.  4Uw 
ajauJoBitfiFialMai*  aulaaanin  ii  i  aiiiaai  qsün^ 
b»an«jU(saiaB«^«iacsaaau>:MBnbaB 
agtoidaw  i—milvp.  pptw BOitq? laiaalinw»  f in 
laitt  it^ortfai  g<|>Msndat5ifW. lEcdoaqM« 
■w«l9fea«iaa>c;[IJ|Mab»i<ldacio» :  <{M*(UB 
aa  üaa  coubn- ciafardiar:  X  nie  lac  «x  fnac  Bt 
tbeaiianbwhan>ndk3bo.  j^auqaivfi 


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gndixiaiJcaiqaodatäfohtniAilWMufüaaj;. 


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adcarfiS  fcnaji(s:ataaialc:d6aaK : 

ad  teMtaB.fcaoo»lnrfirrfjraBrforai*".-Jar 


,  Biidw<aoat:adi«ot|iritrn»n—flif  yatmts 
'  MidTs»  »<treMr»s  paaaifai  ii* :6of  ticM». 


oaiatdlcaar'iiun— u.fiadfcaai.fiminwin    . 

CtliqBoadailiiMiiHilni'iiTjdpiBBl«idi—r 

tacMMOMfai:! 

lu^Saadfcip 

ncac  ani6(ir  1  «BK  üföM .  ad  «an  kv  « 

Si  Od»  ad  teai  RinBB- ipCar.a 

dc.St  agaai  (laBHBS  ad  «aadia  nfboBTrai  qaa 

ad  d)co3aai:iai  peaniaai:!  Rhqa.>  fiqaidoa  W 

6cMBbc  awA«  cOEwpoCs  adifah  qaifiorai  qa» 

nidaattltiiil— I,  tid  naii  pMaforMfiliKaiaS 

pMiipoitadAM^ariaMK  iihaiiq»  aoMF 


cqaidaB  ÖKfOe  ttcnm  tjf 

(oaermtrtAStataiifami  c>nlii«i«(aUiaWh« 
iMcil  i(M«  uai  baa* .  42.00  Bonfc  phönai  ac  iBcdt 


Abb.  124.  Venetianer  Druck  des  „Conciliator" 
Peters  von  Abano  aus  dem  Jahre  1476  (größtes 
Folio) ;  Textanfang  und  Scblußnotiz.  Man  beachte 
den  reichen  feinen  handgezeichneten  blauen  und 
roten  Initialschmuck  und  die  handgcsehriebenen 
„Rubriken",  ganz  im  Brauch  der  Handschriften- 
Rubrizierung. 


\*im  arfuncfitlilxs  flöatiatnicdiim  in* 
t  w  amm«  <i>u«  dn>  dA  bapob' dt  I  Aa 
><»itiidcdt<iragio<pccnUli»T<yc 
B  Mwaa  II  iaiti  laili  iptfcy»  *  CW 
I  «Mn«  rtddtna>ar.€p«>ial>aan»  inias Jl  mäd 
■cdadordoaMia«  iigdlu  ißramitarmititwä 
KttRlfanriciaKdidwni  fiiA»nlfmtffm6o^ 
mmoUt/inuarmllSmtnaaü.i»^  aluiajyg 
fcnpaaiaKAMac  tttTmaatmi  ■naayfattfA 
Mcempuai. 

q<i^.ajUJm  »IfttlnT  iioJin  /* 


Meyer-Steineg  u.  Sndhoff,  Illustr.  Geschichte   der  Hedizin. 


«7 


258  Renaissance  und  Humanismus. 

Peters  von  Abano,  des  Antidotarius  Nicolai,  der  Augsburger 
„Ordnung  der  Gesundheit"  und  des  „Regiments  der  jungen  Kinder"  von 
Metlinger,  Erstdrucke  eines  AviCENNA-Kommentars  von  Gentile 
sowie  der  Konsilien  des  Cermisone  und  des  Bartolomeo  Mon- 
TAGNANA,  Ein  anderes  Stück  des  AviCENNA-Kommentars  des  Gen- 
TILE  erschien  1477  und  zu  Nürnberg  das  Arzneibuch  des  sogenannten 
„Ortolff  von  Bayerland",  anscheinend  aus  dem  deutschen  „Meister 
Bartholomäus"  entstanden  oder  gar  für  ihn  verlesen.  Der  „Macer 
floridus"  wurde  im  selben  Jahre  zuerst  aufgelegt,  1478  wiederum 
der  Antidotarius  Nicolai,  die  Pandekten  des  Sylvaticus,  der 
Mesue,  während  ein  Pesttraktat  des  SOLDUS,  der  lateinische  Dios- 
KURIDES,  der  Cornelius  Celsus,  die  Chirurgie  des  Guy  und  die 
Anatomie  des  Mondino  zum  ersten  Male  in  die  Presse  kamen,  sowie 
das  Weinbüchlein  des  Arnald  von  Villanova.     Wiederholungen  des 

„Ortolff",  des  Kanon,  des  Mesue 
/-^0MCl  ir   rci  CT  nr  jwurnrrr         ^^^  ^^^  Serapion  brachte  das 

^9^*  r  r «CD  mMri-   Ir^QCM  nächste  Jahr,  samt  Erstdrucken 

NA  LiBERFINIT  FLOBEN  •       t^            ^              tv- 

T-i  Ar-   A  KtTz-i^r  A/-\  1»*  emes  Kommentars  zum  Kanon 

TIAE  ANICOLAO  IM  ,                 t-    i-  j     t^ 

PRESS VS  ANNO  von  Jakob  vonForh,  der  Prac- 

SALVTIS  M        ^^HB  tica    des    Michele    Savona- 

CCCC  L              ^^^B  ROLA  (11462),  eines  Schriftleins 

XX:V              ^^^H  ^^^    Gentile    und,    wie    es 

JII   j^gaBma^^^^m  scheint,   der    „Articella",   einer 

^HHBIBBBBR  Schriftensammlung,     größten- 

AKK  T,r  c  1,1  o  *•  ^  ^  /-,..  „o  A  teils  der  Antike  entnommen, 
Abb.   125.    Scnlußnotiz  der  ersten  Celsus- Aus-  ' 

gäbe,  Florenz  1478.  dieauf  KONSTANTIN  von  Afrika 

zurückgeht  und  auch  jetzt  noch, 
nach  400  Jahren,  das  Bedürfnis  der  Aerzte  nach  dem  geläufigen  Schrift- 
werk aus  dem  Altertum  befriedigen  mußte  und  langsam  anschwellend 
bis  nahe  an  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  befriedigte.  Die  immer 
wiederholte  Fabel,  daß  diese  Schriftensammlung  ein  Verdienst  des 
ausgehenden  15.  Jahrhunderts  oder  wohl  gar  der  nach  antikem 
Schriftgut  verlangenden  Renaissance  und  der  auf  dessen  Befriedigung 
bedachten  Drucker  gewesen  sei,  hat  keinerlei  Wahrheitsgehalt.  Nur 
der  Name  „Articella",  kleine  Kunst,  scheint  aus  dem  15.  Jahrhundert 
zu  stammen ;  die  Sammlung  selbst  läßt  sich  in  zahllosen  Handschriften 
bis  in  das  12.  Jahrhundert  heute  noch  zurück  verfolgen.  Die  latei- 
nischen Uebersetzungen  sind  in  den  ersten  Auflagen  der  Renaissance- 
zeit völlig  unwürdig  und  wurden  erst  ganz  allmählich  durch  bessere 
ersetzt. 

Doch   ich   kann    diese   Aufzählung   nicht   endlos  fortsetzen:    sie 
zeigt  schon,    wie  groß  der  Bedarf  an  überkommenem  scholastischen 


Renaissance  vind  Humanismus.  259 

Literaturgnt  noch  war,  nur  in  dürftigster  Weise  durch  direkte  Ver- 
öffentlichungen zeitgenössischer  Autoren  und  seltenstes  Humanistisches 
unterbrochen ;  auch  der  jetzt  sich  erst  verbreitende  Celsus  war  schon 
seit  mehr  als  iV*  Jahrhunderten  in  engem  Kreise  wieder  bekannt 
gewesen.  Weitere  CELSUS-Drucke  ließen  aber  nicht  auf  sich  w'arten. 
Was  die  nächsten  10  Jahre  brachten,  sind  außer  zahlreichen  Neu- 
drucken des  PLiNros,  des  Canon  und  des  Mesue,  des  Serapion, 
sowie  von  Schriften  des  MoxDixo,  Peter  von  Abano,  Savoxarola 
und  der  „Pandekten"  und  des  „Clavis  sanationis":  Erstdrucke  des 
Liber  mansuricus,  der  kleineren  Schriften  und  des  Continens  des 
Razi,  des  Colliget  AvERROis  und  der  Diaetae  Isaaks,  sowie  des 
„Lilium"  Bernhards  (8mal  bis  1500),  der  Chirurgie  des  Pietro  Di 
Argelata,  der  Pulsschrift  des  Aegidius  und  der  umfangreichen 
Sermones  des  XicCOLÖ  von  Florenz.  Auch  „Macer"  begegnet 
wieder  neben  dem  „Circa  instans"  und  der  Practik  des  Platearius, 
allerhand  Pestschriften,  Schricks  Schrift  über  „  Ausgeprannte  Wässer" 
(schon  seit  1477),  Kräuterbüchern,  „Gart  der  Gesundheit",  einigen 
Konsiliensammlungen  usw.  Von  Galexos  erschien  ein  kleines 
Schriftchen,  von  Hippokrates  nur  das  kleine  Pseudonyme  Büchlein 
über  medizinische  Astrologie,  daneben  das  Kreuterbuch  des  Pseudo- 
Apuleius  und  eine  lateinische  Uebersetzung  der  botanischen  Schrift 
des  Theophrastos  von  Eresos,  gearbeitet  von  Theodor  Gaza 
(f  1478),  als  humanistischem  Vorläufer  1483.  Eine  lateinische  Gesamt- 
ausgabe der  Schriften  des  Hippokrates  erschien  erst  1525,  eine 
griechische  1526,  ein  griechischer  Galexos  in  5  Foliobänden  er- 
schien 1525  in  Venedig;  ein  lateinischer  GalenüS  war  allerdings 
schon  ebenda  1490  in  zwei  Bänden  herausgekommen.  Nur  DlOS- 
KURIDES  war  1499  ^Is  Inkunabel  griechisch  gedruckt,  desgleichen 
Aristoteles  (1495 — 1498),  der  Paulos  lateinisch  1489. 

So  waren  die  Anfänge  der  medizinischen  Fachliteratur  in  Buch- 
druck! Die  ersten  Jahrzehnte  beherrscht  völlig  die  Scholastik,  die 
auch  im  16  Jahrhundert  fast  bis  an  dessen  Ende  in  Neudrucken 
sich  erhält  und  nur  allmählich  völlig  zu  versiegen  begannt.  So  wird 
das  Grabadin  des  Pseudo-Mesue  noch  1582  oder  gar  1623  gedruckt 
Razes  Buch  an  Maxsur  1589,  der  Taisir  des  AVEXZOAR  1574,  der 
Canon  des  IBX  SixÄ  bis  1593,  ja  bis  in  das  17.  Jahrhundert.  Von 
den  Koryphäen  der  Scholastik  erscheint  Matteo  da  Gradi  noch 
1560,  MiCHELE  Savoxarola  noch  1561,  des  Giacomo  de'  Doxdi 
„Aggregator"  noch  1581,  GuiLELMO  Varigxaxa,  Peters  von 
Abano  „Conciliator"  und  JOHNS  Gaddesden  ,3-osa  anglica"  alle 
drei  noch  1595,  Berxhard  GORDOXS  „Lilium"  noch  1617,  das  „Philo- 
nium"   des  Valescus   noch    1599,  ja  in  Auszügen  sogar  noch  1680 

17* 


200 


Renaissance  und  Humanismus. 


und  17 14.  Die  Renaissance  hatte  also  keineswegs  mit  der  Scho- 
lastik völlig  aufgeräumt  und  der  Buchdruck  war  durchaus  nicht  aus- 
schließlich ein  Anbahner  des  P'ortschrittes.  Er  paßte  sich  eng  den 
Bedürfnissen  der  Käufer  an  und  richtete  sich  mit  den  Neudrucken 
nach  deren  Nachfrage,  wie  er  denn  als  geschäftliches  Unternehmen 


Jg>3liem"j^erg3menfi0i16ediconimomnium  T|^:mcipi9  ©pe 
m  Sodv^tcrincbomu  ^tpn'mo  Eibertjelcctisrf  nftrue6 
imrocmcetmos  in  ilfecdidna  quam  feaam'Dcbcant  imitari. 


Oniiui  alt'quod  t^imnartTvifenoflre 


orawnüadmucntacftaremcdidnc'a-anttatcji.opt/ 


fCtadqrfi'pfcqui  aJduri:  voJiicrif.l/  ^iinilimodoa 
Bl.'iyiorc^'bvj  quc  eft  nuicr  oiyni  amu  rubijccnaam 


|/£tplid£libcrgaliemquifomunitcrttimolanirlibar 
fkcah  traa3mumqne5tranft:ulKinagtÜf  r  tiKo<  juöoc 
regio  ocakbm  ad  peiiiioiicni  iTgie  robern. 

.  QucinpH'movoluminccöntincwr  Öalictii  opcra  fC' 

•i>ö«ftt- Bögoftwotwbadif  0  Sacniflimo  unao|i 

l^antrpe. 

Abb.   126.     Textanfang   der   Opera    Galieni,    Venedig  14QO   in  Folio   (mit   großem   hand- 
gemaltem Initialbild)  und  Drucknotiz  am  Schlüsse. 


seinen  Sitz  zunächst  an  den  hauptsächlichsten  Handelsplätzen  auf- 
schlug, in  Venedig,  Augsburg,  Nürnberg,  Köln,  Straßburg,  Basel, 
Leipzig,  erst  in  zweiter  Linie  in  Rom,  Bologna,  Mailand,  Lyon,  Paris 
usf.  Der  lebende  Autor  tritt  lange  gegenüber  den  überkommenen 
Autoritäten  zurück,  naturgemäß:  das  Neue  war  weniger  noch  be- 
gehrt als  das  „bewährte  Alte". 


Renaissance  und  Humanismus.  261 

Für  die  Anbahnung  freierer  Richtung  auch  in  der  Heilkunde 
war  noch  ein  anderer,  von  außen  wirkender  Faktor  von  einschnei- 
dender Bedeutung,  die  Entdeckungsreisen,  die  schon  zu  Ende  des 
13.  Jahrhunderts  mit  dem  Venetianer  Marco  Polo  eingesetzt  hatten, 
der  ganz  Asien  durchzog,  und  zu  Ende  des  15.  und  zu  Anfang 
des  16.  mit  den  Fahrten  des  Batolomeu  Dias  und  des  Vasco  da 
Gaj^ia  nach  Südosten,  sowie  denen  des  COLOMBUS  nach  Westen 
ihre  Krönung  fanden.  Ihre  Ergebnisse  waren  eine  ungeheure  Weitung 
des  Gesichtskreises  und  die  gewaltige  Vermehrung  des  naturwissen- 
schaftlichen Studienmaterials.  Hatte  SiMOX  der  Genuese  für  seine 
botanisch-pharmakologischen  Studien  schon  um  1300  von  den  Handels- 
verbindungen wissenschaftlichen  Vorteil  gezogen  oder  gar  die  grie- 
chischen Naturforscher  des  4.  Jahrhunderts  vor  Chr.  von  dem  Ale- 
xanderzug nach  Indien,  so  wurden  jetzt  in  den  eroberten  Ländern 
des  Ostens  und  des  Westens  noch  ergiebigere  Studien  in  Ruhe  ge- 
macht und  bekannt  gegeben,  wofür  nur  die  Namen  Garcia  d'Orta 
und  GoxzALO  Herxandez  de  Oviedo  y  Valdez  genannt  seien. 
Man  muß  auch  nicht  unterschätzen,  wie  diese  neuen  ungeahnten 
Welten,  von  denen  die  gepriesene  Antike  nichts  gewußt  hatte,  deren 
Autorität  an  der  Wurzel  fraßen. 


Unterdessen  war  an  der  neuen  Beschäftigung  mit  dem  über- 
lieferten antiken  naturwissenschaftlichen  Schriftwerk  nicht  nur  die 
Freude  daran,  sondern  auch  die  Kritik  erwacht.  Nicht  umsonst  war 
die  mühsame  Arbeit  des  Griechen  Theodor  Gaza  an  der  lateinischen 
Uebersetzvmg  der  mangelhaften  ihm  vorliegenden  griechischen  Hand- 
schrift der  beiden  Schriften  des  Theophrastos,  der  Historia  und 
der  Causae  plantarum  gewesen,  bei  der  er  ständig  die  Naturgeschichte 
des  Plinius  mitheranzog,  die  im  ersten  Halbjahrhundert  des  Buch- 
drucks mehr  als  ein  dutzendmal  in  die  Presse  gelegt  war.  Gazas 
Uebersetzung  der  beiden  Schriften  des  Theophrast  war  1483,  wie 
schon  gesagt,  5  Jahre  nach  seinem  Tode  zu  Treviso  gedruckt 
worden.  Rein  philologisch  arbeitend,  säuberte  der  Venetianer  Er- 
MOLAO  Barbaro  (1454— 1493)  den  überlieferten  Text  des  Plixius 
auf  Grund  sorgfältiger  Handschriftenstudien  von  Tausenden  von 
Fehlem;  seine  „Castigationes  Plinianae"  (1492 — 1493)  dringen  kaum 
irgend  in  die  Sache  ein.  Ganz  anders  gleichzeitig  Leoxiceno  !  Ge- 
boren 1428  in  Vicenza  (ge.storben  nach  60-jähriger  Professur  in 
Ferrara  im  Jahre  1524),  ließ  er  seit  1492  „De  Plinii  et  aliorum  in 
medicina  erroribus"  4  Bücher  erscheinen,  deren  zweites  er  dem  Er- 
molao  Barbaro  widmete,  der  aber  indes  gestorben  war.  Zahl- 
reiche Irrtümer  weist  er  darin   nicht  nur  dem  AviCENNA  und  Se- 


262 


Renaissance  und  Humanismus. 


RAPION,  dem  SiMO^  jANUENSis  und  Matthaeus  Sylvaticus, 
sondern  auch  dem  Plinius  selber  nach,  und  zwar  nicht  nur  an  der 
Hand  des  Theophrastos  und  DIOSKURIDES,  die  er  als  Autoritäten 


^  TA  A A 1 0  Ni      \  't-pAr  J I  </> 


Cätnillm 


b  c 

Abb.   127.     a  Galium     und    Storchschnabelarten    aus    dem    Wiener     Cod.    Neapolitanus 
(VII.  Jahrh.)  des  Dioskurides,  b  Mohn  aus  dem  Wiener  Pseudo-APULEIUS  (nach  1200), 
c  Kamille  aus  dem  „Herbarius,  Maguntiae  impressus"  (1484), 


festhält,  sondern  auch  unter  Berufung  auf  eigene  Naturbeobachtung, 
und  das  ist  das  Entscheidende;  darum  steht  Leoniceno  in  der 
Pforte  der  Reform! 


Renaissance  und  Humanismus. 


263 


Auch  Giovanni  Manardi  (1463— 1536),  der  Schüler  und  Nach- 
folger des  XiCCOLÖ  Leoniceno  in  Ferrara,  besaß  einige  Pflanzen- 
kenntnis und  seine  Beschäftigung  mit  den  Arzneipflanzen  des  „Mesue" 
ist  nicht  ohne  einiges  aufklärende  Verdienst.  Aber  langsam  nur 
ließ  man  von  dem  Vorurteil  ab,  daß  die  Alten,  wie  alles  andere 
Wissenswerte,  schon  die  Fülle  des  ganzen  Pflanzenreichs  erschöpft 
hätten,  und  von  dem  Bestreben,  bei  allen  Reisen  und  selbst  bei  den 
Studien  an  der  Pflanzenwelt  Indiens  und  sogar  Amerikas  ausschließ- 
lich die  Pflanzen  der  Alten  wiederzufinden.  (Siehe  die  Entwicklung 
des  Pflanzenbildes  von  der  Spätantike  bis  in  den  Anfang  des  16.  Jahr- 
hunderts, Abb,  127  u.  128.) 


Abb.  128.    Blumenstudien  des  Leonardo  da  Vinxi  (a)  und  Albrecht  Dürer  (b). 

Am  methodischsten  die  ganze  Flora  ihres  Gebietes  unter- 
suchten bei  weitem  und  am  gründlichsten  die  deutschen  Botaniker, 
und  in  Deutschland  entwickelte  sich  auch  mit  der  trefflichsten 
Pflanzenbeschreibung  der  künstlerische  Holzschnitt  nach  der  Natur, 
den  aller  anderen  Länder,  auch  Italiens  und  Frankreichs  übertreffend ; 
die  Niederlande  hatten  daran  vollen  Anteil.  Zu  Begründern  der 
wissenschaftlichen  Botanik  auch  über  die  eigentlichen  Heilpflanzen 
hinaus  wurden  so  die  deutschen  „Väter  der  Botanik",  alles  Aerzte, 
die  hier  nur  dem  Namen  nach  genannt  werden  können:  Otho 
Bruxfels  (t  1534),  musterhaft  in  den  Bildern,  HiEROXVMUS  BoCK 
(1498— 1566),  vortrefflich  in  den  Beschreibungen,  Leoxh.\rd  Fuchs 
(1501  — 1566),  in  den  Bildern  das  Höchste   bietend  und  auch  in  den 


264 


Renaissance  und  Humanismus. 
Lili'um  Conuailis ,  UeKylucftrcLüium, 


DB     LIt/IO      CONVALLIS,      VEC      LI, 

m&i|a^-      Üofylucftri.         Rhapfodia     xxxyi. 


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De  A  s^A  R  o  RliaprodiaOdaua, 
Abb,   129  a  u,  b.  Maiblume  und  Haselwurz  aus  Brunfels,  Herbarum  vivae  eicones  1530. 


Renaissance  und  Humanismiis. 


265 


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Beschreibungen  der  deutschen  Ausgabe  dem  BoCK  kaum  nach- 
stehend, an  Gelehrsamkeit  ihn  übertreffend.  ValeriüS  Cordus 
(15 15 — 1544),  der  Frühvollendete,  leistet  in  seinen  Beschreibungen 
an  Genauigkeit  und  Anschau- 
lichkeit Meisterwerke.  KON- 
RAD  Gesners,  des  univer- 
sellen Naturforschers  und 
Arztes  (15 16—1565),  botani- 
sches Werk  können  wir  fast 
nur  nach  den  sehr  teilweise 
nur  und  spät  erst  veröffent- 
lichten kleinen,  aber  zum  Teil 
vortrefflichen  Abbildungen 
in  seinem  Werke  erraten. 
Unterstützt  durch  einen  erst- 
klassigen Verleger  (Plantin  in 
Antwerpen),  leisteten  die  drei 
befreundeten  Niederländer 
Rembert  Dodoexs  (15 17 — 
1585),  Charles  de  l'Ecluse 
{1526 — 1609)  und  Matth. 
DE  l'Obel  (Lobelius,    1538 

—  1 6 1 6)  jeder  in  seiner  Weise 
Hervorragendes ;  eine  Zu- 
sammenfassung aller  seiner 
Vorgänger  gab  Jaques 
D ALECH AMPS  in  Lyon  (15 13 

—  1588).  Auch  die  Leistung 
des  PlERAXDREA  MaTTIOLI 
(1501  — 1577)  in  seinem  Dio- 
SKURIDES  -  Kommentar  ist 
trotz  mancher  Plecken  an 
Werk  und  Autor  der  Er- 
wähnung würdig. 

In  dieser  botanischen 
Tatsachenforschung  haben 
wir  eine  der  induktiven  Be- 
strebungen der  Renaissance 
zu  sehen,  welche  schließlich, 
wenn  auch  erst  im  17.  Jahr-  ^ 

hundert    bei     weiterer    Aus-    Abb.   130a  u.  b.    Mauerpfeffer  (Sedum)  und  Gauch- 
breitung     der     empirischen  heil  aus  Fuchs,  Historia  stirpium  1542. 


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266 


Renaissance  und  Humanismus. 


Naturforschung,  der  Scholastik,  die  nicht  sterben  wollte,  den  Todes- 
stoß versetzten.  Aber  der  Weg  der  Botaniker  im  i6.  Jahrhundert 
war  durchaus  nicht  der  einzige,  der  jetzt  schon  beschritten  wurde. 
Neue  Krankheiten  zeigten  sich,  wie  man  zu  beobachten 
meinte;  meist  verstand  man  darunter  solche,  die  sich  in  den  Schriften 
der  alten  Aerzte  nicht  finden  ließen,  oder  die  man  längere  Zeit  nicht 
gesehen  hatte,  so  zu  Anfang  der  goer  Jahre  des  15.  Jahrhunderts 
Meningitiden,  Diphtherien  mit  Hautausschlägen  usw.  Einige  Jahre 
später   (1495)    machte   in   Deutschland   und    Oberitalien    die   Syphilis 


Abb.  131a  u.  b.   „Mala  insana"  und  Eberwurz  aus  Konrad  Gesner,  Opera  botanica  1751, 

Tab.  XXI  und  i8. 


viel  von  sich  reden,  die  man  in  Frankreich  schon  länger  und  all- 
gemeiner von  anderen  chronischen  Infektionskrankheiten  zu  scheiden 
sich  gewöhnt  hatte.  Eine  große  Literatur  setzte  ein,  wie  zur  Zeit 
des  „schwarzen  Todes",  aber  durch  den  Buchdruck  bestens  unter- 
stützt und  diesmal  fast  ausschließlich  auf  Deutschland  und  Italien 
beschränkt.  Die  neue  Erkenntnis  ist  seitdem,  dank  diesem  Lite- 
raturstreite nicht  mehr  verloren  gegangen;  sie  hatte  sich  seit  der 
ersten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  anzubahnen  begonnen.  Was  ihr 
aber  jetzt  aus  dem  Humanistenlager  von  Ferrara  entgegengehalten 
wurde,  war  betrüblich  rückschrittlich.  Leoniceno  suchte  die  Lues 
als  eine  bei  Hippokrates  längst  geschilderte  Saisonkrankheit  hin- 
zustellen, während  die  Literatur  des  klassischen  Altertums  wie  die 
des  Islam    kein   Wort    darüber  enthält.     Die  Fabel,   daß    die    neue 


Renaissance  und  Humanismus. 


267 


Krankheit  aus  Amerika  durch  die  Matrosen  des  Kolumbus  einge- 
schleppt sein  könne,  kam  erst  viele  Jahrzehnte  nachher  auf.  Unterdes 
war  eine  in  England  schon  1485  und  1508  als  Seuche  verbreitete 
Krankheit  1529  in  einem  pandemischen  Zuge  durch  einen  großen 
Teil  Europas  geschritten,  der  man  ihre  auffallende  Besonderheit  nicht 
streitig  machte,  die  Schweißsucht,  der  „Sudor  anglicus";  auch  diese 
Krankheit,  die  sich  1551  noch  einmal  in  England  zeigte,  wurde  in 
einer  reichlichen  Literatur  hauptsächlich  in  Deutschland  bearbeitet, 
wo  man  seit  anderthalb  Jahrhunderten  überhaupt  eifrig  am  allge- 
meinen wissenschaftlichen  Leben  sich  zu  beteiligen  begonnen  hatte. 
Die  ganze  Frage  der  Kontagien  und  der  kontagiösen  Erkennungen 
faßte  sodann  1546  grundlegend  zusammen  GiROLAMO  FracastoRO 
(1483 — 1553),  ein  genialer  Yero- 
nese,  der  auch  naturphilosophi- 
schen Fragen  nicht  fernstand. 
Die  Lostrennung  der  Syphilis 
aus  dem  Gewirr  chronischer  In- 
fektionen ist  noch  ein  Verdienst 
der  Scholastik  auf  ihrer  Höhe. 
Die  „Scabies  grossa",  „Variola 
grossa",  „grosse  Veröle"  (noch 
heute)  in  ihrer  prompten  Zu- 
gänghchkeit  für  die  Einreibungs- 
therapie mit  Quecksilbersalbe, 
die  in  wenigen  Wochen  alle  Er- 
scheinungen zum  Schwinden 
brachte,  gab  aber  als  Xachfrucht 
dieser  Beobachtung  des  1 4.  Jahr- 
hunderts, die  sich  allmählich 
durchgesetzt  hatte,  in  den  Tagen 
der  Renaissance  dem  Kran- 
kenhaus sein  wirkliches  Ge- 
sicht. Trotz  der  oben  (S.  155  f.)  angedeuteten  organisatorischen  Fort- 
schritte des  Krankenhauswesens  in  Byzanz  war  im  ganzen  West- 
und  Südeuropa  das  Hospital  ausschließlich  Unterkunftshaus,  Ver- 
sorgungshaus, Pflegehaus  und  in  besonderen  Sparten  (Leprosenhaus, 
Antoniterhaus,  Pesthaus,  schließlich  auch  Epileptikerheim)  ein  Ab- 
sonderungshaus gewesen.  Das  Blatternhaus,  in  dem  man  die  mit 
der  Lues  Behafteten  zunächst  unterbrachte  und  dann  sofort  der  mit 
der  Syphiliskenntnis  gleichzeitig  dahergewanderten  Schmierkur  unter- 
warf, führte  in  einigen  Jahrzehnten  eine  völlige  Umänderung  des 
Krankenhauses  herbei.  Aus  der  Pflegestätte  ward  es  zur  Behand- 
lungsstätte, zur  Heilstätte,  seit  man  auch  chronische  Krankheiten  dort 


Abb.    131.      GlROLAMO_  FRACASTORO. 


268 


Renaissance  und  Humanismus. 


der  Besserung,  ja  Heilung  zuzuführen  gelernt  hatte.  Die  Hospitäler 
erhielten  ihre  angestellten  Aerzte,  nachweislich  zuerst  in  Straßburg 
(1500),  Leipzig  (15 17,  durch  Stiftung  eines  Arztes)  und  im  Hotel  Dieu 
zu  Paris  (1536). 


Das  philosophische  Denken  hatte  sich  mit  der  steigenden 
Abneigung  gegen  die  Scholastik  und  ihren  unerträglich  gewordenen 
Formelkram  auch  von  dem  großen  Aristoteles  abzuwenden  be- 
gonnen; auch  er  wurde  mit  Widerwillen  behandelt  und  mit  Spott 
Übergossen.  Alles,  was  zum  Humanismus  hielt,  schwur  auf  Plato, 
der  im  Mittelalter  nie  ganz  vergessen  war  und  bei  den  Natur- 
forschern um  seiner  mathematischen  Orientierung  willen  neben 
Aristoteles  in  Hochschätzung  geblieben  und  jetzt  wieder  um 
seiner  ästhetischen  und  das  All  umfassenden  Naturbetrachtung  willen 

gar  sehr  willkommen  war.  Alles 
Platonische  blieb  ja  zunächst 
noch  lange  stark  „neuplatonisch" 
gefärbt,  zumal  bei  der  platoni- 
schen Akademie  in  Plorenz,  an 
deren  Spitze  ein  Arzt  stand.  Es 
war  Marsilio  Ficmo  (1453 
— 1499),  der  Freund  des  huma- 
nistischen Arztes  Antonio 
Benivieni  (t  1502),  der  in 
seinem  Werk  „De  abditis  mor- 
borum  causis",  das  aber  auch 
Symptome,  Diagnose  und  Thera- 
pie abhandelt,  Ergebnisse  von 
20  Autopsien  einflicht,  also  auf 
dem  Wege  eigener  Beobachtung 
und  Nachprüfung  des  Ueber- 
lieferten  ist.  Marsilio  nennt  den  Galenos  und  den  Plato  als 
seine  Leitsterne,  hat  aber  dem  letzteren  eifriger  gedient,  indem  er 
alle  seine  Schriften  neu  übersetzte,  daneben  Einzelnes  der  Neu- 
platoniker  Plotin  und  Jamblichos,  sowie  den  Pseudo-DiONYSiOS 
Areopagita.  In  der  Medizin  sind  nur  eine  weit  verbreitete  Pest- 
schrift und  eine  Schrift  „De  triplici  vita"  von  FiCiNO  zu  nennen, 
deren  letztere  im  ersten  Buche  sich  mit  der  Lebenshaltung  der  Ge- 
lehrten, im  zweiten  mit  der  Lebensverlängerung  beschäftigt,  im 
dritten,  das  vom  Jahre  1489  datiert  ist  und  an  Plotin  sich  anlehnt 
(„De  vita  coelitus  comparanda"),  eine  astral  gerichtete,  stark  mystische 
Medizin  lehrt  unter  Berufung  auch  auf  Galenos  und  Hippokrates, 


Abb.  133.    Marsilio  Ficino. 


Renaissance  und  Humanismus. 


269 


während  FiciXO  sonst  scharf  gegen  die  Lügen  der  Astrologen  auf- 
tritt und  eng  mit  dem  Grafen  GiOVAXNl  Pico  DELLA  Miraxdola 
befreundet  war.  Das  Büchlein  über  das  „himmelwärts  einzurichtende 
Leben"  hätte  dem  bald  60-jährigen  Marsilio  fast  einen  Prozeß 
der  Kurie  wegen  Zauberei  eingetragen.  Unterdessen  war  Pico 
daran  (1462 — 1494),  seine  „Disputationes  adversus  astrologos"  fertigzu- 
stellen, ein  großes  Werk  von  12  Büchern,  das  mit  reicher  Kenntnis 
der  Literatur  und  glänzender  Dialektik  auf  der  ganzen  Linie  der 
astrologischen  Lehre  zuleibe  ging  (erschienen  1495),  aber  doch  nur 
geringen  Erfolg  hatte,  trotzdem  der  Fanatiker  GiROLAMO  Savoxa- 
ROLA  (verbrannt  1498)  in  einem  kleinen  Auszug  der  12  Bücher  dafür 
eingetreten  war.  Schon  nach  wenig  Jahren  erhob  auch  die  latro- 
mathematik  wieder  schriftstellerisch  ihr  Haupt,  ja  noch  in  den  Jahren 
1562  und  1563  ist  an  der  gleichen  Universität,  an  der  Leoxhard 
Fuchs  wirkte,  den  wir  als  Beförderer  wissenschaftlicher  Botanik 
kennen  gelernt  haben,  Samuel  Siderokrates  in  feierlicher  Rede 
am  Festtage  der  medizinischen  Fakultät  für  die  iatromathematische 
Irrlehre  in  die  Schranken  getreten.     So  zäh  saß  die  alte  Doktrin. 


Leoxhard  Fuchs  war  übrigens  einer  der  heftigsten  Streiter 
für  den  allmählich  sich  durchsetzenden  Neogalenismus,  den  auch 
Beniviexi  in  Florenz  verfocht  und  der  seine  Hauptaufgabe  zu- 
nächst darin  sah,  die  Autorität  des 
Avicexxa,  des  getreuesten  Inter- 
preten des  Galenismus  bei  den 
Arabern,  zu  stürzen,  wozu  Fuchs 
1530  und  1533  in  scharfen  Pole- 
miken in  die  Schranken  getreten 
war.  Sein  literarisches  Verdienst 
beruht  im  übrigen  auf  Bear- 
beitungen des  HiPPOKRATES,  des 
Galexos  und  des  Nikolaos 
Myrepsos.  Auch  mit  dem  als 
philologischem  Mediziner  weit  be- 
deutenderen Jaxus  Cornarius 
(Joh.  Hayxpul  aus  Zwickau,  1500 
— 1558)  ist  Fuchs  damals  in  lite- 
rarische Fehde  geraten ;  auf  Hayx- 

PULS  mustergültige  lateinische  Uebersetzung  des  AfiTios  aus  den  Hand- 
schriften, um  nur  eine  seiner  Arbeiten  zu  nennen,  sind  wir  heute  noch 
angewiesen,  wo  der  griechische  Urtext  noch  nicht  gedruckt  ist. 

Zum    Kampfe  gegen   AviCENXA   hat    in    den   30er  Jahren   des 
16.  Jahrhunderts  auch  die  „neue"  Florentiner  Akademie  aufgerufen, 


Abb.  134.    Leonhard  Fuchs. 


270  Renaissance  und  Humanismus. 

die  sich,  im  Gegensatz  zur  „Platonischen"  des  Cosimo  Medici  und 
FiCiNO  zu  Ausgang  des  1,5,  Jahrhunderts,  die  ,, Galenische  Akademie" 
benannte.  Freilich  die  Position  der  arabischen  Medizin  war  nicht 
mehr  die  beste.  Wohl  war  noch  der  „Avicennista  insignis",  wie  ihn 
ein  südfranzösischer  Bibliograph  benannte,  Lorenz  Fries  von 
Kolmar,  1530  mit  einer  „Defensio  Avicennae"  hervorgetreten;  man 
war  also  schon  in  die  Verteidigung  gedrängt,  und  scharf  hallt  es 
aus  Florenz  1533  „gegen  Avicenna  und  die  neueren  Aerzte,  welche 
mit  Vernachlässigung  der  Lehre  des  Galenos  die  Barbaren  pflegen". 
Im  Streite  lassen  die  Florentiner  Aerzte  den  Benivieni  als  Mit- 
kämpfer aus  dem  Grabe  erstehen.  Im  Grunde  ist  das  Ganze  nur 
ein  Wechseln  der  Autoritäten,  denen  man  auf  beiden  Seiten  mit 
Inbrunst  anhing,  wie  denn  die  philologische  Richtung  auch  für  die 
arabischen  Aerzte  nicht  ohne  Nutzen  geblieben  war;  GiROLAMO 
Ramusio,  ein  venetianischer  Arzt  (f  i486  in  Damask),  und  Andrea 
Alpago  aus  Belluno  (f  nach  1554  als  Professor  in  Padua)  haben 
sich  um  die  Neu-Uebersetzung  des  IBN  SiNA  aus  dem  Arabischen 
bemüht. 

Einen  seiner  60  „Errata"  hatte  Fuchs  1530  einer  Frage  gewidmet, 
die  aufs  engste  mit  dem  Kampfe  „pro  et  contra  Avicennam"  zu- 
sammenhing, dem  15 14  in  Paris  entbrannten  Aderlaßstreit.  Der  ihn 
entfachte,  Pierre  Brissot  (1478 — 1522),  hatte  aus  Paris  weichen 
müssen,  weil  er  es  gewagt  hatte,  gegen  den  tropfenweisen  Aderlaß 
am  entgegengesetzten  Fuße  bei  Pleuropneumonie  (revulsio)  zum 
„derivierenden"  Aderlaß  am  gleichen  Arm  zurückzukehren,  den 
HiPPOKRATES  gelehrt  hatte.  Entscheidend  war,  daß  er  als  Beweis 
die  Erfahrung  am  Krankenbette  betont  hatte,  wenn  auch 
sein  posthumes  Schriftchen  (1525),  die  „Apologetica  disceptatio",  rein 
dialektisch  zu  Werke  geht.  FuCHS  entschied  sich  natürlich  für 
Brissot  als  HiPPOKRAXES-Anhänger  und  setzte  dem  Frühverstor- 
benen ein  Denkmal  am  Schlüsse  seiner  Ausführungen.  Aber  der 
Streit  tobte  noch  viele  Jahrzehnte  weiter;  man  versuchte  sogar,  die 
kaiserliche  Regierung  zur  Entscheidung  gegen  die  Neuerer  zu  be- 
wegen. 

Geht  man  einem  der  Autoren,  die  in  den  Streit  um  AviCENNA 
heftig  auf  Galens  Seite  treten,  näher  aufs  Leder  und  sieht  sich 
dessen  eigenes  Schriftwerk  in  einigem  Umfange  näher  an,  z.  B. 
dem  vielschreibenden,  in  Montpellier  gebildeten  Praktiker  in  Lyon, 
Symphorien  Champier  (1472 — 1540),  der  gegen  Fries  mit  einer 
kleinen  „Epistola  responsiva  pro  Graecorum  defensione  in  Arabum 
errata"  (Lyon  1533)  hervorgetreten  war  und  auch  eine  „Apologia  in 
Academiam  novam  Hetruscorum  contra  Avicennam  et  Mesuen"  ge- 


Renaissance  und  Humanismus.  271 

schrieben  hatte,  so  findet  man  zwar  Castigationes  s.  emendationes 
des  AIesue,  Serapiox,  Razi,  Abulqäsim,  Xicolaus,  selbst  Peter 
von  Abano,  im  übrigen  aber  das  alte  scholastische  Hantieren  mit 
Qualitäten,  Komplexionen  usw.,  in  der  Therapie  das  Altüberkom- 
mene und  den  Autoritätenstreit,  gemildert  bei  ihm  durch  das  Be- 
dürfnis, heimische  Drogen  in  den  Vordergrund  zu  schieben.  Hat 
doch  erst  der  als  physiologischer  Denker  in  manchem  so  fortschritt- 
liche Entdecker  des  kleinen  Kreislaufs,  Michael  Sera'ET,  über  die 
Sirupe,  diese  spezifisch  arabische  Arzneiverordnungsform,  1537  ge- 
sündere Ansichten  aufgestellt  und  die  „Kochung  der  Kardinalsäfte" 
als  Heilungsvorgang  im  Organismus  einer  besonnenen  Kritik  zu 
unterziehen  begonnen,  die  allerdings  weite  Verbreitung  fand.  Servet 
(s,  u.)  war  übrigens  durch  Champier  in  die  Medizin  eingeführt 
worden  und  hatte  diesen  seinen  Lehrer  gegen  FuCHS'  Angriffe  ge- 
wandt verteidigt. 

In  diese  Atmosphäre  des  Kampfes  für  Galenos  gegen  Avi- 
CENXA  und  des  Aderlaßstreites  platzte  nun  der  Baseler  Reform- 
versuch HoHENHEiMs  hinein,  von  einem  der  größten  Aerzte  aller 
Zeiten  großzügig  und  mit  Ungestüm  unternommen,  dem  aber  schon 
dadurch  die  Spitze  abgebrochen  wurde,  daß  er  in  Basel  selbst 
vor  Jahresfrist  zum  Ende  kam  und  daß  nur  ein  ganz  kleiner  Teil 
seiner  reformatorischen  Schriften,  trotz  aller  Bemühungen  des  Ver- 
fassers, in  Druck  gebracht  werden  konnte,  zwei  Syphilisschriften  und 
eine  allgemeine  Chirurgie. 


Die  großen  Reformbestrebungen  des  i6.  Jahr- 
hunderts. 

Zu  Einsiedeln  in  der  Schweiz  als  Sohn  eines  schwäbischen 
Adeligen,  des  Arztes  Wilhelm  Bombast  von  Hohenheim,  und 
einer  Schweizerin  gegen  Ende  des  Jahres  1493  geboren,  hat  Theo- 
PHRASTUS  früh  den  Unterricht  des  Vaters  genossen,  der  im  Wall- 
fahrtsort Einsiedeln  an  der  Sihlbrücke  praktiziert  hatte  und  1502, 
nach  dem  Tode  der  Gattin,  die  ihm  diesen  einzigen  Sohn  geschenkt 
hatte,  nach  Villach  in  Kärnten  übersiedelte,  wo  er  1534  verstorben 
ist.  Dort  soll  der  Vater,  dem  auch  Kenntnisse  in  der  Scheidekunst 
nachgerühmt  werden,  neben  seiner  Praxis  auch  Unterricht  an  der 
Bergschule  erteilt  haben,  was  aber  ungewiß  ist;  jedenfalls  war  er 
Lizentiat  der  Medizin,  und  es  steht  zu  vermuten,  daß  er  diesen  aka- 
demischen Grad,  er  war  1457  geboren,  etwa  1480  in  Ferrara  er- 
rungen hat,  als  NicOLÖ  Leoniceno  in  seinen  besten  Jahren  dort 
wirkte  und  noch  an  den  „Irrtümern  des  Plinius  und  anderer" 
arbeitete.  Als  sie  im  Druck  ihren  Weg  gingen  und  den  Vicentiner 
mit  einem  Schlage  zum  berühmtesten  Arzte  Italiens  machten,  wurde 
der  Sohn  Theophrast  geboren,  dem  der  Vater  nach  dem  Eresier 
den  Namen  gab,  dessen  Pflanzenbücher  sein  Ferrareser  Lehrer 
Theodor  Gaza  (1476  und  1477)  gerade  zum  ersten  Male  ins  Latei- 
nische übersetzt  hatte;  die  Uebersetzung  war,  wie  oben  gesagt,  1483 
zu  Treviso  erschienen.  Den  Sohn  Theophrastus  schickte  Wilhelm 
bestimmt  nach  Ferrara,  wo  er  sich  etwa  15 15  oder  kurz  nachher 
den  Doktortitel  erwarb. 

Freilich  das  Feuer  des  Leoniceno  (hoch  in  den  80)  war  in- 
dessen erloschen,  und  GiOVANNi  Manardi,  der  teilweisen  Ersatz 
bot  in  freier  Denkweise,  ging  15 13  auf  12  Jahre  als  Leibarzt  zu 
König  Ladislaus  von  Ungarn.  Eifrig  nahm  Theophrast  in  Ferrara 
und  wohl  auch  an  den  nahen  Hochschulen  zu  Padua  und  Bologna 
auf,  was  dort  sich  bot,  wenn  auch  nur  das  „löbliche  Gewölb"  der 
Anatomie  zu  Ferrara  des  öfteren  von  ihm  erwähnt  wird.  Was  also 
dort  anatomisch  zu  lernen  war,  hat  er  sicher  mit  Begierde  in  sich 
aufgenommen.  Doch  Ferrara  zehrte  damals  im-  wesentlichen  an  ver- 
gangenem Ruhme,  für  den  jungen,  beweglichen  Feuerkopf  kaum 
ein  erwünschter  Zustand.   An  den  Disputationen  und  sonstigem  Hoch- 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts.  273 

schulkram  damaliger  Zeit  nahm  er  redlich  teil  und  berichtet  ge- 
legentlich, daß  er  in  diesen  Gärten,  darin  er  aufgewachsen,  keine 
kleine  Zier  gewesen  sei,  also  einiges  Renommee  genoß.  Dort  nahm 
er  wohl  auch,  als  Gräco- Latinisierung  seines  Familiennamens  von 
Hohenheim,  die  Gelehrtenbenennung  „Paracelsus"  an,  die  er  in 
Bücherbenennungen,  wie  „Paramirum",  „Paragranum"  später  weiter- 
spann. Hochschulen,  die  Hohexheim  sonst  noch  besuchte,  sind 
einstweilen  nicht  nachzuweisen ;  er  spricht  wohl  von  langjährigem 
Hochschulstudium  in  Deutschland  und  Frankreich,  also  außerhalb 
Italiens,  wo  er  weit  herumgekommen  ist  bis  nach  Rom.  Später 
zog  es  ihn  nach  Montpellier,  Granada,  Lissabon  und  Paris.  Doch 
das  gehört  schon  zu  seinen  großen  Reisen,  die  ihn  auch  nach  Eng- 
land, Stockholm,  Rußland,  Polen,  Siebenbürgen  und  über  Ungarn 
und  die  Slowakei  heimwärts  gebracht  haben,  bis  er  sich  1524/25 
zum  ersten  ^lale  in  Salzburg  niederließ. 

Ehe  er  aber  auf  die  großen  Wanderungen  ging,  hat  er  sich 
von  der  Hochschulweisheit  abgewendet,  deren  Hohlheit  ihm  klar 
geworden  war,  deren  gelehrtes  Griechenw^erk  ihm  keinen  Ersatz  bot 
für  den  in  Ferrara  schon  abgetanen  Arabismus.  In  der  Jugend 
schon,  beim  Vater,  war  er  nicht  nur  im  Anschluß  an  DiOSKURiDES 
und  Theophrastos  in  die  Heilpflanzenwelt  der  Berge  eingeführt 
worden,  sondern  auch  in  die  Geheimnisse  der  Schmelzhütten  und 
alchimistischen  Werkstätten,  die  er  auch  anderwärts  in  den  Hoch- 
gebirgstälern mitarbeitend  besucht  hatte.  Das  so  errungene  scheide- 
kundige Wissen  hat  er  später  nicht  nur  für  die  Bereitung  wirk- 
samer Eisen-,  Kupfer-,  Antimon-  und  Quecksilberpräparate  verwendet, 
sondern  auch  bald  schon  als  Grundlage  für  organische  Vorgänge 
und  zu  der  Erschließung  ihres  Verständnisses  zu  gebrauchen  be- 
gonnen, als  ihm  gelungen  war,  sich  von  der  Haltlosigkeit  der  Vier- 
säftelehre zu  überzeugen,  als  er  sich  frei  gemacht  hatte  von  dem 
Grundirrtum  zweier  Jahrtausende,  mit  dessen  Hirngespinnsten  man, 
wie  mit  ewigen  Grundwahrheiten,  alles  organische  Geschehen  in  ge- 
sunden und  kranken  Tagen  spielend  zu  erklären  sich  vermessen 
hatte.  Wohl  waren  ja  in  Griechenzeiten  der  Stimmen  schon  gar 
manche  gewesen,  welche  energisch  gegen  diesen  Teil  der  Hippo- 
kratischen  Lehre  Einspruch  erhoben,  aber  unter  dem  Einfluß  des 
Galexos  waren  sie  alle  zum  Schweigen  gekommen.  In  Avicennis- 
mus  wie  Galenismus  herrschte  diese  Humoralpathologie  und  -physio- 
logie  seit  Jahrhunderten  unumschränkt  als  sakrosanktes  ärztliches 
Universalevangelium,  Daß  er  die  Hohlheit  dieses  uralten  Irrtums 
völlig  klar  durchschaut  hat,  daß  von  Schleim,  gelber  und  schwarzer 
Galle  im  Blute  und  anderen  Körpersäften  überhaupt  keine  Rede 
sein    könnte,    daß   man   da   völlig  mit  Schemen   hantierte  statt  mit 

Mej-er-Steincg  u.  Sadhof  f,  Illustr.  Geschiebte  der  Medixin.  lg 


274  ^^^  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 

Wirklichkeiten,  das  ist  seine  erste  große  Geistestat,  die  ihn  unsterb- 
hch  macht  als  einen  der  größten  Wahrheitskünder  für  alle  Zeiten. 
Diese  einfache  klare  Wahrheit,  die  ihm  als  feste  Erkenntnis  aufge- 
gangen war,  gibt  ihm  für  sein  ganzes  ferneres  Tun  und  Lassen  die 
große  Ueberlegenheit,  die  sichere  reformatorische  Geste:  „Ihr  mir 
nach,  ich  nicht  Euch  nach !"  —  „Mein  ist  die  Monarhei !"  wenn  nicht 
jetzt,  so  doch  später  und  für  immer!  — 

Wann    ihm   diese   Wahrheit   aufgegangen   ist?    Wohl   schon   in 
Italien,    wo    für    Zweifel    und    neue    Erkenntnisse    immer    noch    am 
ehesten   der   Boden   war.     Damit   ergab    sich   für   ihn   die   Aufgabe 
eines  Neubaues   der   gesamten  Medizin   von  Grund   auf,   und    er   ist 
daran  gegangen  mit  Sturm  und  Drang  und  Glauben  an  sich  selbst, 
der  ihm   freilich   auch   manchmal   zu   schwinden  drohte,   daß  er  ab- 
lassen wollte  von  der  als  notwendig  erkannten  Mission;  doch  immer 
fand  er  sein  Ziel  wieder  und  sich  selbst,  wne  hart  auch  oft  die  Zeiten 
waren  in  bitterer  Vereinsamung.     Zunächst  aber  galt  es,  neues  Tat- 
sachen- und  neues  Beobachtungsmaterial  zu  sammeln  in  Massen,  an- 
zuknüpfen an  alles,   was   an  Erfahrungen  außerhalb   der  Schulzäune 
errungen   war,   und   dazu   ging  er  auf  die  Wanderung,   keine  Infor- 
mationsquelle  induktiver  Belehrung  verschmähend.     Denn  alles  war 
in   Frage    gestellt;   da   mußte   ganze   Neuarbeit   von  Grund   auf  ge- 
leistet  werden,   „in    allen  Enden  und  Orten  fleißig  und  emsig  nach- 
gefragt und  Erforschung  gehabt";  und  nachdem  nicht  allein  bei  den 
Doktoren,  sondern  auch  bei  den  Scherern  und  Badern,  bei  gelehrten 
Aerzten,  Weibern  usw.,  bei  Gescheiten  und  Einfältigen  alles  erforscht 
war,   mußte  selbst   Hand   angelegt   und   nachgedacht   werden.     Das 
war  Arbeit   vieler  Jahre,   ehe   die   ersten   Erfolge   reiften;   zunächst 
wurden  die  ersten  neuen  Grunderfahrungen  auf  chemischem  Gebiete 
lebendig  erhalten  und  weiter  ausgebaut.    Doch  ganz  so  einfach,  nur 
von    chemischer  Arbeit  und  deren  Ergebnissen,   aus  Beobachtungen 
auf  den  Wanderungen  in  der  freien  Natur,  offenen  Sinnes  und  aller 
Voreingenommenheit    bar,    lassen    sich    die    HOHENHEiMschen    Ge- 
dankengänge  doch   nicht   herleiten,   nachdem    es  wie  Schuppen  von 
seinen  Augen  gefallen  war  und  er  nun  die  Hohlheit  der  Qualitäten- 
lehre und   Säftelehre   durchschaute.     Auf   eine   so    einfache   Formel 
läßt    sich    die    geistige  Wandlung,    die    in    ihm   vorgegangen,    doch 
nicht   zurückführen.     Hdhenheim   war   nicht   ungestraft   viele  Jahre 
in    den   Säulenhallen    der    italienischen   Renaissance    gewesen.      Das 
philosophische  Gedankenwerk   seiner  Zeit  hatte  dort  im  Süden  auch 
ihn  umspönnen  und  nur  zu  lebhaften  Anklang  in  seinem  spintisieren- 
den Schwabenkopfe  geweckt.   Lebhaft  hatte  er  gegen  Aristoteles 
und  für  Plato  Partei  ergriffen,  mit  unzähHgen  anderen.     Der  Neu- 
platonismus   im  Sinne   des   Marsilio  Ficino,   den    er    wohl   einmal 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts.  275 

den  größten  Arzt  Italiens  nannte,  sprach  ihn  besonders  an.  Die 
weltumspannenden  Gedanken  vom  Makrokosmos  und  Mikrokosmos 
wurden  nachgedacht;  Kreislauf  des  Stoffes,  Unzerstörbarkeit  der 
Materie  tauchten  in  seiner  Gedankenwelt  auf;  das  Wesen  des  Lebens 
sucht  er  zu  erfassen  und  personifiziert  es  im  Archäus,  der  die  ge- 
samten Lebensvorgänge  leitet;  weit  in  die  Gebiete  der  Mystik  dringt 
sein  Denken  vor.  Und  doch  bleibt  ihm  Leitstern  die  methodische 
Induktion. 

Die  ältesten  Ausarbeitungen,  die  wir  von  Hohenheim  besitzen, 
sind  der  große  Wurf  einer  allgemeinen  Krankheitsätiologie,  einzelne 
Abschnitte  einer  völlig  neu  gruppierten  Pathologie  und  Therapie, 
deutsche  Bäderstudien,  wie  sie  sich  ihm  beim  erneuten  Durchwandern 
Süddeutschlands  ergaben,  und  eine  Zusammenfassung  der  Grundsätze 
chemischer  Arzneibereitung  und  -anwendung.  Der  Zulauf  der  Schüler 
und  Kranken  wurde  groß,  schon  ehe  er  sich  1526  in  Straßburg 
niederließ,  von  wo  er  im  PYühjahr  1527  nach  Basel  als  Stadtarzt, 
mit  dem  Recht,  Vorlesungen  zu  halten,  vom  Rat  der  Stadt  berufen 
wurde.  Zu  dem  Bestreben,  das  Beobachtete,  Erarbeitete  und  durch 
Nachdenken  Errungene  aufzuzeichnen  und  klarzulegen,  kamen  nun 
die  Ausarbeitungen  für  die  Vorlesungen.  Am  5.  Juni  1527  eröffnete 
er  seine  Vorträge  mit  einem  feierlichen  Programm,  das  er  gedruckt 
in  die  Welt  gehen  ließ: 

Nur  wenige  üben  heute  mit  Glück  die  Heilkunst.  Andere  wollen 
sie  von  der  Trübung  durch  die  Barbaren,  wie  von  schweren  Irrtümern 
säubern,  nicht  nach  den  Vorschriften  der  Alten,  sondern  der  Natur 
selbst.  Zu  ängstlich  hat  man  sich  an  die  Worte  des  Hippokrates, 
Galenos  und  Avicenna  wie  an  Orakel  geklammert.  Nicht  der 
Schmuck  von  Titeln,  Beredsamkeit,  Sprachkenntnis  und  Bücherstudium, 
sondern  die  Erkennung  der  Naturgeheimnisse  machen  den  Arzt.  In 
zwei  Stunden  täglich  werde  er  praktische  und  theoretische  Medizin 
nach  eigenen  Ausarbeitungen  lesen,  die  nicht  aus  Hippokrates  oder 
Galenos  zusammengebettelt  sind,  sondern  von  der  höchsten  Lehr- 
meisterin, der  eigenen  Erfahrung  und  Handanlegung  entnommen ! 
Sind  Beweise  von  nöten,  sollen  E.\perimente  und  Ueberlegung,  nicht 
Autoritäten  herangezogen  werden :  „Summa  doctrix  experientia"  — 
„experimenta  ac  ratio  auctorum  loco  mihi  suffragantur!"  Auf  Kom- 
plexionen und  Humores  wird  kein  Bezug  genommen  werden,  die,  als 
Ursache  aller  Krankheiten  angenommen,  für  das  Verständnis  dieser 
Krankheiten,  ihrer  Ursachen  und  ihres  kritischen  Verlaufs  so  hinder- 
lich sich  gezeigt  haben. 

Diesen  reformatorischen  Grundsätzen  folgend,  hat  er  in  Basel 
zwei  Semester  gelesen  über  Grade  und  Zusammensetzung  der  Arz- 
neien, über  deren  Bereitung,  kurze  Lehrsätze  über  die  gesamte 
Pathologie  und  Behandlung  innerer  Krankheiten,  zu  denen  münd- 
liche  Erklärungen    gegeben   wurden,   ein   ausführliches  Kolleg   über 

18* 


276 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   16.  Jahrhunderts. 


..tartarische"  Erkrankungen,  über  Abführkuren  und  Aderlaß,  über 
Harn  und  Puls,  über  die  Aphorismen  des  Hippokrates  und  die 
Arzneipflanzen  des  Macer  (die  letzten  vier  Vorlesungen  während 
der  Sommerferien)  und  über  Verletzungen  und  chirurgische  Erkran- 
kungen. Er  führte  seine  Schüler  ans  Krankenbett  und  zu  botanischer 
Schau  hinaus  in  Flur  und  Hügel.  Nebenher  wurden  die  Bücher 
von  der  Lebensverlängerung  ausgearbeitet,  zu  denen  wohl  das  zweite 
Buch  des  FiCiNO  Veranlassung  gegeben  hatte.  Auch  die  Aus- 
arbeitungen über  allgemeine  Wund-  und  Geschwürsbehandlung  und 
über  Syphilistherapie  begannen  schon  in  Basel  und  wurden  in  Kolmar 
fortgesetzt,  nachdem  die  von  Anfang  an  unklaren  Verhältnisse  in 
der  Universitätsstadt  am  Oberrhein  schließlich  zum  Bruche  ge- 
führt hatten. 

Keine  Schrift  konnte  in  Basel  zum  Druck  gebracht  werden  (der 
Buchhändler  Froben,  bei  dem  er  hoch  in  Achtung  stand,  war  plötz- 
lich gestorben)  und  auch  in  Kolmar,  wo  er  das  Werk  über  allge- 
meine Chirurgie  im  ersten  Entwurf,  die  allgemeine  Geschwürsbehand- 
lung und  seine  erste  große  Syphilisschrift  in  der  Ausarbeitung  ab- 
schloß, scheiterte  der  Publikationsversuch.  Er  gelang  erst  in  Nürnberg 
1529,    wo   ein    Streitschriftchen    gegen   die  Guajak-Kuren    und    die 

polemischen  drei  Bücher 
über  die  fehlerhafte  Syphi- 
lisbehandlung seiner  Tage 
und  deren  Verbesserung 
erschienen  und  sofort  in 
Köln  1530  nachgedruckt 
wurden.  Weitere  Nürn- 
berger Drucklegungen,  so 
seines  großen  Werkes  über 
Ursprung  und  Herkom- 
men der  Lustseuche  und 
eines  therapeutischen  Leit- 
fadens, genannt  das  Spit- 
talbuch,  verhinderte  das 
Einschreiten  der  Leipziger 
Medizinischen  Fakultät, 
dem  der  Rat  von  Nürn- 
berg leider  Folge  gab. 

Nach  Abschluß  der 
Werke  über  die  Lues  ging 
HOHENHEIM  an  die  Aus- 
arbeitung programmati- 
scher Schriften  über   die 


AtirRjVÄ  vioi/i  srr  *  qyi  s\/vs  esse  potest 


^/ft/RJEQU  ^THEÖPHRASTI  ^  MS  ^HOHLSli^  t 


Abb,  135,     Theophrastus  von  Hohenheim,  genannt 
Paracelsus,  im  45.  Lebensjahre. 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 


277 


allgemeinen  Grundlagen  der  Heilkunst  in  allgemeiner  Naturwissen- 
schaft (Physik),  Astronomie,  Chemie  und  Ethik  (Paragranum),  sodann 
an  die  allgemeine  Krankheitsätiologie  (Paramirum),  wobei  auch  die 
Entstehung  der  tartarischen  Erkrankungen,  d.  h.  von  Ausscheidungen 
und  Niederschlägen  aus  der  Säftemasse  und  anderen  Flüssigkeiten 
(gichtige,  atheromatöse,  Konkrement-Bildungen  usw.)  unter  der  Ein- 
wirkung von  Säuren  nochmals  ausführlich  abgehandelt  wurden  im 
großen  Zusammenhange  anderer  ätiologischer  Faktoren.  Schwere 
religionspolitische  Wirren  in  St.  Gallen  und  Appenzell,  in  welche  er  mit- 
verwickelt wurde,  brachten  ihn  dazu,  seine  eigenen  religiösen  Anschau- 
ungen in  mehrjähriger  weltferner  Arbeit  zu  Papier  zu  bringen.  Er 
scheint  die  altvertrauten 
Schmelzhütten  in  Schwatz  *^ 
(Inntal)  wieder  aufgesucht 
zu  haben  und  damals  sein 
Buch  über  die  krankhaften 
Schädigungen  im  Berg- 
und  Hüttenbetriebe  be- 
endigt, desgleichen  seine 
Anschauungen  über  die 
Pest,  die  damals  in  Tirol 
ausbrach,  aufgezeichnet  zu 
haben. 

Im  Jahre  1536  brachte 
er  die  „Große  Chirurgie", 
die  Lehre  von  den  Wund- 
infektionen und  deren  Be- 
handlung und  die  Ge- 
schwürsbehandlung in  ihre 
letzte  Form  und  in  Augs- 
burg zum  Druck;  eine 
zweite  Auflage  erschien 
schon  im  folgenden  Jahre. 
Das  Buch  hatte  also  ein- 
geschlagen; es  sollte  sein 
letzter  Erfolg  sein.  Donau- 
abwärts  ging  der  Weg  nach 
Wien,  wo  er  früher  schon 
geweilt.     Der   Lehre    von 

den  tartarischen  Erkrankungen  hatte  er  nach  neuen  Studien  im 
Veltlin  die  letzte  Gestalt  gegeben  und  wollte  sie  nun  veröffentlichen. 
Die  Feindschaft  der  Wiener  Aerzte  wußte  es  zu  verhindern,  und 
HoHEXHEiM    kehrte    um    1538    in    die   alte    Heimat    Kärnten    (sein 


Cw^  ix>A..n  PER.^;CT^>^  A 


reo 


^ 


Abb.   13t.    HoHENHEiM   1540,  ein  Jahr  vor  seinem 

Tode    gezeichnet,    wie    auch    das    erste    Bild    von 

Augustin  Hirschvogel. 


27 8  Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 

„zweites  Vaterland"  nach  der  Schweiz)  zurück,  hielt  sich  dort  nament- 
lich in  Klagenfurt  auf  und  brachte  in  den  beiden  Streitschriften,  den 
„Defensionen"  und  dem  „Irrgang  der  Aerzte"  zum  letzten  Male  seine 
gesamten  Anschauungen  über  die  Reform  der  Heilkunde  zum  Aus- 
druck, ehe  ihm  nach  Fertigstellung  der  „Astronomia  Magna",  noch 
nicht  48-jährig,  zu  Salzburg  die  Feder  entsank  (24.  September  1541). 

Gewaltig  war  der  Ansturm  gegen  die  Viersäftelehre  gewesen 
und  gegen  die  auf  diese  Schemen  gegründete  rein  schematische 
Therapie.  Große  Erfolge  waren  dem  geborenen  Arzte  am  Kranken- 
bette beschieden  gewesen  und  hohe  Einsicht  in  die  allgemeinen  und 
besonders  die  biologischen  Naturzusammenhänge,  namentlich  in 
chemischer  Physiologie  und  Pathologie,  wie  sie  nur  dem  Genius  sich 
erschließen,  aber  auch  auf  psychischem  Gebiete,  wo  er  ewig  Be- 
wundernswürdiges geleistet  hat,  so  daß  man  fast  zu  Charcot 
heruntergehen  muß,  um  Aehnliches  zu  finden.  Auch  seine  Erfassung 
des  Proteus  Syphilis  in  seiner  ganzen  Vielgestaltigkeit  ist  erst  im 
I9.  Jahrhundert  wdeder  erreicht;  der  durchschaute  Chemismus  der 
Exsudatbildungen,  Konkretionierungen,  Verkalkungen  und  doch 
wieder  die  grundsätzliche  Scheidung  der  eigentlichen  Lebensvor- 
gänge von  den  anorganischen  Vorgängen  in  der  Retorte  usw.  er- 
weckt heute  noch  Bewunderung,  desgleichen  der  chemischen  Schä- 
digung" im  Verhüttungsbetrieb  usw.,  ferner  seine  Erfassung  der 
Wundinfektionen.  In  der  Verwendung  metallischer  Arzneimittel  hat 
er  ungeahnte  Erfolge  durch  neue  Bereitungsweisen  chemischer  Natur 
aufzuweisen;  als  erster  hat  er  gelehrt,  die  wirksamen  Bestandteile 
aus  den  Drogen  auszuscheiden  und  in  Tinkturen  und  Extrakten  zur 
Anwendung  zu  bringen.  Auf  eine  völlige  Umgestaltung  der  ge- 
samten Therapie  lief  sein  Bestreben  hinaus,  an  Stelle  der  mecha- 
nischen Säfteabführung  durch  Purganzen  eine  spezifische  Krankheits- 
behandlung zu  setzen,  ein  Verfahren,  daß  der  große  Vereiniger  von 
Hippokratismus  und  Paracelsismus,  Sydenham,  im  17.  Jahrhundert 
wieder  aufnahm.  Im  Zusammenhang  damit  muß  darauf  hingewiesen 
werden,  daß  Hohexheim  wohl  mit  Galen  und  Avicenna  ge- 
brochen hat,  nicht  aber  mit  Hippokrates  selbst.  Noch  in  seiner 
letzten  Streitschrift  1538  bietet  er  den  hippokratischen  Aerzten  seinen 
Gruß,  rechnet  sich  selbst  also  zu  ihnen.  Nur  mit  dem  Wortstreit 
der  Galenisten  hatte  er  ein  für  allemal  gebrochen.  Und  darin  stand 
er  nicht  ganz  allein  da:  Hippokrates  ist  ja  überhaupt  im  16.  Jahr- 
hundert allmählich  zum  Bannerträger  der  auf  neuer  Beobachtung 
sich  gründenden  Heilkunde  geworden;  man  hatte  begonnen,  den 
Geist  der  Antike  an  Stelle  des  Wortlautes  der  überlieferten  Texte 
zu  setzen. 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts.  279 

HoHENHEiMs  Größtes  bleibt  das  eindringliche,  unablässige  Hin- 
drängen auf  die  Bahn  der  Erfahrung,  der  Naturbeobachtung,  des 
Experimentes,  die  er  allein  als  die  Grundlage  der  Xatur-  und  Heil- 
kunde erfaßt  hatte  und  aufstellte,  als  deren  erstes  Opfer  die  Lehre 
von  den  Humores  und  ihren  Komplexionen  fiel.  Was  er  in  eifrigem 
Beobachten,  Denken  und  Experimentieren  an  Stelle  des  als  morsch 
Beseitigten  zu  setzen  suchte,  war  naturgemäß  nichts  Endgültiges, 
darüber  war  er  sich  nach  kurzer  Zeit  stürmender  Begeisterung  klar. 
Da  war  nur  schrittweises  Vorgehen  und  Fortschreiten  möglich,  dem 
sein  eindrucksvolles  Auftreten  erfolgreich  die  Bahn  gebrochen.  Be- 
scheiden geworden,  bricht  er  in  die  Worte  aus:  „Vielleicht  grünet, 
was  jetzt  herfürkeimet,  mit  der  Zeit."  Auf  die  Bekehrung  der  um 
ihn  lebenden  Aerztegeneration  rechnete  er  bald  nicht  mehr  und  setzte 
seine  Hoffnung  auf  die  Xachw-achsenden,  auf  die  Zukunft. 

An  Schülern  hat  es  ihm  bei  Lebzeiten  nicht  gefehlt.  Ihm  waren 
ihrer  oft  zu  viele  geworden  in  jungen  Jahren,  und  bittere  Erfahrungen 
sind  ihm  auch  bei  diesen  seinen  Jüngern  nicht  erspart  geblieben. 
Zuletzt  mied  er  die  Menschen,  folgte  aber  doch  dem  Rufe  nach 
Salzburg,  w'o  sich  in  der  Gunst  des  Bistumsverwesers  Ernst  von 
Bayern  sein  Geschick  erfüllte. 

Die  Witteisbacher  haben  auch  später  seinen  Nachlaß  gehütet  und 
die  große  HuSERsche  Sammelausgabe  seiner  Werke  hat  ein  anderer 
Ernst  von  Bayern,  Erzbischof  von  Köln,  kräftig  unterstützt.  Die  Schar 
der  Aerzte,  die  sich  seinen  Lehren  anschloß,  namentlich  in  Deutschland 
und  im  Norden,  auch  in  Frankreich,  war  nicht  gering;  sind  doch 
schon  literarisch  einige  Dutzend  bis  in  das  17.  Jahrhundert  hinein 
für  ihn  aufgetreten,  die  Zahl  der  Praktiker,  die  seiner  Heilweise 
folgten,  war  bei  weitem  größer.  Sie  haben  als  latrochemiker  auch 
der  Scheidekunst  zu  neuen  großen  Fortschritten  verholfen,  die  H(^HEN- 
HEIM  selbst  in  grundlegenden  Neuerungen  begonnen  hatte.  Ihre 
Namen  hier  zu  nennen,  erübrigt  sich;  wirklich  große  Aerzte  bleiben 
damit  nicht  ungenannt.  Es  genüge,  darauf  hinzuweisen,  daß  bis 
zum  Jahre  1600  weit  über  200  Schriften  als  die  seinen  erschienen 
sind  und  daß  bis  heute  über  500  Ausgaben  von  Werken  H<iHEX- 
HEIMS  gezählt  werden  können. 

Auf  den  Gesamtfortschritt  der  Heilkunde  war  die  Wirkung  zu- 
nächst gering,  wie  bei  der  fast  völligen  Unterdrückung  seiner 
Schriften  und  dem  schnellen  Aufhören  seiner  Baseler  Lehrtätigkeit 
nicht  anders  zu  erwarten.  Und  doch  machte  der  zuerst  von  ihm 
mit  voller  Klarheit  ausgesprochene  Gedanke,  daß  nur  Naturbeobach- 
tung, Erfahrung  und  Experiment  den  Fortschritt  der  Heilkunde  wie 
aller  Naturwissenschaft  verbürge,  seinen  Weg. 

Man   hat  es  ihm  im  systemfrohen  17.  und   18.,  ja  auch  noch  im 


28o  Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 

19.  Jahrhundert  vorgeworfen,  daß  er  kein  abgerundetes  System  aus- 
gebaut und  hinterlassen  habe,  ja  daß  erst  sein  dänischer  Schüler 
Peder  SöRENSEX  (1542  — 1602)  ein  solches  aus  seinen  Lehren  zu 
bilden  vermocht  habe.  Aber  gerade  darin  spricht  sich  die  Ehrlich- 
keit seiner  naturwissenschaftlichen  Ueberzeugung  aus;  auch  das 
19.  Jahrhundert  hat  in  der  naturwissenschaftlichen  Medizin  kein 
System  mehr  aufgestellt,  sondern  Tatsachen  und  Ergebnisse. 

Aber  eines   darf  schließlich   nicht   vergessen    werden,   ehe  man 
den   großen    Arzt   aus   Einsiedeln   verläßt,    darauf   hinzuweisen,    wie 
hoch  er  den  ärztlichen  Beruf  erfaßt  hat,  wie  es  ihm  tiefste  Herzens- 
sache  gewesen   ist  mit   der  Erfüllung   dieser   Aufgabe    des   Arztes. 
Als  eine   der  vier  Grundsäulen  der  Medizin  hat  er  die  „Virtus",  die 
Ethik  aufgestellt,   und  immer  wieder  entquellen   seiner  erbarmenden 
Seele  Worte  der  tiefsten  Menschenliebe,  die  ihm  seinen  Platz  neben 
dem  großen  Koer  anweisen,  wie  er  nur  wenigen  gleich  ihm  gebührt : 
„Ein  Arzt  darf  kein  Larvenmann  sein,  kein  altes  Weib,   kein 
Henker,   kein    Lügner,  kein   Leichtfertiger,   sondern   er   soll  ein 
wahrhaftiger  Mann  sein." 

„Wisset,  daß  ein  Kranker  Tag  und  Nacht  seinem  Arzt  soll 
eingebildet  sein  und  ihn  täglich  vor  Augen  tragen,  all'  sein 
Sinn'  und  Gedanken  in  des  Kranken  Gesundheit  stellen  mit 
wohlbedachter  Handlung."  Denn  „im  Herzen  wächst  der  Arzt, 
aus  Gott  geht  er,  des  natürlichen  Lichts  ist  er,  der  Erfahren- 
heit" —  „der  höchste  Grund  der  Arznei  ist  die  Liebe." 


Als  HOHENHEIM  die  Augen  schloß,  bahnte  sich  in  der  Medizin 
eben  ein  gewaltiger  Fortschritt  an,  der  zur  völligen  Reformation  der 
Anatomie  geführt  hat  und  an  den  Namen  des  großen  Niederländers 
Vesalius  geknüpft  ist. 

Noch  herrschte  unbeschränkt,  wie  seit  den  Tagen  des  MONDINO, 
die  durch  AviCENNA  überlieferte  Anatomie  des  Galenos.  Und 
auch  als  der  große  Renaissancekünstler  und  universelle  Forscher, 
Beobachter  und  Denker  Leonardo  da  Vinci  daran  ging,  selbst 
das  anatomische  Messer  zu  führen,  wollte  er,  wie  sein  einführender 
Lehrmeister  Marcantonio  della  Torre  in  Pavia  (s.  oben  S.  238), 
den  Galenos  wieder  erwecken  und  dessen  Lehre  zur  Darstellung 
bringen.  Aber  unter  der  Hand  wurde  ihm  das  Material  lebendig, 
immer  selbständiger  sein  Urteil,  seine  Zeichnungen  zu  wirklicher 
Wiedergabe  des  an  der  Natur  Erschauten.  Sein  physikalisch-tech- 
nisches Genie  trieb  ihn,  in  die  Wirkung  der  Muskelstränge  einzu- 
dringen, den  Klappenapparat  des  Herzens  zu  enträtseln,  den  hydrau- 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 


281 


lischen  Vorgängen  bei  der  Blutbewegung  nachzuspüren.  Den  Blut- 
kreislauf hat  er  wohl  nicht  entdeckt,  aber  die  größten  Probleme  hier 
gleichsam  mit  den  zergHedernden  Händen  und  bohrenden  Gedanken 
gestreift.  Den  Bau  der  Gehirnventrikel  hat  er  durch  Injektion  er- 
starrender Massen  sich  zu  veranschaulichen  versucht  und  mancher 
Orten  anatomische  Einzelheiten  erkannt,  wie  an  den  Muskelbalken 
in  rechtem  Vorhof  und  Kam- 
mer, die  erst  die  zweite  Hälfte 
des  1 9.  Jahrhunderts  wieder  ge- 
sehen hat.  So  läßt  sich  sein 
über  viele  Jahrzehnte  sich  aus- 
dehnendes präparierendes  Stu- 
dium an  mehr  als  30  Leichen 
nur  als  ernste  anatomische  For- 
scherarbeit richtig  werten,  bei 
der  es  ihm  durchaus  nicht  nur 
um  die  Erkenntnis  der  Form 
und  Gestalt  zu  künstlerischen 
Zwecken,  sondern  um  gleich- 
zeitige Erfassung  der  Funktion 
der  zergliederten  Organe  zu  tun 
war.  Die  Hunderte  von  ana- 
tomischen Zeichnungen  des  LEO- 
NARDO (1452 — 15 19)  sind  alle 
nur  Studienmaterial ,  gehören 
aber  zum  wichtigsten  solchen 
aus  der  Geschichte  der  Ana- 
tomie. Für  die  Veröffentlichung 
hergerichtet  ist  vielleicht  ein 
einziges  Florentiner  Skelettblatt, 
aber  auch  dieses  ist  im  Ver- 
borgenen geblieben,  wie  alle  übrigen  anatomischen  Federzeichnungen 
seiner  Hand,  und  damit  wirkungslos  für  den  anatomischen  Fort- 
schritt, Freilich  hat  Albrecht  Dürer  ein  einziges  Blatt  Leonardos 
zu  Gesicht  bekommen  und  kopiert,  es  ist  also  nicht  völlig  aus- 
geschlossen, daß  auch  Andreas  Vesalius  einmal  ein  solches  Blatt 
gesehen  hat  und  daß  es  in  seiner  plastischen  Phantasie  nachgewirkt 
hat  wie  Erinnerungsbilder  von  Zeichnungen  Henris  d'Hermonde- 
VILLE,  an  welche  Aeußerlichkeiten  seiner  anatomischen  Vollbilder 
anzuklingen  scheinen ,  wie  auch  (weit  unwahrscheinlicher  noch) 
an  Skelettbilder  des  Charles  Estienne;  beide  könnte  er  1533 
— 36  in  Paris  gesehen  haben.  Seinem  unvergänglichen  Ruhme 
als  Begründer  der  modernen  Anatomie  würde  das  auch   nicht  das 


Abb.  13;. 


Altersbildnis   eigener  Hand  des 
Leonardo  da  Vraci. 


2^2 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 


leiseste  Spürchen   nehmen,   auch   seiner   technisch  wissenschaftlichen 
Leistung  nicht. 


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Abb.   138.     Brust  und  Baucheingeweide  einer  Schwangeren,  gezeichnet  von 
Leonardo  da  Vinci. 

Aus    einer    Familie,    deren    Name    dem    deutschen   Orte   Wesel 
entnommen  war,  ist  Andreas  Vesalius  als  Sohn  eines  kaiserlichen 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 


28; 


Leib- Apothekers  15 15  in  Brüssel  geboren  und  in  Löwen  vorgebildet. 
Medizin  studierte  er  1533  -  1536  in  Paris  unter  dem  deutschen  huma- 
nistischen Arzte  Günther  von  Andernach  und  dem  gleichfalls  ge- 
lehrten Gräcisten  Jacoues  Dubois  (Sylvius,  1478  — 1555),  der  unter 
großem  Zulauf  die  ganze  Medizin  lehrte,  auch  Anatomie  und  Physio- 
logie, in  denen  beiden  ihm  Galexos  den  Gipfel  aller  Weisheit  und 
Erkenntnis  erreicht 
zu  haben  schien,  wie 

er  ausdrücklich 
lehrte.  Der  gesamte 
Lehrkurs  der  Me- 
dizin zog  sich  über 
2 — 3  Jahre  hin;  das 
war  also  gewiß  ein 
Fortschritt  gegen  die 
Zeit,  als  JACQUES 
Despars  noch  2 1 
Jahre  lang  einen 
fortlaufenden  Kom- 
mentar über  ein  ein- 
ziges Buch  des  Canon 
Avicennae  las  (1432 
—  1453).  Aber  so 
recht  konnte  in  der 
Pariser ,  trotzdem 
man  den  Galenos 
immer  im  Munde 
führte,  noch  reichlich 
scholastischen  Luft 
ein  Vesal  nicht  ge- 
deihen. Ueberaus 
dürftig  waren  dort 
die  dreitägigen  ana- 
tomischen Demon- 
strationen, die  ab  und 

zu  für  die  Bader  und  Mediziner  zusammen  abgehalten  wurden, 
und  ein  paar  gelegentlich  von  Dubois  mit  ins  Kolleg  gebrachte 
Hundeorgane,  an  denen  er  nicht  einmal  genügend  Bescheid  ge- 
wußt zu  haben  scheint,  vermochten  das  für  Vesae  nur  wenig  zu 
bessern,  der  schon  von  früh  auf  Hunde  und  Katzen  und  kleineres 
Getier  seziert  hatte.  Auf  Kirchhöfen  und  Richtplätzen  wußte  er 
sich  Ersatz  zu  schaffen  und  soll  schließlich  selbst  die  anatomischen 
Sektionen   abgehalten   haben;   dafür  durfte   er  an   Günthers  ana- 


Abb.  139.     Andreas  Vesalius  im  28.  Lebensjahre.  Nach- 
stich des  Holzschnittbildes  von  1542   in  der  Fabrica,   durch 
J.  Wandelaar  1725. 


284 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 


tomischen  Institutionen  mitarbeiten  und  gab  ein  Jahr  darauf  selbst 
das  g.  Mansurische  Buch  des  Razi  in  gebessertem  Latein  heraus 
(1537).  Noch  im  selben  Jahre,  nach  kurzem  Aufenthalt  in  Venedig, 
siedelte  Vesal  nach  Padua  über,  promovierte  dort  und  wurde  am 
Tage  darauf,  am  6.  Dezember  1537,  noch  nicht  ganz  23  Jahre  alt, 
zum  Professor  der  Chirurgie  ernannt  und  damit  auch  zum  Abhalten 
der  Schulanatomien  bestimmt.     Er  war  zunächst  am  Ziel. 

Und    wie   hat   er   die   ihm   nun    gebotene   Gelegenheit   benutzt! 
Noch   ist   er   galenistischer   Anatom,   wenn    er   dem    großen  Meister 

auch  schon  das  eine  oder  andere 
Versehen  glaubte  nachgewiesen 
zu  haben.  Daß  Galenos  gar  keine 
Menschenanatomie  im  strengen 
Sinne  gelehrt  habe,  wußte  er 
noch  nicht.  Wie  unfrei  er  selbst 
im  Frühjahr  1538  noch  ist,  ob- 
gleich er  wohl  damals  schon  alle 
Zeitgenossen  an  anatomischen 
Kenntnissen  übertraf,  beweisen 
die  6  „Tabulae  anatomicae",  die 
er  im  Anschluß  an  seine  ersten 
anatomischen  Demonstrationen  in 
Padua  (Widmung  von  dort 
I.  April  1538)  zu  Venedig  heraus- 
gab, 3  Skelettafeln,  3  Eingeweide- 
und  Gefäßtafeln.  Es  ist  traditio- 
nelle Anatomie  (5-lappige  Leber! 
s.  Abb.  140),  verbunden  mit  aut- 
optischen Einzelheiten,  die  Skelett- 
bilder, das  Beste  des  Tafehverks, 
Abb.  140.    Fünf  lappige  Leber  in   Vesals  ^^^^1   einem   von   ihm  selbst  auf- 

Tabulae  anatomicae  von  Anfang  i=;'^8.  ,    n,  -r-.     i  01     i    j.^ 

^  gestellten    Paduaner   Skelett    ge- 

zeichnet. Im  nächsten  Jahre 
lieferte  er  für  die  neue  lateinische  Galenausgabe  der  GiUNTA  die 
Neubearbeitung  des  lateinischen  Textes  der  damals  bekannten 
ersten  9  Bücher  der  anatomischen  Encheiresen  und  der  Anatomie 
der  Venen  und  Arterien  und  der  Nerven,  So  nach  nochmaliger 
eingehender  Prüfung  des  wichtigsten  anatomischen  Werkes  des 
Galenos  im  Original  fuhr  er  in  seiner  methodischen  Durchprüfung' 
der  gesamten  Anatomie  des  Menschen  an  der  Leiche  fort  und 
leistete  in  4 — 5  Jahren  fast  Uebermenschliches ,  indem  er  gleich- 
zeitig von  verständnisvollem  Künstler  das  gesamte  Material  zeich- 
nerisch  fixieren   ließ.     Er   erkannte,    daß   Galenos   Affenanatomie 


Die  gießen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 


wesentlich  lehre,  und  baute  selbst  zum  ersten  Male  die  wirkliche 
Menschenanatomie  in  einem  großen  Lehrgang  auf,  den  er,  reich 
illustriert,  1543  zu  Basel  bei  dem  zum  Buchdrucke  übergegangenen 
Paracelsusschüler  Joh.  Oporinus  herausgab:  „De  humani  corporis 
fabrica  libri  Septem",  abgeschlossen  am  i.  August  1542,  und  gleich- 
zeitig als  Ergänzung  einen  Auszug,  die  Epitome,  beendigt  am 
13.  August.  Die  Figuren  zur  Epitome  sind  später  hergestellt  als  die 
der  Fabrica  und  zeigen 
daher  zum  Teil  Verbesse- 
rungen dieser.  Es  ist  ein 
großer  Wurf,  dieser  Bau 
des  jMenschenkörpers  von 
Vesal,  voll  Unmittelbar- 
keit und  jugendHcher 
Frische;  eine  zweite  er- 
weiterte Bearbeitung  er- 
schien in  noch  pracht- 
vollerem Drucke  1555, 
sachlicher ,  gemessener, 
ernster ,  der  klassische 
Vesalius  ,  der  seither 
immer  zu  Rate  gezogen 
wurde  ;  doch  hat  die  erste 
Ausgabe  ihren  besonderen 
Reiz  und  ihre  Vorzüge, 
enthält  auch  noch  viel 
Persönliches,  während  die 
zweite  die  beiden  Haupt- 
gegner der  ersten  Auflage 
abtut,  den  kleinlichen 
Leonpl\rd  Fuchs  und 
den  neidischen  und  ver- 
leumderischen Lehrer  des 
Vesalius,  den  boshaften 
Sylvius.  Aufs  schärfste 
abgerechnet  hatte  Ve- 
salius mit  seinen  meisten  Gegnern  schon  1546  im  „Briefe  von  der 
Chynawurzel".  Er  ist  1544  kaiserlicher  Leibarzt  geworden,  wie  viele 
seiner  Vorfahren. 

Auch  was  Vesalius  sonst  geleistet  hat,  ist  voller  Beachtung 
würdig,  so  die  kritische  Schärfe  in  der  Untersuchung  der  Wirkungen 
der  „radix  Chyna",  einer  Smilacee,  Verwandten  der  Sassaparille,  so 
die  Leichenobduktionen  zu  pathologischen  Zwecken  in  größerer  Zahl, 


Abb.   141.    Weiblicher  Situs  aus  der  „Fabrica"  1543. 


286 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 


einige  Konsilien,  seine  Ausführung  der  Empyemoperation  usw.  Seine 
Antwort  freilich  auf  Falloppias  ihn  ergänzende  „Observationes 
anatomicae"  (1561)  leidet  unter  dem  Fehlen  der  Nachprüfung  an 
Leichen,  die  Vesalius  in  Spanien  nicht  zur  Verfügung  standen. 
Sein  großes  und  ganz  überwiegendes  Hauptverdienst  bleibt  die  Be- 
gründung   der    modernen    Anatomie,    der    anatomischen    Methodik 

durch  die  „Fabrica".  Was  er 
im  einzelnen  erforscht  hat  in 
der  Anatomie  neben  der  Auf- 
klärung über  das  Wesen  und 
den  Wert  der  Anatomie  des 
angebeteten  Galenos  und 
der    Aufstellung"    ihrer    wahren 


Abb.    142.      Skelett    in    Seitenansicht    aus    der 

„Epitome"   1543  nur  im  Sinnspruch  abweichend 

von  dem  in  der  Fabrica. 


Abb.  143.     Oelbild  des  Vesalius  zu 
Amsterdam. 


Methodik  ist  gewaltig  an  Masse  und  Bedeutung.  Daß  auch  noch 
Fehler  mitunterlaufen  und  nicht  Alles  definitiv  geklärt  ist,  zeigt 
uns  die  Unvollkommenheit  alles  Menschentums  auch  in  seinen 
höchsten  Vertretern.  Man  muß  es  beachten,  aber  nicht  überschätzen. 
Die  Größe  des  Vesal  wird  dadurch  nicht  berührt;  seine  Methodik 
erweist  sich  um  so  glänzender,  je  tiefer  man  im  Studium  in  sein 
Werk  eindringt;  um  so  mehr  weckt  die  Systematik  seiner  Zer- 
gliederung  unsere   Bewunderung,   besonders   auf   den   schwierigsten 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 


287 


Gebieten,  wie  z.  B.  der  Anatomie  des  Gehirns.  Vesal  erst  hat  die 
Anatomie  zur  Höhe  einer  Wissenschaft  erhoben,  und  nicht  nur  Teile 
des  Menschenkörpers  in  den  Bereich  seiner  Untersuchung  gezogen, 
sondern  den  Bau  des  ganzen  ^Menschen,  zu  dessen  restloser  Ent- 
hüllung noch  mehr  als  drei  weitere  Jahrhunderte  erfordert  wurden 
in  rastloser  Arbeit  nach  seiner  Methodik,  auf  den  von  ihm  gebahnten 
Wegen. 

Von    denen,    die    neben   ihm   und   direkt   nach   ihm   Menschen- 
anatomie getrieben  haben,  gehen  wir  an  seinen  Verkleinerem,  deren 


a.\BRRL  FALOPIUS 

ICELEBtRWMUS  MEDICU5  ET  .ASTROLOGUSl 
IN  ATNET.   ET  PADVA 

.-£T   S.  I.XXIII 


'"  i  "AJ  l^- .  -■' 


Abb.  144.     Gabriele  Falloppia. 

zwei  nur  wir  genannt  haben,  vorbei.  Vesal  ist  1564  gestorben, 
also  kaum  50  Jahre  alt  geworden,  der  bedeutende  Gabriele  Fal- 
loppia (1523 — 1562)  noch  nicht  einmal  40.  Dieser  war  zu  Modena 
geboren  und  nacheinander  Professor  in  Ferrara,  Pisa  und  Padua; 
an  letzterer  Stelle  hat  er  1 1  Jahre  gewirkt.  Von  seinen  Schriften, 
die  sich  meist  mit  äußeren  Erkrankungen  und  der  Syphilis  be- 
schäftigten,  ist  die  Luesschrift    zwar  in    wenig    vertrauenswürdiger 


288  Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 

Form  überliefert,  aber  dennoch  eine  der  wertvollsten  des  i6.  Jahr- 
hunderts; sie  wird  aber  durch  die  oben  schon,  genannte  anatomische 
Schrift   an  Bedeutung- noch   übertroffen,   die   nicht  seine  einzige  ist. 


Abb.  145.     Michael  Servet, 


Abb.  146.  Gehör- 
knöchelchen    mit 
Musculus     tensor 
tympani  nach 
EUSTACCHI. 


Knochensystem  und  Knochenentwicklung,  Bau  des 
Hör-  und  Sehapparates,  der  weiblichen  Geschlechts- 
organe haben  ihn  besonders  beschäftigt ;  überall  sind 
ihm  wichtige  Fortschritte  und  Entdeckungen  zu  ver- 
danken. Was  Michael  Servet,  der  direkt  nach 
Vesal  die  gleichen  Lehrer  wie  dieser  in  Paris  ge- 
hört hat,  bringt  in  dem  berühmten  Abschnitt  des 
Buches  „Christianismi  restitutio"  (1553),  wo  er  den 
kleinen  Kreislauf  zum  ersten  Male  mit  Klarheit  aus- 
spricht, stellt  anatomische  Kenntnisse  zur  Schau,  die 


Die  großen  Reformbestrebungen  des  i6.  Jahrhunderts. 


289 


teils  dem  Altertum  entlehnt  sind,  teils  dem  Vesalius.  Realdo 
COLOMBO,  der  hämische  Nachfolger  des  Vesal  in  Padua,  hat  in  der 
Physiologie  des  Kreislaufs  den  Servet  kopiert,  falls  er  ihn  gekannt 


Abb.   147.     Nerventafel  nach  EusTACCHi. 
Meyer-Steineg  u.  Sudhoff,  Illustr.  Geichichte  der  Medizin. 


19 


2go 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 


hat;  doch  ist  Servet  klarblickender  als  er,  der  den  Vesal  vielfach 
grundlos  angreift,  aber  anatomisch  doch  nicht  ganz  ohne  Verdienst 
ist  (t  1559).  Neben  Vesal  und  Falloppia  zweifellos  der  größte 
Anatom  des  16.  Jahrhunderts  ist  Bartolomeo  Eustacchi  (f  1574), 

Professor  der  Anatomie  an  der 
Sapienza  in  Rom,  der  den  Los- 
lösungsprozeß von  Galenos  noch 
einmal  an  sich  selbst  durchmachte 
und  viele  von  Vesal  versehene 
Einzelheiten  richtigstellte.  Seine 
Zergliederungen  sind  mit  größter 
Sorgfalt  durchgeführt  und  nach  der 
entvvicklungsgeschichtlichen  und 
vergleichend -anatomischen  Seite 
durchgeführt.  Siebetreffen  nament- 
lich die  Nieren  und  deren  Bau, 
wobei  er  vieles  dem  Bellixi  schon 
vorwegnahm,  und  die  Zähne,  sowie 
das  Gehörorgan,  wo  sein  Name 
verewigt  ist,  und  einzelne  Teile 
des  Venensystems.  Auch  mit  treff- 
lichen Tafeln  ließ  er  diese  Werke 
ausstatten.  Ein  großes  Gesamt- 
tafelwerk über  Anatomie  war  schon 
gestochen,  als  ihn  der  Tod  ereilte; 
es  ist  erst  anderthalb  Jahrhunderte 
später  von  Lancisi  nach  den  nach- 
gelassenen Tafeln  zum  Abdruck  ge- 
bracht worden  (i 7 1 4).  Auch  patho- 
logisch-anatomisch hat  Eustacchi 
bemerkenswerte  Beobachtungen 
gemacht.  —  Von  bedeutenderen 
italienischen  Anatomen  des  16.  Jahr- 
hunderts seien  noch  GiOV.  Filippo 
Ingrassia  (15 10— 1580),  GiuLia 
Cesare  Aranzio  (1530 — 1589), 
Leonardo  Botallo  (geb.  1530)  und  Costanzo  Varolio  (1543  —  1575) 
genannt  sowie  Fabrici  d'Acquapendente  (1537— 1619),  nicht  Ent- 
decker, aber  eingehender  Schilderer  und  graphischer  Darsteller  der 
Venenklappen, dessen  Hauptverdienstauf  embryologischemGebieteliegt. 


Abb.  148.  Eines  der  Venenklappenbilder  des 
GiROLAMOs    Fabrici    d'Acquapendente. 


Fragt   man   sich   nun,   wie   groß  war   denn    dieser  Fülle   neuen 
anatomischen  Entdeckungsmaterials,    namentlich    der  Gigantenarbeit 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts.  291 

des  Vesal  Einfluß  auf  die  fortschrittliche  Weiterentwicklung  der 
Gesamtmedizin,  so  kann  die  Antwort  nur  lauten:  betrübend  gering! 
Nicht  einmal  auf  die  von  der  Anatomie  doch  so  abhängige  Chi- 
rurgie hat  eigentlich  die  unendliche  Erweiterung,  ja  erst  wahrhafte 
Begründung  der  anatomischen  Wissenschaft  einen  irgend  entschei- 
denden Einfluß  ausgeübt.  Ist  doch  in  den  Tagen  der  Scholastik 
eigentlich  die  Anatomie  der  Chirurgie  nachgehinkt.  Ein  direkter, 
mächtig  fördernder  Einfluß  auf  den  medizinischen  Gesamtfortschritt 
scheint  überhaupt  nur  der  Biologie,  sowohl  der  Physiologie  als  der 
Klinik  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  beschieden  zu  sein. 


Was  das  14.  Jahrhundert  Italien  Chirurgisches  gebracht  hatte, 
waren  ausschließlich  Kompilationen  und  Kommentare  zu  Galexos 
und  den  Arabern.  Der  chirurgische  Elan  des  13.  Jahrhunderts  war 
völlig  erloschen.  Chirurgische  Gelehrsamkeit  war  an  den  italienischen 
Universitäten  freilich  immer  noch  daheim,  auch  im  15.  Jahrh.,  wo 
dort  auch  einige  Männer  wirklich  ausübende  Chirurgen,  wirkliche  Ope- 
rateure waren,  die  auch  schriftstellerisch  sich  betätigten,  wie  Pietro 
d'Argellata  (t  1423)  in  Bologna,  der  den  Guy  stark  benutzte 
und  namentlich  Resektionen  der  Knochen  mit  Vorliebe  pflegte,  und 
Leonardo  DA  Bertapaglia  in  Padua  (f  1460),  der  sein  chirurgisches 
Werk  als  Kommentar  zum  entsprechenden  Abschnitt  des  AviCEXXA 
verfaßte.  Einiges  chirurgisches  Verständnis  spricht  sich  in  Giovannis 
d'Arcole  Erläuterungen  zum  9.  Buch  des  RÄzi  an  Mansur  aus 
(t  1458),  während  GlOVANNi  ViGO  aus  Rapallo  (ca.  1460  bis  ca.  1520) 
ein  wirklich  ausübender  Chirurg  und  ausschließlich  chirurgisch  ge- 
bildet war,  ja  als  päpstlicher  Leibchirurg  Karriere  machte.  Sein 
Lehrbuch,  vollendet  15 17,  hat  zwar  weiteste  Verbreitung  gefunden, 
verdiente  sie  aber  nur  zum  kleinsten  Teile.  Es  ist  eine  simple 
Kompilation,  der  nicht  der  geringste  Fortschritt  zu  verdanken  ist. 
Von  seinem  wackeren  Vater  Battista  da  Rapallo,  der  ein  tüch- 
tiger Operateur,  besonders  in  der  Ausführung  des  Steinschnittes 
erfahren  gewesen  ist,  ging  auf  den  Sohn  leider  nichts  über,  von  dem 
man  fast  den  Eindruck  erhält,  als  sei  ihm  seine  feine  Stellung  zu 
Kopfe  gestiegen  und  er  habe  sich  darum  des  Schneidehandwerks 
geschämt.  Von  unheilvollstem  Einfluß  war  die  durch  ihn  in  Kurs 
gekommene  Anschauung  vom  Vergiftetsein  der  Schußwunden  und 
daher  die  barbarische  Behandlung  mit  Brenneisen  und  siedendem  Oel. 

Ein  aus  dem  umbrischen  Zentrum  der  Stein-  und  Bruchschneider 
stammender  Jacopo  da  Norcia  (f  15 10)  genoß  in  jener  Zeit  großen 
Ruhm,  den  er  mit  einem  (oder  zweien)  GlOVANNi  DE  RoMANis  teilt, 

19* 


2g2 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 


wegen  einer  Methode  des  Steinschnittes,  die  ein  als  ViGO-Schüler 
bekannter  Mariano  Santo  da  Barletta  (1489  bis  ca.  1550)  in 
ApuHen  im  Jahre  1522  in  einem  „Libellus  aureus  de  lapide  a  vesica 
per  incisionem  extrahendo"  zu  Rom  veröffentlichte.  Als  Mariani- 
scher  Steinschnitt  mit  dem  „großen  Apparat"  stellt  diese  Methode 
einen  entschiedenen  Fortschritt  dar.  Giovanni  de  Romanis  wirkte 
allerdings  in  Rom  neben  Mariano,  und  von  ihm  soll  Mariano  die 
Methode  gelernt  haben. 

Das  von  GiOVANNi  ViGO    eingeführte   Ausbrennen    der  Schuß- 
wunden  wurde   von  seinem   Nachfolger   in   Rom,    dem   Süditaliener 

Alfonso  Ferri  (ca.  1500 — 1560)  unter- 
strichen ;  dessen  Kugelpinzette  (Alphon- 
sinum)  und  Behandlung  der  Harnröhren- 
strikturen  mit  Sonden  fanden  Verbreitungf. 


Abb.   149.    ,,Alphonsinum", 

Kugelpinzette  des  A.  Ferri, 

1552. 


Abb.  150.  Eine  Löffelzange  zur  Kugel- 
entfernung nach  Maggi. 


Bartolommeo  Maggi  (15 16— 1552)  erklärte  die  Schußwunden  für 
einfache  unvergiftete  Quetschwunden  und  behandelte  nachweislich 
schon  1544  nach  diesen  Grundsätzen,  machte  sie  aber  erst  1552  bekannt. 
Der  als  Anatom  schon  genannte  Leonardo  Botallo  trat  in  seiner 
wertvollen  Schrift  über  Schußwunden  (vulnera  sclopetorum)  auf  Maggis 
Seite  (1560).  Die  erste  Erwähnung  der  Schußwunden  finden  sich  bei 
deutschen  Wundärzten  seit  dem  Anfang  des  15.  Jahrhunderts,  deren 
keiner  die  greuliche  Methode  des  Ausbrennens  mitgemacht  zu  haben 
scheint.  Alle,  soweit  wir  sie  kennen,  sind  für  milde  Behandlungs- 
weise  (Johann  von  Beris,  Heinrich  von  Pfalzpeunt,  Hiero- 
NYMUS  Brunschwig,  Hans  VON  Gersdorf).    Dagegen  ist  man  in 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 


293 


Frankreich  der  italienischen  ]Methode  des  Ausbrennens  gefolgt,  bis 
eines  der  größten  wundärztlichen  Genies  aller  Zeiten  aus  einer  zu- 
fällig gemachten  Beobachtung  hellsehend  die  richtigen  Schlüsse  zog 
und  dem  Hexensabbath  ein  Ende  machte.  Auch  Paracelsus  hatte 
von  Ausbrennen  der  Schußwunden  nichts  wissen  wollen;  sein 
Drängen  auf  prima  intentio  und  einfaches  Reinhalten  aller  Wunden 
unter  Beiseitehalten  aller  Wundinfektionen  mutet  wie  ein  Voraus- 
ahnen LiSTERscher  Erkenntnisse  an.  Als  wirklicher  Chirurg  kann 
HOHEXHEIM  nicht  bezeichnet  werden,  wohl  aber  der  in  seinen  An- 
schauungen über  Wundbehandlung  an  ihn  sich  anlehnende  wackere 
Zürcher  Felix  Wirtz  (15 10  bis  ca.  1580),  der  bedeutendste  Wundarzt 
deutscher  Zunge  in  jener  Zeit, 
der  sich  allerdings  auf  die  höhere 
operative  Chirurgie,  nach  seinem 
Buche  (1563)  zu  schließen,  nicht 
eingelassen  hat.  Geborne  Chirur- 
gen von  Gottes  Gnaden  waren 
die  beiden  großen  Franzosen 
Pierre  Fraxco  und  Ambroise 
Pare. 

Der  Proven(;ale  Pierre 
Franco  (ca.  1505  bis  ca.  1570), 
von  Haus  aus  wandernder  Bruch- 
schneider, wirkte  und  lehrte  min- 
destens 10  Jahrelang  in  Lausanne 
und  Bern,  später  in  Orange. 
Wir  besitzen  von  ihm  einen 
,, Petit  traite"  von  1556  und  eine 
ausführliche ,  gelehrtere  Dar- 
stellung von  1561,  in  denen  er 
sich  als  erfahrenen  Operateur 
des  Bruchschnittes  erweist,   mit 

oder  ohne  Kastration,  auch  bei  inkarzerierter  Hernie,  bei  Steinschnitt 
mit  kleiner  und  großer  Gerätschaft  und  bedeutenden  Erfolgen  unter 
Verbesserung  der  alten  Steinschnittmethoden  und  ihres  Instrumen- 
tariums, sowie  der  Erfindung  des  hohen  Steinschnittes.  Den  Starstich 
hat  er  mit  Vorliebe  ausgeführt  und  rühmt  sich,  bei  200  Operationen 
mindestens  90  Proz.  Erfolge  verzeichnen  zu  können.  Bei  seinen 
Operationen  übt  er  die  Blutstillung  nur  mit  dem  Brenneisen,  dagegen 
sind  seine  plastischen  Operationen  bei  Hasenscharten,  (raumenspalten 
und  Wangen  defekten  meisterhaft.  Was  Franco  mit  Ernst  in  die 
Hand  nahm,  das  brachte  er  um  ein  tüchtig  Stück  vorwärts.  Seiner 
33- jährigen  Erfahrung  wußte  er  scharfblickend  den  vollen  Wert  zu 


Abb.  151.    Spekulum  zur  Steinausziehung  aus 

der     weibl.     Harnblase     und    Stamadeln     des 

Pierre  Franco. 


294 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 


entnehmen ;  auf  sie  allein  stützte  er  sich.  Dagegen  knüpfte  Gaspare 
Tagliacozzo  zu  Bologna  (1546 — 1599)  mit  seinen  plastischen  Ope- 
rationen, namentlich  des  Nasenersatzes  aus  der  Armhaut  an  uralte 
Techniken  an,  die  sich  am  Golf  von  Santa  Eufemia  in  Kalabrien  in 
Familientradition  erhalten  hatten  und  in  der  Familie  Branca  nach- 
weislich seit  dem  14.  Jahrhundert  geübt  wurden,  später  von  den 
Vianei  und  Bojani.  TAGLIACOZZO  hat  das  Verdienst,  diese  Ver- 
fahren zum  ersten  Male  wissenschaftlich  dargestellt  und  beleuchtet 
zu   haben   in   seinen   mehrfach   aufgelegten    „De  curtorum  chirurgia 

per  insitionem  libri  duo"  (zuerst 
Venedig  1597).  Seine  eigene 
plastisch  -  chirurgische  Erfah- 
rung war  offenbar  nicht  allzu 
groß,  sein  Erfolg  und  dessen 
Nachwirkung-  bescheiden. 


AmbroisePare,  einer  der 
größten  Chirurgen  aller  Zeiten, 
ist  aus  dem  Stande  der  Barbiere 
hervorgegangen.  Geboren  1510 
in  Bourg  -  Hersent  (dicht  bei 
Laval  in  der  gleichnamigen 
Grafschaft  zwischen  der  Nor- 
mandie  und  der  Loire,  durch- 
strömt von  der  Mayenne,  ge- 
legen), kam  er  frühe  nach  Paris, 
wo  er  schon  zeitig  als  Barbier- 
Chirurg  im  Hotel -Dieu  tätig 
sein  konnte.  Ob  er  von  dem 
Unterricht  der  Aerzte  der  Fa- 
kultät, wie  er  den  Barbieren 
im  Gegensatz  zu  den  Chirurgen 
zuteil  wurde,  wirklichen  Vor- 
teil zog,  steht  dahin.  Er  hatte  damit  bis  zu  gewissem  Grade  wenigstens 
in  der  Anatomie  den  gleichen  Pariser  Unterricht  genossen  wie  Vesal, 
auch  den  des  Jaques  Dubois,  der  Pare  später  zu  seinem  Dissektor 
bei  den  anatomischen  Demonstrationen  machte.  Er  machte  einen  Feld- 
zug Franz  I.  mit  großem  Vorteil  für  seine  Weiterbildung  als  Barbier- 
Chirurg  mit.  Aber  auch  in  den  folgenden  Jahren  war  Pare  viel- 
fach als  Feldscher  in  Kriegszügen  tätig  und  auch  sonst  unterwegs. 
1552  wurde  er  zum  „Chirurgien  du  roy"  ernannt  und  1554,  trotz 
des  Widerspruchs  der  medizinischen  Fakultät,  ehrenvoll  und  kosten- 
frei in  das  Chirurgen-Kollegium  (College  de  St.  Come)  aufgenommen ; 


Abb.   152.     Verband  mit  Kapuze    beim  Xasen- 
ersatz   aus    der   Armliaut    nach   Tagliacozzo. 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts. 


295 


so  hoch  war  sein  Ansehen  als  Wundarzt  schon  gestiegen.  Später 
zum  ersten  Chirurgen  und  Kammerdiener  des  Königs  Karl  IX. 
berufen,  begleitete  er  diesen  auf  seinen  Reisen,  wurde  aber  gleich- 
zeitig Oberwundarzt  am  Hotel-Dieu,  hatte  also  die  höchsten  chirur- 
gischen Ehren  in  Frankreich  erreicht.  Er  starb  70-jährig  zu  Ende  des 
Jahres  1590.  Die  Leistung  seines  langen  Lebens  ist  enorm.  Unsterblich 
ist  Pare  geworden  durch  seine  Erkenntnis  von  der  Giftfreiheit 
der  Schußwunden 
und  der  Verkehrt- 
heit der  italieni- 
schen Behandlung 
derselben  mit  sie- 
dendem Oel.  Diese 
aus  eigener  Beob- 
achtung gewon- 
nenen Erfahrungen 
hat  Pare  in  seiner 
Erstlingsschrift  von 
1545  niedergelegt, 
in  der  er  erzählt, 
daß  ihm  nach  einer 

verlustreichen 
Schlacht  das  Oel 
ausgegangen  sei 
und  er  sich  dadurch 
gezwungen  sah,  bei 
einem     Teile     der 

Schußverletzten 
das  Ausbrennen 
der  Schußkanäle 
zu  unterlassen,  die 
er  dann  am  an- 
deren Tage  in  weit 

besserem  Zustande  antraf  als  die  ausgebrannten.  Eine  anatomische 
Handleitung  mit  einem  Anhang  über  Einrenkungen  und  ge- 
burtshilfliche Hilfsleistungen  kam  1550  heraus,  1561  [ein  Buch  über 
Behandlung  der  Wunden  und  Schädelbrüche,  1,564  und  namentlich 
1572  zwei  größere  chirurgische  Werke,  die  hauptsächlich  seinen  Ruf 
als  großer  Chirurg  begründeten,  der  doch  immer  bescheiden  blieb, 
wie  schon  sein  Leitspruch  kennzeichnet:  „Je  le  pansay  et  Dieu  le 
guarist,  —  ich  verband  ihn,  Gott  heilte  ihn."  Anfangs  unbeholfen 
im  Stil,  später  gewandter,  ist  er  ein  Held  der  P'eder  niemals  ge- 
worden.   Die  Wissenschaft,  die  ihm   in   seiner  Ausbildung   abging. 


Abb.  153.     Ambroise  PARjfe,  nach  Oelbild. 


296  Die  großen  Reformbestrebungen  des   16.  Jahrhunderts. 

suchte  er  später  durch  Dargabe  großer  Beträge  aus  seinem  reich- 
gewordenen Besitze  für  Illustrationen,  Sammlungen  und  Ankauf  von 
Geheimmitteln  zu  unterstützen.  Klar  erkannte  PARlfe  seine  reformato- 
rische Aufgabe;  er  hat  aber  keineswegs  sämtliche  Gebiete  der  Chi- 
rurgie gleichmäßig  in  die  Hand  genommen,  z.  B.  den  Steinschnitt 
überhaupt  nicht  ausgeführt  und  literarisch  darin  ganz  dem  Franco 
sich  angeschlossen.  Neben  der  Schußwundenbehandlung  ist  die  der 
Kopf-  und  Brustverletzungen  besonders  glänzend;  Schenkelhals- 
fraktur hat  er  zum  ersten  Male  diagnostiziert.  In  seinen  Ersatz- 
und  Korrektionsmaßnahmen  feierte  seine  Technik  Triumphe.  Seine 
größte  operative  Leistung  war  aber  die  Verbesserung  der  Amputations- 
technik, in  der  die  mittelalterlichen  Chirurgen  einen  Fortschritt  nicht 
zu  verzeichnen  hatten.  Dabei  ist  besonders  wichtig  die  Einführung 
der  Unterbindung  der  großen  Gefäße  statt  blutstillender  Arzneistoffe 
und  des  Brenneisens,  das  Pare  vor  1552  selbst  noch  ausschließlich 
angewandt  hatte. 

Daneben  ist  von  hervorragender  Bedeutung  die  durch  ihn  an- 
gebahnte Vervollkommnung  der  Geburtshilfe. 

Auch  auf  diesem  Gebiete  war  zwar  das  Mittelalter  nicht  völlig 
steril,  aber  die  Fortschritte,  selbst  über  die  Araber  hinaus,  sind  doch 
nur  sehr  gering.  Man  knüpfte  stellenweise  zunächst  an  die  besten 
Ueberlieferungen  des  Altertums  an.  Das  Buch  „Trotula"  empfiehlt 
seit  SORANOS  zum  ersten  Male  wieder  (nach  iioo)  den  Dammschutz, 
kennt  den  kompletten  Dammriß  und  verlangt  seine  Naht,  ViNCENZ 
von  Beauvais  spricht  sogar  (nach  einer  noch  nicht  aufgefundenen 
Quelle)  von  der  Wendung  auf  dem  Kopf  durch  inneren  Handgriff, 
Arnald,  der  Katalane,  erklärt  die  vollkommene  Fußlage  für  natur- 
gemäß und  verlangt  die  Aenderung  jeder  anderen  Lage  in  Kopf- 
oder Fußlage  (wie  Aetios),  Guy  von  Chauliac  will  den  Mutter- 
mund Instrumenten  auseinanderschrauben  und  verlangt  Extraktion 
mit  Haken  und  Zange  nach  dem  Vorgange  der  Araber,  auch  spricht 
er  vom  Kaiserschnitt  an  der  Toten,  wie  auch  schon  Bernhard 
GORDOX,  und  gibt  eine  Schnittführung  an.  Franz  von  Piemont, 
der  um  1300  in  Neapel  und  weiterhin  in  Süditalien  wirkte,  ist 
weniger  in  seinen  Angaben  über  Lagenverbesserung  und  Extraktion 
als  in  seiner  Wochenbettsdiätetik  musterhaft.  Antonio  Benivieni 
will  auch  auf  die  Füße  wenden  durch  innere  Handgriffe  und  setzt 
bei  Schieflage  einen  Haken  in  die  Wirbelsäule,  um  nach  Art  der 
Selbstentwicklung  zu  extrahieren;  GlOV.  Michele  Savonarola 
hat  sogar  offenbar  eine  Vorstellung  von  der  Geburtsbehinderung 
durch  ein  enges  Becken. 

Im   allgemeinen   ist   die  Geburtshilfe  noch  ausschließlich  in  den 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts.  2 


97 


Abb.    154a — f.     Fußlage   in   den   Handschriftenbildem   vom   9.   bis   ins    15.  Jahrhundert 

(nach  dem  Hebammenkatechismus  des  MusTio),  herab  bis  zu  Rösslin   1513.    Bild  b,  heute 

im  Vatikan,  war  15 13  noch  in  Heidelberg. 


298  Die  großen  Reformbestrebungen  des   16.  Jahrhunderts. 

Händen  der  Hebammen,  aber  hier  gerade  hat  das  ausgehende  Mittel- 
alter andeutungsweise  schon  im  14.  und  deutlich  fixierbar  im  15.  Jahr- 
hundert durch  Hebammenordnungen  deutscher  Städte  (1452  Regens- 
burg) einen  wirklichen  Fortschritt  inauguriert;  der  Rat  der  Städte 
zeigt  sich  stellenweise  auch  schon  um  den  Unterricht  der  Hebammen 
durch  die  Stadtärzte  besorgt.  Das  erste  Hebammenlehrbuch  nach  den 
Zeiten  des  SORAXOS  und  MuSTiO  gibt  ein  deutscher  Arzt  zu  Worms 
1 5 1 3  heraus,  Eucharius  R.ÖSSLIN,  betitelt :  „Der  Swangern  Frawen  und 
Hebammen  Roßgarten",  in  Hagenau  bei  Gran.  Das  Büchlein  lehnt 
sich  stark  an  den  Hebammenkatechismus  des  MusTiO  an,  nicht  nur 
textlich,  sondern  auch  in  dem  Bildwerk,  das  in  den  Handschriften 
aus  den  Zeiten  der  Antike  mit  16  Kindslagenbildern  ausgestattet 
war,  wie  sie  vielleicht  schon  SORANOS  für  den  Lehrzweck  hatte 
zeichnen  lassen  (Abb.  154).  In  Deutschland  hatte  dieser  „Rosen- 
garten", der  der  einschlägigen  Literatur  aller  Länder  zuvorkam,  so- 
gar noch  einen  Vorläufer,  der  schon  um  1500  oder  ganz  kurz  vor- 
her erschienen  war  und  in  Anlehnung  an  den  legendären  „Ortolff 
von  Bayerland"  einen  „Ortolffus  Doctor  der  ertzney"  als  Autor  nennt 
in  einem  „biechlin  .  .  .  wie  sich  die  schwangern  frawen  halten 
Süllen  vor  der  gepurd,  in  der  gepurd  und  nach  der  gepurd"  (7  Bl.). 
Etwas  Neues  und  Eigenes  bringt  auch  der  etwas  spätere  „Rosen- 
garten" nicht,  wohl  aber  vermittelt  er  das  bescheidene  Wissen  der 
Aerzte  des  Mittelalters  in  leichtverständlicher  Form  in  weiteste 
Kreise,  vor  allem  der  Hebammen  selbst ;  sein  Büchlein  hat  zweifellos 
Segen  gestiftet,  ist  sehr  vielfach  gedruckt,  für  die  Aerzte  aller  Länder 
in  der  lateinischen,  für  Hebammen  und  Chirurgen  aller  Länder  in 
deren  Landessprachen  übersetzt  und  bis  in  das  17.  Jahrhundert  immer 
wieder  neu  aufgelegt  worden. 

Wichtig  war  es  vor  allem  weiter  für  die  fernere  Entwicklung 
der  Geburtshilfe,  daß  sie  in  die  Hände  der  Chirurgen  kam.  Mit 
Ehren  ist  da  zuerst  ein  Steinschneider  in  Zürich  zu  nennen,  Jakob 
RUEFF,  der  1554  seine  „Schön  lustig  Trostbüchle  von  den  empfengk- 
nussen  und  geburten  der  menschen"  hinausgehen  ließ.  Er  spricht 
sich  bedingt  für  den  Austritt  in  Fußlage  aus,  erwähnt  die  Arm- 
lösung nicht,  empfiehlt  aber,  einen  Druck  auf  den  nachfolgenden 
Kopf  von  außen  auszuüben.  Zur  Extraktion  des  toten  Kindes  gibt 
er  den  gezähnten  Entenschnabel  und  andere  Zangen  nach  dem  Vor- 
bilde der  Araber  an.  Anatomisches  entnimmt  er  für  die  weiblichen 
Genitalien  dem  Vesal,   beachtet  das  knöcherne  Becken   aber  nicht. 

Bei  Pare  ist  bahnbrechend  die  Lehre  von  der  Wendung  auf 
die  Füße  mit  nachfolgender  Extraktion  in  allen  Fällen  außer  bei 
vollkommener  Kopflage.  Die  Wendung  auf  den  Kopf  nennt  P. 
gar   nicht  mehr,   und   das   ist   das  Grundstürzende   gegenüber  2000- 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts.  299 

jähriger  Lehre.  Auch  als  Büttel  der  Geburtsbeschleunigung  hat  er 
die  Wendung  auf  die  Füße  verwendet,  z.  B.  bei  Placenta  praevia, 
die  P.  zum  ersten  Male  erwähnt,  wie  er  auch  zum  ersten  Male  die 
Kindsbewegungen  als  Mittel  zur  Erkennung  des  Lebens  des  Kindes 
hervorhebt.  Den  Kaiserschnitt  an  der  Toten  beschreibt  er,  während 
er  von  dem  an  der  Lebenden  abrät,  den  sein  bedeutender  Schüler 
Jacques  Guillemeau  (i  550 — 1 609)  in  seiner  Gegenwart  mit  schlimmem 


Abb.   155.     Geburt  auf  dem  Stuhl.     Titelbild  des  Rcefk   1354. 

Ausgang  ausgeführt,  wie  denn  auch  noch  drei  andere  Kaiser- 
schnitte durch  Pariser  Chirurgen  damals  tödlich  ausgingen.  Guil- 
lemeau erweitert  noch  die  Indikationen  der  Wendung  mit  nach- 
folgender Extraktion  an  beiden  Füßen,  verlangt  die  Drehung  der 
Frucht,  so  daß  der  Rücken  nach  vom  sieht,  kannte  schon  die  Ge- 
sichtslage und  die  Gebärmutterzerreißung  bei  der  Wendung,  sowie 
die  Placentaretention  durch  Striktur  des  Orificium  uteri.  Pare 
und    Guillemeau    haben     auch    schon    das    accouchement    force 


300 


Die  großen  Reformbestrebungen  des    i6.  Jahrhunderts. 


ausgeführt.  Den  Kaiserschnitt  an  der  Lebenden,  -den  1500  der 
Schweizer  Schweineschneider  Jakob  Nufer  an  der  eigenen  Frau 
mit  Erfolg  ausführte  und  neben  anderen  unsicheren  Fällen  im 
16.  Jahrhundert  auch  Marcello  Donato  mit  Fug  zu  berichten 
scheint,  hat  gegen  Pare  der  Pariser  Fran(;:ois  Rousset  1581  mit 
Nachdruck  verteidigt  und  1595  Scipione  Mercurio  nach  Angaben 
seines  Lehrers  Aranzio  wegen  engen  Beckens  auszuführen  vor- 
geschrieben. Mercurio  empfiehlt  in  seiner  in  manchem  recht  rück- 
ständigen Schrift  „La  Comare"  (die  Hebamme)  bei  fetten  Frauen 
eine  Art  Hängelage,  wie  auch  schon  Avicenna. 


Abb.   156.     Mercurio,  Lagerung  fetter  Frauen  zur  Geburt; '1595. 

Es  läßt  sich  nicht  leugnen,  auch  in  der  Geburtshilfe  sind  die 
Tage  des  Fortschreitens  angebrochen.  Wissenschaft  und  chirurgische 
Erfahrung  vereinigen  sich,  sie  auf  die  Bahn  des  Erfolges  zu  führen, 
geleitet  vom  Geiste  eigener  unbefangener  Beobachtung. 


Für  die  Augenheilkunde  gilt  ein  Gleiches  noch  nicht  in  dieser 
Zeitspanne.  Selbst  Vesalius  ist  in  der  Anatomie  des  Auges  über 
Galenos  kaum  hinausgekommen,  und  was  die  Physiologie  des 
Auges  und  die  Optik  angeht,  so  hat  erst  Johannes  Kepler  hier 
einen  wirklichen  Fortschritt  gebracht,  wie  Harvey  auf  anderen  Ge- 
bieten und  etwa  gleichzeitig  mit  ihm;  das  kommt  also  hier  noch 
nicht   in  Frage.     Auch  Pare   bedeutet  hier  kaum    ein    beachtliches 


Die  großen  Reformbestrebungen  des   i6.  Jahrhunderts.  301 

Weiterschreiten,  während  allerdings  Pierre  Franco,  wie  schon  an- 
gedeutet, der  erste  große  Staroperateur  seit  den  Arabern  gewesen 
ist.  GuiLLEMEAUs  Abriß  der  Augenkrankheiten  bringt  1585  noch 
keinen  eigenen  Leistungen,  ist  aber  die  einzige  zusammenfassende 
Darstellung  bis  zur  Wiedergeburt  der  Augenheilkunde,  die  einiger- 
maßen brauchbar  genannt  werden  kann.  Georg  Bartischs  von 
Königsbrück  bei  Dresden  „Augendienst",  dem  kleine  deutsche  Trak- 
tätchen  über  Augenleiden  vorausgingen,  ist  die  Arbeit  eines  wackeren 
Wundarztes  voll  redlichen  Strebens,  guter  Beobachtungsgabe  und 
unleugbaren  Geschicks,  der  uns  in  jeder  Beziehung  Respekt  einflößt, 
ohne  daß  man  ihm,  trotzdem  ihm  ein  gesunder  Wagemut  nicht  ab- 
zusprechen ist  —  er  hat  die  erste  Exstirpatio  bulbi  ausgeführt  — 
den  Namen  eines  Erneuerers  der  Augenheilkunde  oder  eines  Re- 
formators zusprechen  könnte. 


Abschluß  und  Ausblick. 

HOHENHEIM  hatte  immer  auf  Hippokrates  als  den  Einzigen 
hingewiesen,  der  noch  Bestand  habe,  während  alle  anderen  ver- 
schwinden müssen;  man  habe  den  großen  Koer  nur  nicht  richtig 
verstanden.  Noch  in  einer  seiner  allerletzten  Schriften  bietet  er  ein- 
führend den  hippokratischen  Aerzten  seinen  Gruß.  Das  war  aber 
keineswegs  etwa  eine  vereinzelte  Erscheinung,  im  Gegenteil.  Auch 
anderen  wurde  die  Parteinahme  für  Hippokrates  zum  Banner  des 
Fortschrittes  auf  dem  Wege  methodischer  Induktion,  zur  Ueber- 
windung  auch  des  humanistischen  Neugalenismus,  der  die  Medizin 
in  neue  verhängnisvolle  Fesseln  zu  schlagen  drohte,  trotzdem  seine 
Ueberwindung  schon  angebahnt  war. 

Bei  der  um  die  Mitte  des  i6.  Jahrhunderts  einsetzenden  Ab- 
lehnung der  z.  B.  von  Lorenz  Fries  (f  153 1)  und  der  Masse  der 
Praktiker  noch  mit  viel  Ernst  betriebenen  Uroskopie  war  die  Beob- 
achtung von  starkem  Einfluß,  daß  in  den  Hippokratischen  Schriften 
von  deren  hervorstechender  Wichtigkeit  nichts  zu  finden  sei.  Besonders 
deutsche  Aerzte,  wie  Bruno  Seidel,  Wilh.  Ad.  Scribonius,  Joh. 
Lange,  Siegmund  Kölreuter,  der  Niederländer  Piter  Foreest, 
taten  sich  hierin  hervor,  auch  der  Italiener  L.  Botallo.  In  der 
Pulslehre  begann  man  an  den  Dogmen  des  Galenos  zu  zweifeln, 
wie  die  Briefe  Andreas  Dudiths  dartun,  die  auch  gegen  die  Harn- 
schau sich  wenden. 

Andere  Galenische  Lehren  bekämpfen  in  Italien  Girolamo 
Cardano  (1501 — 1576),  der  Platoniker  Bernardino  Telesio  (1508 
bis  1588),  Giovanni  Argenterio  {15 13  — 1572),  in  Frankreich  die 
beiden  hervorragenden  Aerzte  Laurent  Joubert  (1529 — 1583)  und 
Jean  Fernel  (1485 — 1558).  Joubert  wendete  sich  besonders  gegen 
die  Lehre  von  der  Säftefäulnis  als  Fieberursache,  Fernel  nimmt 
Solidarpathologisches  und  Dynamistisches  in  sein  System  auf,  leitet 
die  Organtätigkeit  von  Bau  ihrer  morphologischen  Elemente  ab,  die 
von  der  Wärme  belebt  werden,  deren  Träger  die  Spiritus  sind  usw. 
Auch  um  Aristoteles  und  Plato  ging  ja  immer  noch  der  Streit, 
und  es  waren  noch  immer  gerade,  die  den  Aristoteles  größten- 
teils  ablehnten,   auch  die  Träger  des  Fortschrittes  und  seine  Wege- 


Abschluß  und  Ausblick. 


303 


bereiter  in  Naturwissenschaft  und  Medizin,  so  der  Spanier  Luis 
ViVES  (1492 — 1540)  und  der  Franzose  Pierre  de  la  Ramee 
(Petrus  Ramus,  15 15 — 1572),  der  so  warm  auch  für  Hohexheim 
eingetreten  ist.  Ramus  forderte  1562  feierlich  die  endliche  Befreiung 
des  medizinischen  Unterrichtes  von  den  Fesseln  der  Scholastik,  beide 
verlangten  neue  Methoden  der  Forschung  und  erkannten  die  Not- 
wendigkeit klinischer  Unterweisung  der  jungen  Aerzte. 

Und  von  besonderer  Bedeutung  wurde  denn  auch  die  klinische 
Richtung  im  Unterricht,  die  sich  besonders  an  den  Namen  des  A''ero- 
nesen  Giov.  Battista  da  Monte  (1498 — 155 1)  knüpft,  der  sowohl 
eine  „Idea  doctrinae  Hippocraticae"  verfaßte,  als  auch  bei  einer  großen 


Abb.  157.    Giovanni  Battista  da  Monte  (Montanus). 


Galen-Ausgabe  zu  Venedig  mitarbeitete  und  einen  Teilkommentar 
zum  Kanon  des  Avicenna  schrieb,  namentlich  aber  in  seinen 
posthumen  Konsilien  („Consultationes",  1556)  auf  die  Nachwelt  ge- 
kommen ist.  Bahnbrechend  wurde  sein  methodischer  Ausbau  des 
Unterrichts  am  Krankenbette  im  Hospital  San  Francesco  zu  Padua,  zu 
dem  die  Hörer  von  weither  herbeiströmten.  Im  Aderlaßstreit  hat  er  mit 
Vesal  auf  der  Seite  des  Hippokrates  gegen  die  Araber  gestanden. 
Der  mit  dem  Tode  da  Montes  wieder  eingeschlafene  klinische  Un- 
terricht wurde  zu  Padua  1578  durch  M.  DEGLI  Oddi  und  A.  BoTTONi 
je  in  einen  Weiber-  und  Männersaal  auf  Betreiben  der  „Natio  ger- 
manica" unter  den  Studenten  wieder  aufgenommen;  vorher  schon 
war   zu   Ingolstadt  (1562)   der   Vertreter   der  Medicina  practica  zur 


304  Abschluß  und  Ausblick. 

Unterweisung  am  Krankenbette  verpflichtet  worden.  In  Padua  ent- 
artete die  klinische  Lehre  leider  bald  zu  einer  „Schola  de  pulsibus 
et  urinis".  Niederländische  Schüler  von  BüTTONi  und  DEGLI  Oddi, 
die  Ewald  Schrevelius  (1575 — 1646)  und  Jean  van  Heurne 
{1543 — 1601),  samt  dessen  Sohne  Otto  (1577—1622),  von  hippo- 
kratischem  Geiste  genährt,  überpflanzten  in  ewig  denkwürdiger  Weise 
den  Paduaner  klinischen  Unterricht  an  die  Leidener  Universität  ins 
„St.  Caecilia  Gasthuis".  In  Leiden  sollte  er  später  für  lange  Zeit 
durch  BOERHAAVE  seine  hervorragendste  Pflegestätte  finden. 

Die  klinische  Kasuistik  fand  zum  Teil  auch  noch  in  dieser  Zeit- 
spanne in  Konsilien  oder  Consultationes  ihren  Niederschlag,  wie  wir 
sie  gerade  bei  MoNTANUS  erwähnt  haben,  vielfach  auch  in  „Epistolae 
medicae"  und  „Enarrationes",  oder  aber  in  genauerer  Inhaltskenn- 
zeichnung als  „Observation es  medicinales"  bezeichnet,  ihre  Veröffent- 
lichung, wenn  man  nicht  einfach  von  „Curationes"  sprach,  gleich 
den  anspruchslosen  „Curae"  salernitanischer  Zeit.  Außer  den  schon 
Genannten  seien  einige  der  bedeutenderen  hier  noch  angeführt : 
DA  MoNTEs  Nachfolger  Trincaa^ella  (f  1568)  in  Padua,  Aless. 
Massari A  (f  1598)  in  Vicenza,  Lodovico  Settala  (f  1632),  die 
Spanier  Francisco  Lopez,  Andr.  de  Laguna  (f  1560),  Franc. 
Valles,  die  Niederländer  Rembert  Dodoens,  Josse  van  Lomm, 
besonders  Piter  Foreest,  in  Deutschland  der  hervorragende  Johann 
Crato  von  Krafftheim  (15 19 — 1586),  JOH.  Schenck  von  Grafen- 
berg (1530— 1598)  und  Thomas  Jordanus  (1540-  1585),  sowie  der 
Schweizer  Felix  Platter,  der  namentlich  auch  Geisteskrank- 
heiten beobachtete  und  in  milder  psychischer  Therapie  zu  bessern 
suchte. 

Wie  zäh  auch  die  vorwärtsstrebende  Forschung  des  ausgehenden 
16.  und  des  beginnenden  17.  Jahrhunderts  doch  noch  an  den  über- 
lieferten Formen  festhielt,  ja  wie  man  neben  dem  noch  weithin 
herrschenden  Galenismus  selbst,  zum  Teil  noch  an  dem  Scholastizis- 
mus  des  Avicenna  hing,  dafür  kann  ein  Mann  dienen,  den  man 
wohl  als  den  Vorläufer  der  physikalischen  Richtung  des  17.  Jahr- 
hunderts in  der  Medizin  mit  vielem  Recht  bezeichnet  hat,  Sanotrio 
Santoro  (1561-  1636).  Sein  Name  ist  weltbekannt  geworden  durch 
seine  Antrittsrede  zur  ersten  medizinischen  Professur  in  Padua  1612, 
in  der  er  auf  Grund  jahrzehntelanger  Wägungen  seiner  Speisen  und 
Getränke  und  der  Exkremente  die  erste  Stoffwechselschätzung  beim 
Menschen  aufstellte  und  die  Größe  der  unmerklichen  Ausscheidung 
durch  Haut  und  Lungen  zu  bestimmen  versuchte.  Diese  Abhandlung 
ist  unzählige  Male  gedruckt  worden.  Die  wichtigsten  seiner  weiteren 
Untersuchungen,  z,  B.  über  die  Körpertemperatur  mittelst  eines 
Thermoskops    (vor   Galilei),    das    man    fast   Thermometer    nennen 


Abschluß  und  Ausblick, 


305 


kann,  eines  Pulsilogiums  zur  Pulsmessung,  von  Instrumenten  zur 
Steinentfernung  aus  der  Blase,  zur  Paracentese  usw.,  teilte  er  wie 
die  Autoren  des  14.  und  15.  Jahrhunderts  in  „Commentariis  in  Artem 
medicinalem  Galeni"  (161 2)  und  namentlich  „. .  .  in  primum  fasciculum 
Libri  I  Canonis  Avicennae"  (1626}  der  gelehrten  Welt  mit.  So  fest 
saß  noch  das  scholastische  Gewand!  — 


Abb.  158.     Francis  Bacon. 


Das  ist  ein  besonders  vorgeschrittenes  Beispiel  aus  dem  Anfang 
eines'  neuen  Jahrhunderts,  aber  auch  im  16.  waren  schon  überall 
schließlich  Beobachtung  und  Forschung  am  Werke,  obschon  die 
Ergebnisse  besonders  in  der  inneren  Medizin  gering  sind.  Wenn 
man  auch  z,  B.  in  pathologisch-anatomischen  Untersuchungen  dem 
Sitz  und  dem  Wesen  der  Erkrankungen  näher  zu  kommen  trachtete, 
sind  die  eigentlichen  zusammenfassenden  Erfolge  doch  erst  späteren 
Zeitspannen  vorbehalten  geblieben. 

Aber  man  war  doch  bereits  in  beachtenswerten  Kreisen  und  in 

Mejrer-Steineg  u.  Sudholf,  Illustr.  Geschichte  der  Medixin.  20 


7o6  Abschluß  und  Ausblick, 

nicht  geringem  Maße  dazu  übergegangen,  sowohl  nach  gesunden 
Hippokratischen  Grundsätzen  die  Heilkunst  zu  pflegen,  das  über- 
lieferte Wissensmaterial  auf  allen  Gebieten  der  praktischen  Medizin 
neu  zu  prüfen  und  da  und  dort  dem  überkommenen  Bau  neue  Steine 
einzufügen.  Das  zeigen  uns  besonders  eindringlich  die  auf  uns  ge- 
kommenen Briefwechsel  hervorragender  Aerzte,  z,  B.  eines  KoNRAD 
Gesner,  eines  Crato  und  ihrer  Freunde,  und  doch  war  das  Rüst- 
zeug der  induktiven  Forschung  noch  zu  wenig  ausgebildet,  zuge- 
richtet und  geschliffen,  um  für  jeden  fleißigen  Mitarbeiter  am  ge- 
waltigen Werke  einer  Neubegründung  der  heilkundigen  Erfahrungs- 
wissenschaft jederzeit  bequem  greifbar  bereit  zu  sein,  auch  für 
die,  denen  das  Geschick  nicht  die  intuitive  Sicherheit  der  großen 
Bahnbrecher  in  die  Wiege  gelegt  hatte,  auch  die  technischen  und 
logischen  Wege  und  Mittel  mit  untrüglichem  Blicke  zu  greifen, 
die  den  Erfolg  ihnen  verbürgten.  Die  induktive  Methode  lag  in 
der  Luft;  sie  klarzulegen  und  jedermann  zugänglich  zu  machen,  be- 
durfte es  eines  Lehrmeisters.  Der  fand  sich  in  FRANCIS  "Bacon 
von  Verulam. 

Kurze  Zeit  Lord-Großkanzler  von  England,  hat  Bacon  (1561 
bis  1626)  in  „De  dignitate  et  augmentis  scientiarum"  (seit  1605) 
und  dem  „Novum  Organum  scientiarum"  (1620),  das  im  Titel 
noch  in  der  Weise  der  Renaissance  gegen  Aristoteles  Stellung 
nimmt,  es  unternommen,  eine  „Instauratio  magna"  aller  Wissen- 
schaften ,  besonders  der  Naturwissenschaften ,  auf  der  Basis  der 
Erfahrung  zu  schaffen  in  voller  Ungebundenheit  und  Freiheit,  eine 
neue  wissenschaftliche  Methode  aufzustellen,  die  der  bewußten  In- 
duktion. 

Die  Grundzüge  der  induktiven  Forschung  wurden  zum  philo- 
sophischen Prinzip  erhoben  mit  dem  Ziel  der  Erweiterung  der  Macht 
des  Menschen  über  die  Natur  durch  die  Waffen  des  Wissens,  die 
zugleich  zu  neuen  fruchtbaren  Erfindungen  führen  sollte,  wie  zur 
Beseitigung  aller  Vorurteile,  alles  Aberglaubens  und  aller  Autoritäten- 
knechtschaft. Die  Erklärung  der  Natur  und  ihrer  Gesetze  sollte 
dadurch  erreicht  werden,  daß  man  die  Naturdinge  selbst  experi- 
mentell zum  Reden  bringt,  nicht  mit  verstandesgemäßer  Ableitung 
ihnen  Normen  aufzwingt.  Vor  allem  ist  es  die  Physik,  auf  die  sich 
Bacons  Erfahrungsphilosophie  stützt ;  mit  ihrer  Hilfe  sucht  er  schließ- 
lich die  ganze  Natur  scholastisch  zu  meistern.  Für  das  Biologische 
fehlt  ihm  fast  völlig  der  Sinn.  Aber  auch  im  Physikalischen  ist  er 
nirgends  eigentlicher  Bahnbrecher  und  Selbstfinder,  sondern  ordnender 
Sammler  der  Angaben  anderer.  Schließlich  ist  ihm  die  methodo- 
logische Bearbeitung  alles.   Aber  daran  gerade  fehlte  es  ja  in  der  Natur- 


Abschluß  und  Ausblick. 


307 


Wissenschaft  seiner  Tage  noch  vielfach,  auch  in  der  Medizin,  für  die 
er  beachtenswerte  Normen  aufstellt,  deren  Neuheit  allerdings  gering 
ist ,  geringer  jedenfalls  als  ihre  Brauchbarkeit  für  die  Masse  der 
treuen  Arbeiter  im  Acker  der  Wissenschaft.  Die  Medizin  stecke, 
so  lehrt  Bacox,  eigentlich  noch  in  ihren  Anfängen.  Von  ihren 
Aufgaben:  Gesunderhaltung,  Krankenheilung  und  Lebensverlängerung 
habe  sie  die  letzte  kaum  schon  in  Angriff  genommen;  ihr  widmet 
Bacox  ein  besonderes  Buch,  in  dem  auch  Hohexheim  gewürdigt 
wird.  Nach  dem  Vorbilde  des  Hippokrates  sind  klinische  Tat- 
sachen zu  sammeln,  sorgfältigste  Krankengeschichte  unter  genauer 
Beobachtung  aller  Begleitumstände  anzulegen;  die  anatomische 
Forschung  ist  aufs  feinste  auszubauen,  auch  nach  der  vergleichend- 
und  pathologisch-anatomischen  Richtung,  die  PhN'siologie  durch  das 
Tierexperiment  vivisektorisch  zu  fördern.  Die  Einseitigkeit  der 
Humoralpathologie  ist  zu  meiden.  Unheilbarkeit  eines  Leidens  werde 
viel  zu  voreihg  geschlossen;  ein  wohlüberlegter  Heilplan  müsse  den 
Arzt  in  der  Praxis  leiten.  Alle  Arzneimittel  seien  methodisch  zu 
prüfen,  spezifische  Heilstoffe  ru  suchen  und  eine  kausale  Therapie 
anzustreben,  daneben  der  schönen  Aufgabe  des  Arztes,  der  Schmerz- 
linderung, ihr  volles  Recht  zu  geben,  selbst  das  Sterben  zu  erleichtern. 
Den  Wert  der  Chemie  für  alle  diese  Zwecke  durchschaute  Bacox 
vollkommen ;  so  sieht  er  die  künstliche  Darstellung  der  Mineralwässer 
mit  ihrer  Hilfe  voraus.  Auch  über  Nahrungsdiätetik  einschließlich 
ihrer  quantitativen  Gesichtspunkte,  über  die  Notwendigkeit  von 
Körperübungen  für  die  Gesunderhaltung  handelt  er  mit  klarem 
Blick. 

Mit  Treffsicherheit  ist  dies  alles  erschaut  und  wirkt  so,  kurz 
zusammengefaßt,  wie  ein  Programm  medizinischen  Fortschrittes,  war 
auch  so  gemeint.  Doch  muß  man  sich  vor  Ueberschätzupg  hüten. 
Das  Wesentliche  lag  schon  im  Zuge  der  Zeit  und  war  von  großen 
Geistern  schon  ein  Jahrhundert  vorher  aufgestellt  worden  —  „Ex- 
perimenta  ac  ratio".  Beobachtung,  Versuch  und  rationelle  Verwertung, 
die  hatte  schon  Hohexheim,  die  hatten  Vives  und  de  la  Ramee 
gefordert,  die  hatte  Fraxcesco  Saxchez  (1562 — 1623)  noch  kurz 
vor  Bacon  als  Wegweisung  aufgerichtet  und  neben  Bacon  der 
Deutsche  Joachim  Juxgius  {1587— 1657)  verlangt  und  schon  in  die 
Tat  umzusetzen  sich  bestrebt.  Aber  keiner,  und  das  muß  auch 
gesagt  werden,  hatte  das  mit  solcher  Gründlichkeit  und  Energie 
entwickelt  wie  eben  Bacox. 

Seine  philosophische  Festlegung  drückt  das  Siegel  auf  eine 
Entwicklung,  die  sich  allmählich,  wenn  auch  nicht  ohne  Schwanken 
seit  dem  13.  Jahrhundert,  mit  Klarheit  seit  dem  Ausgang  des 
15.  Jahrhunderts    angebahnt    hatte.     Nun    war    es    zur   endgültigen 

20* 


3o8  Abschluß  und  Ausblick. 

Auswirkung  gekommen,  was  ein  Roger  Bacox,  ein  Arnald,  ein 
Leonardo,  ein  Hohenheim  und  viele  andere  erstrebt  hatten.  Von 
Paracelsicchem  hat  Francis  Bacon  nur  das  Biologische  bei  seiner 
Grundlegung  übersehen,  das  im  Grunde  auch  dem  Vesalius  fremd 
ist.  Physik  und  in  wachsendem  Maße  auch  die  Chemie  sind  die 
treibenden  Faktoren  und  kommen  darum  auch  bei  Bacon  der  Zeit 
gemäß  zu  Geltung  ur>d  Ausdruck;  sie  werden  im  17.  Jahrhundert 
völlig  auf  den  Thron  gesetzt.  Erst  im  1 8.  Jahrhundert  kommt  nach 
vorheriger  Umkippung  ins  Animistische  das  Biologische  wieder  voll 
zu  seinem  Recht. 


IIL  Teil. 


Die  neuere  Zeit 
von  Harvey  bis  zur  Gegenwart. 


Von 


Theodor  Meyer-Steineg. 


Die  Neubegründung  der  Physiologie  durch 
William  Harvey,  die  Schule  der  latrochemiker  und 

latrophysiker. 

Von  den  großen  Reform bestrebun gen  des  i6.  Jahrhunderts 
haben  die  nachhaltigste  Wirkung  die  anatomischen  Errungenschaften 
ausgeübt,  die  Vesal  und  seine  zahkeichen  Nachfolger  der  Medizin 
geschenkt  hatten. 
Kein  Teil  der]\Iedizin 
ist  in  der  Folge  in 
einem  derart  stetigen 
Gange  fortgeschrit- 
ten wie  die  Ana- 
tomie. War  Galen 
auch  noch  keines- 
wegs endgültig  ab- 
getan, so  war  doch 
sein  alles  beherr- 
schender Einfluß  be- 
seitigt, und  die  Ana- 
tomie zu  einer  von 
Spekulationen  freien 

Naturwissenschaft 
geworden.  Man  hätte 
von  dieser  Tatsache 
an  sich  einen  starken 
Einfluß  auf  die  Wei- 
terbildung auch  der 
Physiologie  erwarten 
können.  Davon  aber 
war  keine  Rede.  Be- 
greiflicherweise: ^V^bb.  159.  1  itelblait  zu  Bauhins  Anatomie, 
denn     während    die 

Anatomie  zur  Voraussetzung  lediglich  eine  vorurteilsfreie  Betrachtung 
und  Wiedergabe  des  Gesehenen  hat,  verlangt  die  Physiologie  eine  fort- 
geschrittene allgemeine  Naturerkenntnis,  vor  allem  ein  erheblich  er- 


312     Die  NeubegTündung  der  Physiologie  durch  William  Harvey, 

weitertes  Wissen  auf  den  Gebieten  der  Physik  und  Chemie.  Da 
diese  Voraussetzung  aber  noch  fehlte,  so  konnten  die  physiologischen 
I.ehren  des  Pergameners  nach  wie  vor  —  trotz  einzelner  Sturm- 
läufe dagegen  —  als  fester  Kanon  weiter  bestehen. 

In  segensreichster  Weise  wurde  die  ganze  naturwissenschaftliche 
Forschung   beeinflußt    von    dem    „Vater    der    neueren    Philosophie" 


Abb.  i6o.     William  Harvey. 


Rene  Descartes  (1596— 1650).  Wenn  auch  schon  Bacon  von 
Verulam  (s.  oben  S.  306  f.)  zweifellos  in  dieser  Hinsicht  vorgearbeitet 
und  der  zukünftigen  Entwicklung  den  Boden  bereitet  hatte,  so 
blieb  es  doch  Descartes  vorbehalten,  die  Naturwissenschaften  in 
den  Bahnen ,  die  sie  seit  Galilei  verfolgten ,  das  entscheidende 
Stück    weiterzuführen.      Von    größter   Bedeutung    für    die    Medizin 


die  Schule  der  latrochemiker  und  latrophvsiker. 


313 


wurde  vor  allem  seine  mechanistische  Erklärung  aller  Erscheinungen 
Seine  Annahme,  daß  der  Körper  lediglich  eine  nach  mechanischen 
Gesetzen  arbeitende  Maschine  sei,  daß  seine  Funktionen  zum  größten 
Teile  auf  Bewegungsvorgängen  in  den  festen  und  flüssigen  Be- 
standteilen beruhten,  hatte  die  Forderung  zur  Folge,  daß  alle  Vor- 
gänge des  Lebens  ausschließlich  aus  den  Gesetzen  der  Physik  und 
Chemie  abgeleitet  werden  dürften.  In  diesen  Grundanschauungen 
berührt  sich  Descartes  auf  das  innigste  mit  dem  Manne,  dem  es 
dann  zum  ersten  Male  gelang,  auch  die  Physiologie  zu  dem  Rang 
einer  wirklichen  Naturwissenschaft  zu  erheben:   Wilijam  Harvey. 

William  Harvey. 

Im  Jahre  1578  zu  Folkestone  geboren,  besuchte  er  vom  15. 
Lebensjahre  ab  die  Schule  von  Cambridge,  wo  er  auch  seine  medi- 
zinischen Studien  begann. 
Diese  setzte  er  von  1599 
ab  in  Padua  fort,  haupt- 
sächlich unter  Fabricius 
AB  Aquapendente,  dem  er 
auch  die  ersten  Anregungen 
zu  der  wichtigsten  seiner 
Entdeckungen  verdankt. 
Später  war  er  Arzt  am 
Bartholomäus  -  Hospital  in 
London,  dann  ebenda  Pro- 
fessor der  Anatomie  und 
Chirurgie,  darauf  Leibarzt 
Jakobs  I.  und  Karls  L; 
nach   Oxford. 


Abb.  161.    Aus  Harveys  „Exercitatio  anatomica  de 
motu  cordis  etc." 


mit  letzterem  ging  er  eine  Zeitlang 
Nach  London  zurückgekehrt  zog  er  sich  von  der 
Oeffentlichkeit  zurück,  um  sich  ganz  seinen  Forschungen  zu  widmen, 
und  starb  ziemlich  einsam  und  in  bedrückten  Verhältnissen   1657. 

Der  hervorstechendste  Wesenszug  Harveys  war  eine  große 
Bescheidenheit,  welche  sich  nicht  nur  in  seinem  persönlichen  Auf- 
treten, sondern  auch  in  seinen  wissenschaftlichen  Arbeiten  und  der 
Art  ihrer  Veröffentlichung  ausprägt.  Erst  nachdem  er  über  andert- 
halb Jahrzehnte  mit  Beobachtungen  und  zahllosen  Experimenten  an 
dem  Problem  des  Blutkreislaufes  gearbeitet  und  sein  dann  aus- 
gearbeites  Manuskript  noch  einige  Jahre  liegen  gelassen  hatte, 
schritt  er  im  Jahre  1628  zu  seiner  Veröffentlichung,  die  den  Titel 
trug:  „Exercitatio  anatomica  de  motu  cordis  et  sanguinis  in  ani- 
malibus".  In  dieser  Schrift  führte  er  den  in  jeder  Hinsicht  schlüssigen 
Beweis,  „daß  das  Blut  infolge  des  Pulses  der  Ventrikel  durch  die 
Lungen  und  das  Herz  hindurchgehe,  sowohl  in  den  ganzen  Körper 


314     Die  Neubegründung  der  Physiologie  durch  William  Harvey, 


hineingetrieben  werde,  als  auch  unvermerkt  in  die  Venen  und  Poren 
der  Weichteile  eintrete,  daß  es  dann  auf  dem  Wege  der  Venen 
selbst  überall  von  der  Peripherie  zum  Zentrum ,  von  den  kleinen 
Venen  in  größere  zurückströme,  von  da  endlich  durch  die  Hohlvene 
in  das  Herzrohr  usw".  „So  ist  es  notwendig",  sagt  er,  ,,zu  schließen, 
daß  das  Blut  in  den  Tieren  herumgetrieben  werde  in  einer  gewissen 
kreisartigen  Weise."  Auch  die  Vorgänge  am  Herzen  selbst  werden 
von  ihm  in  ihren  einzelnen  Phasen  genau  beschrieben  und  mit  der 
Blutzirkulation  in  die  richtige  Verbindung  gebracht.  Die  einzige 
erhebhche  Lücke,  die  Harvey  unausgefüllt  ließ,  war  der  Kreislauf 
durch  die  Kapillaren,  von  deren  Vorhandensein  er  noch  nichts 
wußte.  Er  half  sich  durch  die  Annahme  von  Anastomosen  zwischen 
den  feineren  Arterien  und  Venen.  Gab  diese  erste  großartige  Ent- 
deckung Harveys  —  freilich  nicht  ohne  schwere  Kämpfe  gegen 
alle  möglichen    persönlichen   und   sachlichen  Gegnerschaften  —  den 

Anstoß  und  die  Grundlage  zu  einer 
Bearbeitung  zahlreicher  physio- 
logischer Fragen,  so  bildete  eine 
zweite  den  Unterbau  für  eine  ganz 
andere  Seite  der  medizinischen 
Wissenschaft,  die  Entwicklungs- 
lehre: denn  die  Aufstellung  des 
Satzes  „omne  vivum  ex  ovo"  machte 
mit  einem  Schlage  all  den  phan- 
tastischen früheren  Zeugungstheo- 
rien ein  Ende.  Freilich  auch  nicht 
ohne  Kampf,  der  sich  vor  allem 
nach  der  Entdeckung  der  Samen- 
tierchen (1677  durch  Ludwig  VON 
Hammen)  gegen  die  einseitige  Be- 
trachtung des  Eies  als  einzigen  Aus- 
gangspunkt der  Lebewesen  richtete. 
Aber  sowohl  die  beistimmende 
Nachprüfung  der  HARVEYschen 
Entdeckungen  wie  ihre  Bekärtipfung  bildeten  beide  einen  ungeheuren 
Antrieb  zu  weiteren  Forschungen,  Und  wie  ein  in  das  Wasser  ge- 
schleuderter Stein  noch  lange,  nachdem  er  in  der  Tiefe  verschwunden 
ist,  auf  der  sichtbaren  Oberfläche  seine  Kreise  zieht,  so  wurden 
auch  durch  die  Arbeiten  Harveys  Wellen  aufgeworfen,  die  ein 
physiologisches  Problem  nach  dem  anderen  aufrührten.  Ein  für  das 
vollkommene  Verständnis  des  Blutkreislaufes  wichtiger  Fund,  die 
Entdeckung  der  Chylusgefäße,  durch  Caspar  Aselli,  Professor  zu 
Pavia,  war  ja  im  Jahre  1622  bereits  vorausgegangen,   bekam  aber 


Abb.   162.     Niels  Stensen. 


die  Schule  der  latrochemiker  und  latrophysiker,  315 

erst  seine  volle  Bedeutung  dadurch,  daß  der  Professor  zu  Mont- 
pellier, JOH.  Pecouet,  1647  <^6n  bis  dahin  für  eine  Vene  ge- 
haltenen Ductus  thoracicus  und  seine  Verbindung  mit  den  Chylus- 
gefässen  fand,  und  JOHANNES  Vesling,  Professor  zu  Padua,  bald 
darauf  seine  Entstehung  aus  der  Vereinigung  aller  Chylus-  und 
Lymphgefässe   erkannte.     Die  feineren  Verhältnisse   am   Herzen   er- 


Abb.  163.    Anton Y  van  Leecwenhoek. 

forschte  besonders  Niels  Stensen  (Steno)  (1638— 1683I  Die  Kenntnis 
des  Gefäßsystems  wurde  vor  allem  durch  die  von  Friedrich  Ruysch 
(1638— 1731)  zuerst  ausgeführte  Injektion  außerordentlich  gefördert. 
Als  weiteres  wichtiges  Hilfsmittel  der  anatomisch-physiologischen 
Forschung  fand  das  Mikroskop  immer  zunehmende  Verwendung. 
Nachdem  Axtony  van  Leeuwexhoek  (1632 — 1723)  gezeigt  hatte, 
wie   man   mit  der  Unterstützung  des  wahrscheinlich  durch  CORNEL. 


3i6     Die  Neubegründung  der  Physiologie  durch  William  Harvey, 


Drebbel  um  162 1  entdeckten  Mikroskops  auch  solchen  Geheimnissen 
des  Lebens  auf  die  Spur  kommen  konnte,  die  dem  unbewaffneten  Auge 
des  Forschers  auf  ewig  verschlossen  bleiben  mußten,  wurde  nicht  nur 


Abb.   164.     Pflanzenzellen  aus  Leeuweuhoeks  „Areana  Naturae" 


Abb.   165.     Leeuwenhoeks  Mikroskop. 


den  zahlreichen  grob  anatomischen  Befunden  Schlag  auf  Schlag 
eine  unabsehbare  Reihe  von  Tatsachen  über  den  feineren  Bau  des 
Körpers  hinzugefügt,  sondern  auch  den  physiologischen  Unter- 
suchungsmethoden das  Eindringen  in  den  Kleinbetrieb  des  Orga- 
nismus immer  mehr  ermösflicht. 


die  Schule  der  latrochemiker  und  latrophysiker. 


317 


Die  Erfolge  waren  außerordentlich:  die  Struktur  der  Muskeln, 
des  Knochengewebes,  die  feineren  Verhältnisse  des  Kapillarkreis- 
laufes und  vieles  andere  mehr  wurde  klargelegt.  Eine  weniger  an 
sich  als  durch  ihre  Vorgeschichte  bedeutsame  Entdeckung  war  der 
von  CoNR.  Viktor  Schneider  (16 14— 1680)  erbrachte  Nachweis, 
daß  der  Schleim  nicht 
im  Gehirn  gebildet 
werde  und  von  dort 
nach  den  verschie- 
dentsten  Teilen  hin- 
abfließe, sondern  daß 
er  das  Produkt  einer 
jeden  Schleimhaut 
sei.  Hiermit  wurde 
eine  uralte  Hypo- 
these gestürzt,  welche 
rund  zwei  Jahr- 
tausende hindurch 
einen  wichtigen  Be- 
standteil der  hum  oral- 
pathologischen  Theo- 
rie ausgemacht  hatte. 


Die  hauptsäch- 
lich von  Desc AKTES 
ausgehende  Anre- 
gung, die  Physiologie 
auf  Physik  und  Che- 
mie aufzubauen,  wur- 
de von  der  Medizin 
begierig  aufgenom- 
men und  führte  zur 
Ausbildung  zweier 
Schulen,  von  denen 
weiter  unten  noch  zu 
reden  sein  wird.  Auf  die  Weiterbildung  der  Krankheitslehre  hatten 
diese  großen  Errungenschaften  erst  allmählich  einen  Einfluß.  Ob 
man  darin  eine  weise  Selbstbeschränkung  der  zahlreichen  Forscher 
sehen  darf,  welche  zunächst  Bau  und  Funktionen  des  normalen 
Körpers  kennen  zu  lernen  suchten,  bevor  sie  an  das  schwierigere 
Problem  des  Krankseins  gingen,  ist  nicht  ohne  weiteres  zu  sagen. 
Jedenfalls  scheiterten  die  wenigen,  die  das  Wagnis  unternahmen,  an 


Abb.   166.    JoH.  Baptista  van  Helmont. 


3i8     Die  Neubegründung  der  Physiologie  durch  William  Harvey, 

die  Stelle  der  GALENschen  Krankheitslehre  etwas  Neues  zu  setzen, 
vollkommen.  Das  zeigte  besonders  deutlich  der  Flame  Johann 
Baptista  van  Helmont  (1577  — 1644).  Dieser  Mann  bildet  gleich- 
sam die  Brücke  zwischen  Paracelsus  und  seinen  Anhängern  zu 
den  erwähnten  naturwissenschaftlichen  Schulen  und  läßt  in  seinen 
Anschauungen  und  Lehren  deutlich  die  zwiespältige  Stellung  eines 
Forschers  erkennen,  der  den  Versuch  machte,  alte  Theoreme  mit  neuem 
Inhalte  zu  erfüllen.  Ein  vielseitiger  Geist  von  universeller  Begabung 
—  er  studierte  nacheinander  Mathematik  und  Astronomie,  dann  Theo- 
logie, darauf  Jurisprudenz,  Botanik  und  schließlich  Heilkunde.  In  seiner 
Hauptschrift:  „Ortus  medicinae  id  est  initia  physicae  inaudita.  Pro- 
gressus  medicinae  novus  in  morborum  ultionem  ad  vitam  longam" 
führte  er  alle  Lebensfunktionen  auf  ein  oberstes  Lebensprinzip,  den 
„Archaeus",  zurück.  Jeder  einzelne  Teil  des  Körpers  hat  seinen 
eigenen  „Archaeus  insitus",  durch  deren  harmonisches  Zusammen- 
wirken das  normale  Leben,  die  Gesundheit,  bedingt  ist.  Als  princeps 
regulator  aber  steht  über  der  Gesamtheit  der  „Archaei  insiti"  ein 
von  außen  her  kraft  göttlichen  Einflusses  wirkender  „Archaeus 
influus."  Krankheit  unterscheidet  sich  im  Wesen  nicht  von  der 
Gesundheit,  besteht  vielmehr  ausschließlich  in  den  veränderten  Be- 
dingungen, in  welche  eine  „Idea  morbosa"  den  Körper  oder  einzelne 
seiner  Teile  versetzt.  In  diesen  stark  mystischen  Grundanschauungen 
ist  die  Berührung  mit  Paracesus  ohne  weiteres  erkennbar;  sie 
werden  von  ihm  in  geistreicher  Weise  zu  einem  umfassenden  System 
ausgesponnen.  Van  Helmont  war  aber  ein  viel  zu  naturwissen- 
schaftlich geschulter  Mann,  um  bei  derartigen  Vorstellungen  halt 
zu  machen.  Seine  chemischen  Kenntnisse  —  er  ist  der  Entdecker 
der  Kohlensäure  und  hat  den  Begriff  der  „Gase"  allgemein  ein- 
geführt —  leiteten  ihn  zu  dem  Versuche  hin,  für  die  einzelnen 
Krankheitserscheinungen  einen  chemischen  Ausdruck  zu  finden. 
Er  läßt  durch  die  krankhafte  Stimmung  des  „Archaeus"  gewisse 
chemische  Veränderungen  im  Körper  entstehen,  z.  B.  erklärt  er  die 
Gicht  als  eine  abnormale  Säurebildung  im  Blut,  welche  eine  krank- 
hafte Funktion  der  Nieren,  mangelhafte  Ausscheidung  gewisser 
Stoffe  durch  dieselben  und  daher  Ablagerung  dieser  Materie  in  den 
Gelenken  zur  F'olge  habe. 

Die  Verwandtschaft  seines  „Archaeus"  mit  der  Hippokratischen 
„Physis"  tritt  deutlich  in  der  Ansicht  zutage,  daß  der  erstere  an 
sich  das  Bestreben  zeige,  die  Krankheit  wieder  zu  beseitigen.  Auch 
in  seiner  Bevorzugung  einfacher  Maßnahmen  ist  dieses  ersichtlich. 
Diätverordnungen,  Abführmittel,  mäßige  Aderlässe  u.  ä.  spielen  des- 
halb bei  ihm  eine  wichtige  Rolle.  In  der  Erklärung  ihrer  Wirkung 
tritt    freilich    wieder   sein    Mysticismus    hervor:    sie    sollen    nämlich 


die  Schule  der  latrochemiker  und  latrophysiker. 


319 


weniger  unmittelbar   auf  den  Körper  wirken,   als  vielmehr   in  erster 
Linie  im  Archaeus  heilsame  Tendenzen  erregen. 

Alles  in  allem  liegt  das  Wesen  der  HELMONTschen  Lehren 
darin,  daß  er  —  ähnlich  wie  Paracelsus  —  die  IVIedizin  weder 
als  bloße  Naturwissenschaft  noch  auf  dem  Wege  der  reinen  Em- 
pirie behandelt  sehen  wollte,  sondern  in  inniger  Verbindung  mit 
gewissen  philosophischen  Erkenntnissen  und  religiösen  Vorstellungen 
eine  Art  Einheit  von 
Natur  und  Geist 
in  ihr  herzustellen 
suchte. 

Es  ist  somit  nicht 
zu  verwundern,  daß 
Helmont  keine 
Schule  gemacht  hat. 
Die  Zeit,  in  welcher 
seine  Hauptschriften 
erschienen,  trug  be- 
reits die  Zeichen 
eines  ganz  anders 
gearteten  Geistes, 
des  Geistes  einer 
nüchtern  naturwis- 
senschaftlichen Be- 
trachtungsweise, wie 
sie  Harvey  mit  so 
großem  Erfolge  bei 
seinen  Forschungen 
in  Anwendung  ge- 
bracht hatte.  Statt 
mit  geistreichen  Spe- 
kulationen den  tief- 
sten Rätseln  dos 
Lebens  nachzuspü- 
ren, hatte  man  begonnen,  einzelne  Fragen  der  Anatomie  und  Physio- 
logie streng  naturwissenschaftlich  zu  bearbeiten,  und  beschränkte 
sich  mit  vollem  Bewußtsein  darauf,  zunächst  einmal  möglichst  viel 
Bausteine  herbeizutragen,  aus  denen  dann  später  erst  das  stolze 
Gebäude   einer  medizinischen  Gesamtlehre   errichtet  werden  könnte. 

Die  unbestreitbaren  Erfolge,  welche  die  medizinische  Forschung  in 
der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  aufzuweisen  hatte,  veranlaßten 
einzelne  Forscher,  von  neuem  den  Versuch  zu  einer  zusammen- 
hängenden   Bearbeitung    der    gesamten    Heilkunde   zu    wagen,    ein 


FRANCISCUS     DELEBOt    SYLVIUS  ,  ME  DIC  INjE 


PRACTlCiE  IN  ACADEMIA  LUGDITNO-BATAVA  PROFESSOR. 


Abb.  167.     Franz  de  le  Boß  Sylvius. 


320     Die  Neubegründung  der  Physiologie  durch  William  Harvey, 

System  der  Medizin  aufzubauen.  Bei  der  wichtigen  Rolle,  welche 
die  Chemie  und  Ph3^sik  sich  bereits  in  der  Medizin  erobert  hatte, 
fiel  diesen  beiden  Naturwissenschaften  begreiflicherweise  eine  aus- 
schlaggebende Bedeutung  bei  diesen  Versuchen  zu.  Und  diese 
führten  geradezu  zur  Ausbildung  zweier  Schulen,  von  denen  jede 
eine  der  genannten  Wissenschaften  zur  Grundlage  nahm:  die  latro- 
chemiker  und   latrophysiker. 


Der  Begründer  der  ersteren  ist  der  Leydener  Professor  Franz 
DE  LE  BOE  Sylvius.  Das  ist  —  wie  aus  den  obigen  Ausführungen 
zu  ersehen  ist  —  nicht  so  zu  verstehen,  als  ob  die  Idee  selbst  von 
ihm  ausgegangen  sei;  denn  in  der  Tat  gab  es  schon  vor  seinem 
Hervortreten  eine  Reihe  von  Lehrstühlen  für  Chemiatrie,  und  ein- 
zelne bedeutende  Leute,  wie  der  gelehrte  Wittenberger  Arzt  Daniel 
Sennert  (1572 — 1637),  hatten  diesen  Bestrebungen  in  gleicher  Rich- 
tung bereits  erheblich  vorgearbeitet.  Doch  war  Sylvius  der  erste, 
der  zum  Teil  durch  seine  ungewöhnlichen  Kenntnisse  und  Leistungen 
auf  allen  Gebieten  der  Medizin,  zum  Teil  durch  die  leichtfaßliche 
Art,  wie  er  seine  Anschauungen  formulierte  und  in  eine  einheitliche 
Form  zu  bringen  verstand,  zum  Teil  schließlich  durch  den  Einfluß 
seiner  gewinnenden  und  überzeugenden  Persönlichkeit,  eine  wirkliche 
Schule  zu  bilden  vermochte.  Sylvius  selbst  war  fraglos  ein  bedeu- 
tender Anatom,  davon  legen  seine  Forschungen  über  den  Bau  des 
Gehirns  (Fossa  Sylvii)  Zeugnis  ab.  Aber  diese  Seite  seiner  Arbeit 
hat  keine  unmittelbaren  Beziehungen  zu  seinem  eigentlichen  Lebens- 
werk. Dieses  ist  —  um  das  vorweg  zu  sagen  —  der  Versuch,  die 
alte  Humoralpathologie  auf  Grund  der  fortgeschrittenen  chemischen 
Kenntnisse  aufzufrischen.  Und  so  zeigt  Sylvius  nicht  nur  in  Einzel- 
heiten, sondern  in  der  Gesamtheit  seiner  Auffassungen  eine  unver- 
kennbare Verwandtschaft  mit  Galen;  eine  Verwandtschaft,  die  ihm 
selbst  wohl  kaum  so  recht  zum  Bewußtsein  gekommen  ist  und 
sicherlich  von  ihm  heftig  abgestritten  sein  würde.  Sein  Hauptwerk 
„Praxeos  medicinae  idea  nova",  das  erst  nach  seinem  Tode  erschien 
und  die  meisten  seiner  bereits  veröffentlichten  Lehren  in  vereinheit- 
lichter Form  wiedergab,  zeigt  dies  recht  deutlich. 

Der  Ausgangspunkt  seiner  Lehren  und  gleichzeitig  das  Band, 
das  seine  aus  recht  heterogenen  Bestandteilen  zusammengesetzten 
Einzelideen  zusammenhält,  ist  der  Begriff  der  „Fermentation".  Er 
versteht  darunter  jenen  Vorgang,  bei  dem  durch  die  Einwirkung 
eines  hypothetischen,  als  „Ferment"  bezeichneten  Stoffes  die  Um- 
setzung eines  Stoffes  im  Körper  in  einen  anderen  erfolge.  So  be- 
ruht nach  seiner  Vorstellung  nicht  nur  die  Umwandlung  der  Speisen 


die  Schule  der  latrochemiker  und  latrophysiker.  321 

durch  den  Sf)eichel  und  durch  das  Sekret  der  Bauchspeicheldrüse 
auf  einem  in  diesen  enthaltenen  Ferment,  sondern  auch  die  Um- 
arbeitung des  Blutes  zu  einem  den  Körper  erhaltenden  und  auf- 
bauenden Stoffe  sei  bedingt  durch  gewisse  Fermente,  welche  dem 
Blute  durch  Galle  und  Lymphe  beigemischt  würden.  Durch  solche 
unter  dem  Einfluß  der  Körperwärme  (Calor  innatus)  und  der  Lebens- 
geister (spiritus)  entstehende  Umsetzungen  würden  nun  zwei  ver- 
schiedene Arten  von  Endprodukten  erzeugt:  saure  oder  alkalische. 
Ein  richtiges  qualitatives  und  quantitatives  Verhältnis  der  beiden 
zueinander  sei  die  Voraussetzung  der  Gesundheit.  Krankheit  da- 
gegen werde  dadurch  her\'orgebracht,  daß  durch  das  Uebermaß  der 
sauren  oder  alkalischen  Stoffe  oder  durch  ihr  Auftreten  an  einem 
falschen  Ort  eine  Art  von  „Schärfen"  (acrimonia)  erzeugt  würden 
und  zwar  je  nachdem  saure  oder  alkalische  Schärfen;  diese  führten 
dann  zu  einer  Veränderung  des  Blutes,  der  Galle  oder  der  Lj'mphe, 
und  dadurch  zu  einer  Störung  des  allgemeinen  Stoffwechsels.  Die 
Krankheiten  zerfallen  demnach  in  zwei  große  Hauptgruppen :  solche, 
die  auf  einer  „sauren  Schärfe",  und  andere,  die  auf  „alkalischer 
Schärfe"  beruhen.  Wir  finden  demnach  bei  Sylvius  nicht  nur  die 
Grundanschauungen  der  Humoralpathologie  wieder,  sondern  auch 
deren  einzelne  Begriffe  (siehe  S.  62  f.). 

Für  die  Therapie  gaben  diese  Anschauungen  eine  äußerst  ein- 
fache und  dadurch  bestechende  Unterlage  ab.  Die  Hauptfrage  in 
jedem  Krankheitsfalle  war,  ob  ihm  eine  „saure"  oder  eine  „alkalische" 
Schärfe  zugrunde  liege.  In  .beiden  Fällen  bestand  die  Aufgabe  in 
einer  Umstimmung  der  vorhandenen  chemischen  Anomalie  nach 
dem  Grundsatze  „contraria  contrariis",  also  das  eine  Mal  durch  Zu- 
führung alkalischer,  dcis  andere  Mal  durch  saure  Stoffe.  Dabei  aber 
wurde  großer  Wert  auf  die  Erhaltung  der  Kräfte,  Hebung  des  all- 
gemeinen Körperzustandes  durch  ausführliche  Diätverordnungen 
gelegt.  Auch  auf  eine  möglichste  Ausschaltung  der  fortwirkenden 
Krankheitsursachen  und  eine  Milderung  besonders  hervorstechender 
Symptome  wurde  Rücksicht  genommen.  War  demnach  der  Arznei- 
schatz auch  vorwiegend  nach  chemischen  Grundsätzen  gewählt  und 
angewandt,  so  behielt  Sylvius  doch  auch  bewährte  Mittel,  welche 
außerhalb  seiner  strengeren  Indikationen  lagen,  bei. 

Daß  diese  Lehren  den  großen  Einfluß  und  die  weite  Verbreitung 
finden  konnten,  die  sie  in  Wirklichkeit  sich  verschafften,  lag  nicht 
allein  daran,  daß  sie  den  Aerzten  der  damaligen  Zeit  als  ein  bisher 
unerreichtes,  wissenschaftlich  begründetes,  in  sich  geschlossenes  System 
erschienen,  das  dabei  eine  bequeme  Handhabe  für  die  Kranken- 
behandlung abgab;  auch  nicht  allein  in  Sylvius'  hervorragender 
Lehrbegabung,   die  er  vor  allem  in  seinem   für  damalige  Zeit  ganz 

Meyer-Steineg  u.  Sudboff,  Illustr.  Geschichte  der  Medüin.  21 


322     Die  Neubegründung  der  Physiologie  durch  William  Harvey, 

neuartigen  klinischen  Unterricht  bewährte;  sondern  auch  vor  allem 
in  den  wirklich  bedeutenden  Leistungen,  welche  Sylvius  auf  dem 
Gebiete  der  Anatomie  und  Chemie   aufzuweisen  hatte. 

So  kam  es,  daß  seine  Anhängerschaft  sich  nicht  nur  auf  die  große 
Masse  der  unbedeutenden  und  kritiklosen  Aerzteschaft  beschränkte, 
sondern  auch  Leute  von  originellem  Wesen  umfaßte.  Hierzu  gehört 
vor  allem  der  englische  Forscher  Thomas  Willis  (1622  — 1675). 

Es  wäre  verkehrt,  diesen  Mann  als  einen  Schüler  des  Sylvius 
bezeichnen  zu  wollen;  dafür  war  er  in  seinem  ganzen  Denken  viel 
zu  selbständig  und  war  auch  bereits  zu  gleicher  Zeit,  wo  jenes  erste 
wichtigere  Veröffentlichungen  erschienen,  selbst  mit  Arbeiten  auf 
chemiatrischem  Gebiete  hervorgetreten.  Dennoch  ist  in  der  weiteren 
Entwicklung  Willis'  der  Einfluß  des  Sylvius  nicht  zu  übersehen. 
Auch  der  erstere  beschäftigte  sich  eingehend  mit  Gehirnanatomie, 
im  Anschluß  daran  auch  mit  Fragen  der  Nervenpathologie.  In 
seinen  physiologischen  Anschauungen  ging  er,  hierin  an  Paracelsus 
anknüpfend,  von  der  Annahme  dreier  chemischer  Prinzipien  aus; 
des  Salzes,  Schwefels,  Spiritus,  die  als  chemisch  gedachte  Grund- 
stoffe allen  Körperfunktionen  zugrunde  liegen  sollten.  Die  Vor- 
gänge selbst  läßt  er  ebenso  wie  Sylvius  auf  Fermentation  beruhen, 
diese  selbst  aber  mehr  von  gewissen  geistigen  Einflüssen  abhängig 
sein.  Also  auch  hier  eine  Verbindung  Galenischer  Humoralpatho- 
logie  mit  moderneren  chemischen  Lehren.  Die  gleiche  Mischung 
tritt  auch  in  seiner  Therapie  hervor;  doch  steht  diese  an  Konsequenz 
derjenigen  des  Sylvius  bedeutend  nach. 

Im  übrigen  fand  die  chemiatrische  Schule  besonders  in  Deutsch- 
land und  in  den  Niederlanden  großen  Anhang,  weniger  dagegen  in 
anderen  Ländern,  wie  Frankreich,  England,  Italien,  in  denen  bereits 
andere  Lehren  einen  gewissen  Boden  sich  erobert  hatten.  Die  wich- 
tigsten der  gegnerischen  Anschauungen  verkörperten  sich  in  der 
zweiten  der  genannten  Schulen,  den  latrophysikern.  Das 
treibende  Agens,  welches  zur  Ausbildung  dieser  Lehre  führte,  war 
letzten  Endes  —  wenn  man  die  rein  theoretische  Anregung  Des- 
CARTES  beiseite  läßt  —  die  Entdeckung  des  Blutkreislaufes.  Diese 
hatte  zweifellos  in  einer  gewissen  Ueberschätzung  ihrer  allgemeinen 
Bedeutung  viele  Forscher  zu  der  Meinung  verleitet,  daß  man,  wenn 
es  möglich  sei,  eine  der  wichtigsten  Funktionen  des  Organismus  auf 
mechanistischem  Wege  restlos  zu  erklären,  überhaupt  für  alle  Vorgänge 
des  Körpers  einen  physikalischen  Ausdruck  finden  müßte.  Da  die  Kennt- 
nisse auf  diesem  Gebiete  entschieden  denen  in  der  Chemie  jener  Epoche 
sowohl  an  Tiefe  als  auch  vor  allem  an  Mannigfaltigkeit  überlegen 
waren,  so  gestaltete  sich  auch  ihre  Anwendung  auf  die  Medizin  viel- 


die  Schule  der  latrochemiker  und  latrophysiker. 


323 


seitiger.  Das  zeigt  sich  schon  in  den  Methoden,  mit  denen  einer  der 
Vorläufer  der  latrophysik,  wenn  nicht  gar  ihr  eigentlicher  Begründer, 
an  seine  Probleme  herantrat:  Santorio  Santoro  (1561  — 1636), 
Professor  zu  Padua  und  Venedig. 

Mit  einer  bewunderungswürdigen  Ausdauer  ist  dieser  Mann 
dreißig  Jahre  lang  den 
Rätseln  des  Stoffwechsels 
nachgegangen,  für  die  bis 
dahin  trotz  mancher  Aen- 
derungen  in  einzelnen 
Punkten  doch  im  allge- 
meinen Galens  An- 
schauungen als  unantast- 
bares Dogma  bestehen  ge- 
blieben waren.  Mit  Hilfe 
origineller  Untersuchungen, 
deren  Ergebnisse  er  vor 
allem  in  seinem  16 14  er- 
schienenen Werke  „Ars  de 
statica  medicina"  nieder- 
legte und  zu  denen  er  von 
ihm  selbst  konstruierte 
Apparate  verschiedenster 
Art,  wie  Wagen,  Puls- 
messer, Thermometer,  Hy- 
grometer usw.  benutzte  und 
neben  anderen  Versuchs- 
personen auch  seinen  eige- 
nen Körper  hergab,  trach- 
tete er  danach,  das  Ver- 
hältnis der  von  dem  Körper 
aufgenommenen  Stoffe  zu 
den  Vorgängen  des  Wachs- 
tums und  der  Ernährung 
festzustellen      sowie       das 

Schicksal  zu  verfolgen,  welches  diese  Stoffe  bis  zur  Ausscheidung 
im  Organismus  durchmachten. 

Mit  einseitiger  Beiseitelassung  aller  chemischen  Deutungen 
glaubte  er  so  in  der  Tat  ausschließlich  mechanistisch  die  meisten 
körperlichen  Vorgänge  erklären  zu  können.  Die  Verdauung  war 
ihm  lediglich  eine  mechanische  Zermahlung  der  Speisen,  die  Auf- 
nahme des  Chylus  erfolgte  durch  den  Druck  des  sich  zusammen- 
ziehenden Darmes,  die  Absonderungen  durch  eine  Art  „vis  a  tergo"; 


Abb.    168. 


Santorio    Santoro    in    seinem    Ver- 
suchskasten. 


324       Die  Neubegründung  der  Physiologie  durch  Williaäi  Harvey, 

die  Atmung  beruhte  auf  der  Mechanik  der  Brustbewegungen,  die 
Körperwärme  auf  der  Reibung  der  Blutteilchen  usw.  Gesundheit 
war  demnach  der  ungestörte  Ablauf  aller  physikalisch-mechanischen 
Vorgänge,  Das  wichtigste  Resultat  seiner  Forschungen  war  die 
Aufstellung  des  Begriffs  der  „perspiratio  insensibilis".  Hierunter 
verstand  er  die  mit  den  Sinnen  nicht  wahrnehmbare  Ausdünstung 
durch  Lungen  und  Haut,  welche  vor  allem  anderen  erkläre,  warum 
der  Körper  nicht  ebenso  viel  an  Gewicht  zunehme,  wie  ihm  an 
Stoffen  zugeführt  werde  abzüglich  der  verschiedenen  Ausscheidungen 
(Kot,  Urin  usw.).  Gerade  diese  „unmerkliche  Ausscheidung"  erschien 
ihm  derart  wichtig  für  den  Körperhaushalt,  daß  er  in  ihrem  un- 
gestörten Ablauf  die  erste  Vorbedingung  für  den  ganzen  Gesund- 
heitszustand sah  und  umgekehrt  die  meisten  Krankheiten  auf  ein 
Versagen  dieser  Funktion  zurückführte.  Die  therapeutischen  Folge- 
rungen, die  Santorio  hieraus  zog,  waren  äußerst  einfach:  man 
hatte  in  jedem  Krankheitsfalle  vor  allem  durch  starke  Schweiß- 
erzeugung für  eine  Wiederherstellung  der  „perspiratio  insensibilis'' 
zu  sorgen.  Dieser  Arzt  ist  somit  ein  Schulbeispiel  dafür,  daß  eine 
einseitige,  scheinbar  streng  naturwissenschaftliche  Methodik  zu  thera- 
peutischen Konsequenzen  von  einem  Schematismus  führt,  wie  er  sich 
selbst  auf  Grund  grober  Empirie  selten  ausbildet. 

In  ähnhcher  Weise  ging  Giovanni  Alfonso  Borelli  (1608 
bis  1679)  aus  Neapel  vor;  doch  haben  seine  Erklärungsversuche 
einen  weit  stärkeren  mathematischen  Einschlag,  so  daß  man  ihn 
geradezu  als  latromathematiker  bezeichnet  hat.  Seine  Berech- 
nung der  mechanischen  Leistung  des  Herzens  zeigt  dieses  besonders 
deutlich.  Im  übrigen  ähneln  seine  Anschauungen  in  mancher  Hin- 
sicht denen  Willis',  in  anderer  mehr  Santorios. 
f  Am  weitesten  ging  in  seiner  rein  mechanistischen  Auffassungs- 
weise Giorgio  Baglivi  (1668— 1707),  Professor  in  Rom.  Er  glaubte 
naturwissenschaftliche  Tatsachen  festzustellen,  wenn  er  die  Arterien 
und  Venen  mit  hydraulischen  Röhren,  das  Herz  mit  einem  Pumpen- 
stempel;  die  Drüsen  mit  Sieben,  den  Brustkorb  mit  einem  Blasebalg 
und  die  Muskeln  mit  Hebeln  verglich  und  damit  nicht  nur  die  ge- 
nannten, sondern  auch  die  meisten  anderen  Funktionen  rein  physi- 
kalisch-mathematisch erklärte.  Dabei  aber  Heß  er  ganz  außer  acht, 
daß  sie  fast  durchweg  auch  mit  chemischen  Vorgängen  einhergehen. 
Auch  die  Krankheitserscheinungen  wollte  er  ausschließlich  aus  physi- 
kalischen Zustandsänderungen,  nämlich  einem  vermehrten  oder  ver- 
minderten Tonus  der  festen  Teile  erklären.  Dieser  einseitigen  Ein- 
stellung aber  war  er  sich  insofern  durchaus  bewußt,  daß  er  sich  von 
ihr  ausschließlich  in  seinen  theoretischen  Betrachtungen  beherrschen 


die  Schule  der  latrochemiker  und  latrophysiker. 


325 


ließ  und  sie  ausdrücklich  von  der  Praxis  sonderte.  Während  also 
die  übrigen  Aerzte  dieser  Richtung  ihre  Theorie  zur  Unterlage  für 
die  Praxis  zu  machen  bestrebt 
waren,  trennte  Baglivi  beide  voll- 
kommen voneinander  und  betonte 
für  Krankheitslehre  und  Therapie 
die  Notwendigkeit  eines  geläuterten 
Erfahrungsstandpunktes. 

Ueberhaupt  scheint  die  Er- 
kenntnis, daß  man  auf  dem  von 
den  latrochemikern  und  latro- 
physikern  eingeschlagenen  Wege 
im  günstigsten  Falle  wohl  wert- 
volle Bereicherungen  des  theore- 
tischen Wissens,  viel  weniger  aber 
eine  Förderung  der  praktischen 
Krankenbehandlung  erzielen  könne, 
allmählich  immer  weitere  Kreise 
gezogen  und  zu  einer  gesunden 
Reaktion  geführt  zu  haben.  An- 
dernfalls wäre  die  Gefahr,  daß 
sich  die  Medizin  in  spitzfindigen 
naturwissenschaftlichen  Problem- 
suchereien  erschöpfte,  nicht  gering  gewesen  —  sehr  zum  Schaden 
der  Kranken  und  des  Aerztestandes. 


ALL. 


:o  Baglivi. 


Die  Reform  der  praktischen  Medizin  durch 

Thomas  Sydenham,  Kasuistik  der  Krankheiten  und 

neue  Heilmethoden. 

Die  Einsicht,  daß  es  trotz  der  fortgeschrittenen  naturwissen- 
schaftlichen Kenntnisse  noch  nicht  möglich  sei,  ein  wissenschaftliches 
System  der  Medizin  7U  begründen,  in  dem  die  Theorie  wirklich 
eine  zuverlässige  Unterlage  für  die  Praxis  gab,  war  bei  vielen 
Aerzten  des  17.  Jahrhunderts  trotz  der  bestechenden  Lehren  der 
verschiedenen  Schulen  nicht  verloren  gegangen.  Mußte  ihnen  doch 
gerade  die  Tatsache,  daß  diese  in  ihren  Ansichten  oft  sehr  weit 
auseinandergingen,  vor  Augen  führen,  daß  nur  die  eine  oder  die 
andere  Schule  recht  haben  könne.  Das  ließ  aber  bei  manchen  den 
Zweifel  entstehen,  ob  überhaupt  der  ganze  Weg,  den  die  Medizin 
unter  dem  Einflüsse  der  Naturwissenschaften  einschlug,  grundsätzlich 
richtig  sei.  Und  dieser  Zweifel  führte  von  selbst  zu  der  Erkenntnis, 
daß  in  Wirklichkeit  die  mit  viel  Geist  aufgeführten  medizinischen 
Systeme  —  ganz  abgesehen  von  ihrer  theoretischen  Anfechtbarkeit  — 
jedenfalls  für  das  eigentliche  Ziel  der  Heilkunde,  die  praktische 
Krankenbehandlung,  sich  ziemlich  unfruchtbar  gezeigt  hatten.  Diese 
Ueberzeugung,  der  sich  sogar  Anhänger  der  betreffenden  Schulen 
wie  Sylvius,  nicht  hatten  verschließen  können,  führte  vorurteilslose, 
selbständige  Aerzte  weit  ab  von  allen  diesen  Bestrebungen  und 
nach  dem  Gesetze  der  sich  berührenden  Gegensätze  von  neuem 
zurück  zu  ärztlichen  Prinzipien,  welche  die  eigentliche  Schulmedizin 
der  latrophysiker  und  latrochemiker  gerade  glücklich  überwunden 
zu  haben  glaubte:  zum  Hippokratismus.  Man  hat  daher  auch 
den  hervorragendsten  Vertreter  dieser  Richtung  den  „englischen 
Hippokrates"  genannt.  In  der  Tat  hat  Thomas  Sydenham  sehr 
viel  Berührungspunkte  mit  Hipporates.  Schon  die  äußeren  Um- 
stände, unter  denen  beide  lebten,  ähneln  einander  in  mancher  Hin- 
sicht. Wie  im  5.  Jahrhundert  v.  Chr.  der  Widerstreit  der  verschiedenen 
ärztlichen  Schulen  die  Medizin  trotz  der  unleugbaren  Anregungen, 
die  die  Aerzte  dadurch  empfingen,  in  die  Gefahr  einer  Zersplitterung 
und  der  Abhängigkeit  von  philosophischen  Dogmen  gebracht  hatte, 
so    stand     die    Heilkunde     des    17.  Jahrhunderts     einer     ähnlichen 


Reform  der  praktischen  Medizin  durch  Thomas  Sydenham  usw.     3^27 


Bedrohung  von  selten  der  unter  dem  Einfluß  der  naturwissen- 
schaftlichen und  philosophischen  Strömungen  entstandenen  Schulen 
gegenüber. 

Thomas  Sydenham. 

Er  woirde  1624  als  Sohn  angesehener  Eltern  in  Windford-Eagle 
in  Dorsetshire  geboren,  studierte  von  seinem  22.  Jahre  ab  zunächst 
in  Oxford,  dann  in  Montpellier.  Nachdem  er  zu  Cambridge  zum 
Doktor  promoviert  worden  war,  ließ  er  sich  in  London  als  prak- 
tischer Arzt  nieder  und  wirkte  dort  bis  zu  seinem  Tode  1689.  Dieser 
Mann,  der  weder 
umfangreiche  Wer- 
ke verfaßt  hat  (seine 
ganzen  Schriften 
lassen  sich  in  einem 
mäßigen  Bande  zu- 
sammenfassen), der 
keinerlei  Lehrtätig- 
keit ausgeübt,  kein 
medizinisches  Sy- 
stem begründet  hat, 
der  überhaupt  be- 
strebt war,  mög- 
lichst wenig  mit 
seiner  Person  an  die 
Oeffentlichkeit  zu 
treten,  hat  trotzdem 
auf  die  Entwick- 
lung der  Medizin 
einen  starken  und 
lange  anhaltenden 
Einfluß  ausgeübt. 
Dieser  beruhte  zum 

größten  Teile  darauf,  daß  Sydenham,  obwohl  er  selbst  die  volle 
Kenntnis  der  naturwissenschaftlichen  Errungenschaften  seiner  Zeit 
besaß,  doch  bewußt  alle  darauf  fußenden  theoretischen  Lehren  mög- 
lichst von  dem  fernhielt,  was  er  als  die  eigentliche  Aufgabe  der 
Medizin  ansah:  Beobachtung  des  Verlaufs  der  Krankheit  am  Kranken- 
bette, des  Verhaltens  des  einzelnen  Kranken  gegenüber  dem  Leiden 
und  gegenüber  den  ärztlichen  Maßnahmen. 

Obgleich  ein  genauer  Kenner  der  hippokratischen  Werke  und 
Verehrer  des  großen  Koers,  haftet  er  doch  nicht  sklavisch  an 
dessen   Lehren.     Den   xVusgangspunkt  seiner    Betrachtungen    bildet 


Abb.   i;o.     Thomas  Sydenham. 


328       Reform  der  praktischen  Medizin  durch  Thomas  Sydenham, 

bei  Sydenham  ebenso  wie  bei  Hippokrates  die  akute  Krankheit 
mit  ihrem  regelmäßigen  und  durchsichtigen  Ablauf.  Er  begriff  die 
Krankheit  als  eine  Art  Kampf,  der  innerhalb  des  Körpers  zwischen 
einem  schädigenden  Agens  und  der  dem  Organismus  innewohnenden 
natürlichen  Heilkraft  sich  abspielt.  Dementsprechend  teilte  er  die 
Krankheitssymptome  in  solche,  die  unmittelbar  durch  die  krank- 
machende Schädigung  hervorgerufen  werden  (symptomata  essentialia), 
solche,  welche  auf  der  Reaktion  des  Organismus  dagegen  beruhen 
(symptomata  accidentalia)  und  schließlich  die  durch  das  Eingreifen 
des  Arztes  erzeugten  (symptomata  artificialia).  Zum  ersten  Male 
wieder  entwickelte  er  so  deutlich  den  Begriff  des  „Krankheits- 
prozesses" als  eines  in  verschiedenen  Phasen  ablaufenden,  vom 
ärztlichen  Standpunkte  je  nach  diesen  Stadien  ganz  verschieden  zu 
bewertenden  Vorganges;  während  bis  dahin  zumeist  alle  Krank- 
heitssymptome als  gleichwertige  Anzeichen  des  Leidens  betrachtet 
wurden.  Das  Wesen  der  chronischen  Krankheiten  sieht  Sydenham 
darin,  daß  entweder  die  Reaktion  des  Organismus  auf  die  krank- 
machende Schädigung  nur  langsam  eintritt,  oder  aber  daß  diese 
letztere  als  Krankheitsursache  längere  Zeit  fortwirkt. 

Diese  Annahme  bringt  ihn  dann  überhaupt  zu  einer  ein- 
gehenderen Untersuchung  über  die  Bedeutung .  der  Aetiologie 
für  die  Krankheiten  im  allgemeinen  und  für  die  einzelnen  im  be- 
sonderen. Während  die  überwiegende  Mehrzahl  der  Aerzte  des 
17.  Jahrhunderts  die  Ursache  der  Krankheiten  zum  erheblichsten 
Teile  außerhalb  des  Körpers  suchte,  verlegte  Sydenham  sie  vor- 
wiegend in  den  Körper  selbst,  indem  er  alle  durch  Störungen  der 
Lebensweise  entstehenden  Veränderungen  (Verdauungsstörungen, 
Blutveränderungen)  in  erster  Linie  als  Ursachen  ansprach.  Eine 
wichtige  Rolle  erteilte  er  dabei  der  individuellen  Anlage  des  ein- 
zelnen, der  Disposition. 

Was  die  Disposition  bei  dem  einzelnen,  das  bedeutet  die  „epi- 
demische Konstitution"  für  den  Ablauf  einer  als  Seuche  auftretenden 
Krankheit.  Er  versteht  unter  der  „constitutio  epidemica  seu  sta- 
tionaria"  die  Erscheinung,  daß  alle  zu  einer  gewissen  Zeit  ent- 
stehenden Leiden,  auch  solche  interkurrenter  Natur,  eine  mehr  oder 
weniger  gleichartige  Beschaffenheit  annehmen  dadurch,  daß  sie 
sämtlich  sich  auf  derselben  Grundform  entwickeln.  Diese  bereits 
bei  Hippokrates  vorhandene  und  später  ganz  vergessene  Lehre 
hat  trotz  ihrer  in  mancher  Hinsicht  irrtümlichen  Auffassungen  zweifel- 
los zu  einer  Klärung  der  Seuchenfrage  beigetragen. 

In  Sydenhams  Therapie  steht  der  ungeschriebene  hippokratische 
Grundgedanke  „^uaei?  voöawv  latpoi",  d.  h.  die  Natur  des  Menschen 
ist  sein  Arzt,  obenan.   Während  die  Jatrophysiker  und  Jatrochemiker 


Kasuistik  der  Krankheiten  und  neue  Heilmethoden.  329 

durch  ihr  aktives  Eingreifen  die  Krankheit  als  solche  zu  beeinflussen 
suchten  und  glaubten,  ihr  tatsächlich  entgegenwirken  zu  können, 
sieht  Sydenham  den  Angriffspunkt  seines  ärztlichen  Tuns  nicht  in 
der  Krankheit,  die  ja  überhaupt  nicht  etwas  Wirkliches,  sondern 
nur  etwas  Gedachtes  ist,  sondern  darin,  einmal  die  Ursachen  des 
Krankseins  möglichst  fernzuhalten  und  zu  beseitigen,  sodann  aber 
darin,  den  Organismus  des  einzelnen  Kranken  in  seinem  Kampfe 
gegen  das  krankmachende  Agens  zu  unterstützen.  Als  eines 
der  wichtigsten  Mittel,  durch  die  der  Organismus  sich  selbst  zu 
helfen  sucht,  sieht  er  das  Fieber  an.  Und  während  dieses  von 
den  meisten  Aerzten  seiner  Zeit  als  eines  von  vielen  Krankheits- 
symptomen bekämpft  wurde,  läßt  er  es  unter  allen  Umständen  sich 
selbst  auswirken.  Dabei  verkaimte  er  durchaus  nicht,  daß  aus- 
nahmsweise doch  auch  dem  natürlichen  Heilungsvorgang  entgegen- 
gewirkt werden  müsse;  nämlich  dann,  wenn  dabei  gleichsam  von 
der  Natur  ein  falscher  Weg  eingeschlagen  werde. 

Sein  Heilschatz  ist  im  Vergleich  zu  dem  anderer  Autoren  ein 
verhältnismäßig  bescheidener.  Sehr  gern  verwandte  er  den  Ader- 
laß und  ließ  sich  dabei  sogar  gewisse  Uebertreibungen  zuschulden 
kommen.  Daneben  Brech-  und  Abführmittel;  selten  dagegen  schweiß- 
erzeugende Mittel.  Trotzdem  solche  ja  das  Heilungsbestreben  der 
Natur  in  vielen  Fällen  (bei  akuten  Krankheiten  mit  kritischen 
Schweißen)  unterstützen,  lehnte  er  sie  —  wohl  vor  allem  aus  einem 
theoretischen  Gegensatz  gegen  die  latrochemiker  —  ab.  Einen 
breiten  Raum  nehmen  in  seiner  Therapie  diätetische  und  arzneiliche 
Kräftigungsmittel  ein.  Bei  allen  Heilmaßnahmen  war  er  aber  in 
erster  Linie  bestrebt,  sie  in  jedem  einzelnen  Falle  den  besonderen 
Verhältnissen  anzupassen.  Und  so  sorgfältig  er  auch  die  ver- 
schiedenen Krankheitsformen  gegeneinander  abgrenzte,  so  stand 
ihm  doch  weit  über  der  Forderung  nach  einer  exakten  Diagnose 
(d.  h.  der  Einordnung  des  Krankheitsfalls  in  ein  Krankheitsschema) 
das  Bestreben,  jedem  Kranken  die  Therapie  zukommen  zu  lassen, 
die  durch  die  Eigenart  seines  Organismus  bedingt  war. 

Es  ist  somit  das  Hauptverdienst  Sydenhams,  durch  Befür- 
wortung eines  gehobenen  Hippokratismus,  namentlich  durch  stärkere 
Betonung  der  praktischen  Ziele  der  Medizin,  den  auf  eine  wissen- 
schaftliche Theoretisierung  der  Heilkunde  gerichteten  Bestrebungen 
der  naturwissenschaftlichen  Mediziner  einen  Damm  entgegengesetzt 
zu  haben.  Und  ihm  ist  es  vor  allem  anderen  zu  danken,  daß  die 
Medizin  des  17.  Jahrhunderts  nicht  in  uferlose  Spekulationen  aus- 
artete, sondern  in  Bahnen  einlenkte,  die  allmählich  zu  einem  der 
wichtigsten  Höhepunkte  führten,  der  Begründung  der  sogenannten 
älteren  Wiener  Schule. 


330       Reform  der  praktischen  Medizin  durch  Thomas  Sydenham, 

Eine  ganze  Reihe  von  Aerzten,  die  durch  die  herrschenden 
Systeme  unbefriedigt  waren,  beschritten  einen  ähnlichen  Weg  wie 
Sydenham.  Dieser  Weg  führte  zu  verschiedenen  Zielen,  je  nach 
der  Auffassung  des  einzelnen,  die  er  von  den  Aufgaben  der  Heil- 
kunde hatte.  Das  Streben  einiger  dieser  Aerzte,  trotz  eines  be- 
wußten Verzichts  auf  ein  zusammenfassendes  medizinisches  System 
und  bei  einer  vorwiegenden  Betonung  des  praktisch-empirischen 
Standpunktes,  doch  den  positiven  Errungenschaften  —  namentlich 
auf  dem  Gebiete  der  Anatomie  —  einen  größeren  Raum  zu  ge- 
währen, führte  sie  nicht  nur  zu  eingehenderer  Beschäftigung  mit 
normaler  Anatomie,  sondern  weiterhin  zu  dem  Versuche,  auch  die 
krankhaften  Abweichungen  in  der  Struktur  der  Körperteile  in  ihre 
Forschungen  miteinzubeziehen.  Der  erfolgreichste  Vertreter  dieser 
Richtung  war  der  Schweizer  Theophile  Bonet  (1620—1689),  der 
das  Ergebnis  seiner  Untersuchungen  in  einem  1679  erschienenen 
Buche  „Sepulchretum  seu  anatomica  practica  ex  cadaveribus  morbo 
denatis"  niederlegte  und  damit  für  viele  Spätere  ein  grundlegendes 
Werk  geschaffen  hat. 

Nicht  minder  bedeutungsvoll  waren  die  Arbeiten  einer  Gruppe 
anderer  Aerzte,  welche  zum  ersten  Male  in  systematischer  Weise 
monographische  Schilderungen  einzelner  Krankheiten  sich  zur  Auf- 
gabe machten.  Der  bedeutendste  unter  ihnen  war  wohl  Sydenhams 
Landsmann  und  Zeitgenosse  Richard  Morton,  der  eine  umfang- 
reiche Monographie  über  die  Schwindsucht  geschrieben  hat;  dann 
Giovanni  Maria  Lancisi  (1654 — 1720)  und  der  Schaf fhauser  Arzt 
Wepfer,  die  beide  von  der  Gehirn apoplexie  handelten,  und  andere 
mehr.  Auch  über  Krankheiten  exotischer  Länder  wurden  Arbeiten 
veröffentlicht,  ferner  über  die  bei  bestimmten  Berufen  vorkommen- 
den Leiden  (wie  das  Buch  des  italienischen  Arztes  Bernardo 
Ramazzini  [1633 — 17 14]  „De  morbis  artificium  diatribe"). 


Die  stärkere  Betonung  des  praktisch-empirischen  Standpunktes 
brachte  sodann  auch  die  Einführung  neuer  Heilmittel  und  Methoden 
mit  sich.  Eines  der  wichtigsten,  die  Chinarinde,  war  freilich  schon 
in  den  vierziger  Jahren  des  17.  Jahrhunderts  aus  Peru  nach  Europa 
gebracht  worden  und  hatte  trotz  mannigfacher  Widerstände  sich  als 
Spezificum  gegen  die  Malaria  durchgesetzt.  Ihr  folgten  eine  ganze 
Reihe  anderer  Erzeugnisse  tropischer  Länder,  wie  die  Ipecacuanha- 
wurzel,  die  Radix  Colombo  u.  a.  m.  Auch  der  Gebrauch  der  Heil- 
quellen nahm  einen  großen  Aufschwung,  nachdem  er  seit  der 
römischen  Zeit  durch  das  Mittelalter  hindurch  —  wenn  auch  keines- 
wegs  geruht  —  so   doch  ohne  Zusammenhang   zu  der  Medizin  sich 


Kasuistik  der  Krankheiten  und  neue  Heilmethoden.  331 

gehalten  hatte.  Unter  dem  Einflüsse  der  verbesserten  chemischen 
Kenntnisse  über  die  Zusammensetzung  der  einzelnen  Quellen  sahen 
sich  nun  auch  die  Aerzte  veranlaßt,  sich  dieses  wichtigen  Heil- 
faktors wieder  mehr  zu  bedienen.  Von  anderen  Heilverfahren  ist 
noch  besonders  die  Bluttransfusion  zu  erwähnen.  Die  Anregung  zu 
dieser  Maßnahme,  welche  auch  schon  früher  theoretisch  erörtert 
worden  war,  ging  von  der  HARVEYschen  Entdeckung  des  Blutkreis- 
laufes aus.  Nach  zahlreichen  Versuchen  teils  am  Tier,  teils  an 
Menschen  wurde  der  Eingriff  wirklich  ausgeführt  durch  den  Fran- 
zosen Jean  Denis  im  Jahre  1666.  Andere  folgten.  Aber  das 
Resultat  war  —  teils  wegen  mangelnder  Asepsis,  teils  wegen  unzu- 
reichender Technik  —  so  wenig  befriedigend,  daß  die  Methode  erst 
viel  später  wirklich  in  die  Praxis  Eingang  fand. 


Abb.   171.     Zeitgenössische  Darstellung  einer  Blut-Transfusion. 


Die  Chirurgie  und  Geburtshilfe  im  17.  Jahrhundert. 

Merkwürdigerweise  traten  die  Fortschritte,  welche  die  Chirurgie 
im  17.  Jahrhundert  zu  verzeichnen  hatte,  gegenüber  denen  der 
anderen  medizinischen  Fächer  erheblich  zurück.  Man  hätte  an  sich 
gerade  für  dieses  Gebiet,  dessen  jeweilige  Höhe  doch  innig  mit 
dem  anatomischen  Wissen  verknüpft  ist,  eine  starke  Belebung  durch 


Abb.  172.    Geburtshilfliches  Demonstrationsmodell  aus  Holz  um  1650  (Jenaer  medizinisch- 
historische Sammlung). 


Die  Chirurgie  und  Geburtshilfe  im   17.  Jahrhundert. 


333 


die  erweiterten  und  verfeinerten  Kenntnisse  über  den  Bau  des 
menschlichen  Körpers  erwarten  sollen.  Daß  diese  keineswegs  ein- 
trat, lag  hauptsächlich  in  den  äußeren  Verhältnissen  begründet, 
unter  denen  die  Chirurgie  noch  immer  zu  leiden  hatte  (siehe  unten 
S.  338  f.).  Hierzu  gehörte  vor  allem  die  noch  immer  vorhandene 
scharfe  Trennung  von  der  übrigen  Medizin,  welche  sie  an  ihren  Er- 
folgen nur  im  geringen  Maße  teilnehmen  ließ,  und  die  auf  die 
Stellung  und  das  Ansehen  der  Chirurgie  nicht  wenig  drückte.  Aller- 
dings fehlte  es  auch  an  bedeutenden  iMännern,  die  sich  der  Chirurgie 
besonders  gewidmet  hätten.  Am 
ersten  gab  es  tüchtige  Chirurgen 
noch  in  Frankreich,  wo  seitPARE 
{s.  S.  294  f.)  sich  dieses  Fach 
immer  noch  einer  gewissen  Pflege 
zu  erfreuen  hatte.  Reichte  auch 
niemand  an  diesen  Meister  an- 
nähernd heran,  so  konnte  doch 
ein  Mann,  wie  der  17 18  gestor- 
bene Pierre  Dionis,  mit  seinem 
Werke  „Cours  d'operations  de 
Chirurgie"  eine  gewisse  Beach- 
tung beanspruchen.  In  Itahen 
ragte  Cesare  Magati  (1579 
bis  1648)  durch  seine  einfachen 
und  rationellen  Grundsätze  der 
Wundbehandlung  über  eine 
ganze  Anzahl  anderer  mittel- 
mäßiger Vertreter  der  Chirurgie 
empor;  in  England  war  der  be- 
deutendste Chirurg  der  Leibarzt 

Jakobs  I.,  Richard  Wisemann.  Wohl  der  hervorragendste  Chirurg 
dieser  Zeit  überhaupt  war  der  deutsche  Wundarzt  Wilhelm  FABRYVon 
Hilden  bei  Cöln  (1560 — 1634).  Man  hat  ihn  —  etwas  kühn  —  sogar 
den  deutschen  Pare  genannt.  Seine  Hauptverdienste  bestehen  in 
der  Bereicherung  des  Instrumentariums  sowie  seinem  Vorschlag  zur 
Verwendung  einer  mit  einem  Knebel  versehenen  Binde  zur  Um- 
schnürung der  Glieder  bei  der  Amputation.  Auch  die  Vornahme 
der  ersten  Magnetextraktion  eines  Eisensplitters  aus  dem  Auge  wird 
ihm  zugeschrieben. 

Erheblich  günstiger  gestaltete  sich  im  17.  Jahrhundert  die  Ge- 
burtshilfe, obgleich  die  äußeren  Verhältnisse  —  wie  weiter  unten 
noch  zu  zeigen  sein  wird  —  einer  Hebung  dieses  Faches  durchaus 
nicht  günstig  waren.    Zweifellos  ist  es  das  Verdienst  einiger  Frauen, 


'jt  aüb'mew.Jiihn  ijtUqc 


Abb.    1-3.      JUSTINA   SiEGEMüNDIN. 


334 


Die  Chirurgie  und  Geburtshilfe  im   17.  Jahrhundert. 


die  erste  Anregung  zu  einer  besseren  Ausgestaltung  der  Geburts- 
hilfe gegeben  zu  haben.  Vor  allem  wurde  die  Gründung  einer 
eigenen  Gebäranstalt  am  Pariser  Hotel  Dieu  vorbildlich,  indem  an 
ihr  Hebammen  eine  auf  wirklichen  Kenntnissen  und  Leistungen  be- 
gründete Ausbildung  erhielten.  Zu  diesen  Frauen  zählte  namentlich 
Louise  Bourgeois  (1564 — 1612),  die  nicht  nur  praktisch  als  Heb- 
amme tätig  war,  sondern 
auch  eine  Schrift  „Ob- 
servations  diverses"  ver- 
faßte. Eine  noch  größere 
Bedeutung  kommt  Mar- 

GUERITE  DU  TeRTRE  ZU, 

die  seit  1660  als  Ober- 
hebamme und  erste  Leh- 
rerin der  Geburtshilfe 
am  Hotel  Dieu  wirkte. 
In  Deutschland  war  die 
hervorragendste  Vertre- 
terin dieses  Faches  Ju- 
stine Siegemund  gegen 
Ende  des  17.  Jahrhun- 
derts; sie  zeichnete  sich 
in  ihrem  Berufe  so  aus, 
daß  sie  als  „Churbranden- 
burgische  H  of  -  Wehen - 
mutter"  nach  Berlin  be- 
rufen wurde.  Auch  ver- 
faßte sie  ein  recht  gutes 
Hebammen-Lehrbuch. 


Q^aaiJt/vruni f/ürurqoru  iAtvi/unsiti /oni/tii/,  ^ 
ac  cyflulierum, ^agnanluun,po/üu iL/ifu//n  >  ^ 
et  oujertKrarupi  ■  c,Atorl)lj 


-;/-'■ 


Abb.   174.     Franc;ois  Mauriceau. 


Durch  das  Wirken 
dieser  und  einer  Reihe 
anderer  ausgezeichneter 
Geburtshelferinnen  war  der  Boden  so  vorbereitet,  daß  nunmehr 
—  nach  Ueberwindung  des  Vorurteils  gegen  das  Eingreifen 
männlicher  Geburtshelfer  überhaupt  —  auch  Aerzte  sich  dem  Fache 
in  steigender  Zahl  zuwandten.  Nachdem  JuLES  Clement  (1649  bis 
1729)  auf  die  Aufforderung  Ludwigs  XIV.  die  Dauphine  entbunden 
und  damit  den  Bann  gebrochen  hatte,  traten  die  Namen  dreier 
anderer  französischer  Geburtshelfer  an  die  üeffentlichkeit:  Franc^OIS 
Moriceau  (1637— 1709),  Paul  Portal  (gest.  1703)  und  Guillaume 
Mauquest  de  LA  Motte  (1655 — 1737).     Während   der  erste  dieser 


Die  Chirurgie  und  Geburtshilfe  im   17.  Jahrhundert. 


335 


drei  Aerzte  noch  mit  starken  Widerständen  zu  kämpfen  hatte  und 
zunächst  einmal  die  Untersuchung  der  Schwangeren  von  Grund  auf 
neu  gestalten  mußte,  worin  er  von  dem  zweiten  unterstützt  wurde, 
hat  Mauquest  de  LA  Motte  in  seinem  Werke:  „Traite  complet 
des  accouchements  naturels,  non  naturels  et  contre  nature"  zum  ersten 
Male  versucht,  für  die  Behandlung  aller  vorkommenden  Geburts- 
formen bestimmte  Grund- 
sätze aufzustellen.  Für  alle 
normalen  Fälle  hielt  er  das 


Abb.   175. 


Abb.   176. 


Abb.   175.    Darstellung  der  weiblichen  Sexualorgane  aus  Maurickau,  „Traite  des  Malacfies 
des  femmes  grosses  etc."     Paris   1740. 

Abb.   176.     Darstellung  von  Geburtsbett  und  Stuhl  etc.  aus  Justine  Siegmund,  „Unter- 
richt von  schweren  und  unrecht  stehenden  Geburten."     Cöln  a.  Spree  1690. 


abwartende  Verfahren  allein  für  angezeigt  und  trat  für  eine  genaue,  auf 
guten  anatomisch-physiologischen  Kenntnissen  beruhende  Beobachtung 
ein,  die  namentlich  sich  auf  ein  sorgfältiges  Abwägen  der  natürlichen, 
in  der  Wehetätigkeit  zutage  tretenden  Kräfte  des  Geburtsorganismus 
richtete.  In  solchen  Fällen  verwirft  er  jedes  aktive  Eingreifen.  Da- 
gegen  macht  er  bei   den   nicht  normal  verlaufenden   Geburten,   die 


336 


Die  Chirurgie  und  Geburtshilfe  im   17.  Jahrhundert. 


durch  irgendeinen  Umstand  erschwert  werden,  von  gewissen  ein- 
fachen äußeren  Maßnahmen  Gebrauch.  Nur  bei  den  regelwidrigen 
Lagen  wendet  er  innerhch  die  Wendung  —  die  er  sorgfältig 
ausgebildet  hat  —  und  im  äußersten  Notfalle  auch  zerstückelnde 
Eingriffe  an. 


Ol^efi  ^f-ij/ftiaai-.  i'o-me'n^.i'uldi^f .   en  jtrj^u/Ut    tUaarde.    ff-taxjtS 


Abb.   177.     Titelblatt  zu  Deventers   1700  erschienenem  Werke. 


Das  Aerztewesen  im  17.  Jahrhundert. 

Im  17.  Jahrhundert  ist  —  offensichtlich  unter  dem  Einfluß  der 
wissenschaftlichen  Fortschritte  auf  vielen  Gebieten  der 'Medizin  — 
auch  eine  entschiedene  Hebung  ;des  Aerztestandes  zu  bemerken. 
Wenn  auch  nach  wie  vor  eine  staatliche  Approbation  nicht  die 
Voraussetzung  für  die  Berufsausübung  bildete,  sondern  immer  noch 
die  medizinischen  Fakultäten  sämtlicher  deutschen  Universitäten  das 
Recht  hatten,  für  ganz  Deutschland  die  Erlaubnis  zum  Praktizieren 
zu  erteilen,  so  sorgte  doch  wenigstens  der  Staat  dafür,  daß  die 
Aerzte  bei  der  Ausübung  ihrer  Tätigkeit  weitgehenden  .Schutz  ge- 
nossen. Die  von  den  Universitäten  „rite"  zugelassenen  Aerzte,  die 
man  als  „medici  puri"  bezeichnete,  erfreuten  sich  einer  steigenden 
Achtung.  Auf  deren  Wahrung  waren  sie  denn  auch  peinlichst  be- 
dacht. Ihre  besondere  Tracht,  die  sie  jedem  ohne  weiteres  kennt- 
lich machte,  ihr  würdevolles,  gravitätisches  Auftreten  hoben  sie  aus 
der  Menge  heraus.  Auch  vermieden  sie  ängstlich  alles,  was  sie  in 
den  Augen  des  Publikums  hätte  herabsetzen  können,  so  vor  allem 
jede  Betätigung,  bei  denen  eine  eigene  Handreichung  erforderlich 
gewesen  wäre.  Chirurgische  Eingriffe,  Beistand  bei  der  Geburt,  ja 
selbst  mancherlei  notwendige  Untersuchungen  gehörten  nicht  zu 
ihren  Funktionen.  Sie  waren  zwar  oft  dabei  zugegen,  legten  aber 
nicht  selbst  mit  Hand  an.  Im  wesentlichen  beschränkte  sich  ihr  ganzes 
Tun  auf  die  Stellung  der  Diagnose  und  die  Verordnung  eines 
Rezeptes.  Aber  gerade  dieses  letztere  wurde  von  ihnen  mit  einem 
solchen  Nimbus  von  tiefgründiger  Gelehrtheit  umkleidet  und  stellte 
auch  in  der  Tat  in  seiner  Kompliziertheit  ein  solches  Kunstwerk 
dar,  daß  es  als  der  Ausfluß  allen  medizinischen  Wissens  erschien. 

Trotz  dieser  Verhältnisse  waren  die  Anforderungen,  welche  die 
Aerzte  selbst  an  ihre  Standesgenossen  stellten,  recht  hohe.  So  ver- 
langte der  Helmstedter  Professor  Hermann  Conring  (1606— 168 i) 
eine  sorgfältige  Auswahl  der  Medizinstudierenden  nach  ihrer  körper- 
lichen, geistigen  und  moralischen  Eignung,  ferner  eine  sorgfältige 
Ausbildung,  bei  der  die  Praxis  nicht  der  Theorie  zuliebe  vernach- 
lässigt werden  dürfe,  schließlich  Kenntnisse  nicht  nur  auf  dem 
engeren  Gebiete  ihres  Berufes,  sondern  darüber  hinaus  auch  in  all 
den  Dingen,  die  irgendwie  auf  die  ärztliche  Betätigung  Bezug  haben. 

M  eyer-S  teineg  a.  Sudhoff,  lllustr.  Geschichte  der  Medizin.  32 


338  Das  Aerztewesen  im   17.  Jahrhundert. 

Daß  diese  Forderungen  nicht  nur  platonische  waren,  daß  vielmehr 
auf  ihre  Durchführung  Nachdruck  gelegt  wurde,  lassen  die  an  vielen 
Orten  bestehenden  Aerztekollegien  erkennen,  welche  auf  Fernhaltung 
unlauterer  Elemente  bedacht  waren. 

Eine  wichtige  Frage  blieb  nach  wie  vor  das  Honorar.  In  länd- 
lichen Gegenden,  in  denen  allerdings  die  Aerzte  ziemlich  spärlich 
waren,  wurde  es  in  der  Regel  in  Naturalien  abgeleistet.  Die  meisten 
Städte  hingegen  hatten  eine  feste  Taxe  aufgestellt,  die  bei  Streitig- 
keiten zwischen  Arzt  und  Kranken  zugrunde  gelegt  wurde.  Ein 
ziemlich  erheblicher  Teil  der  wirklichen  Aerzte  stand  übrigens  in 
einem  festen  Besoldungsverhältnis,  sei  es  als  Stadt-,  Hof-  oder  Leib- 
arzt. Die  ersteren  führten  gewöhnlich  den  Titel  „Physicus"  im 
Gegensatz  zu  dem  einfachen  praktischen  Arzte,  dem  „Medicus",  und 
erhielten  zumeist  neben  ihrem  baren  Gehalt  noch  allerlei  Natural- 
leistungen, wie  Brennholz,  Korn,  freie  Wohnung.  Die  Zahl  der 
Leib-  und  Hofärzte  war  bei  der  Menge  der  regierenden  und  nicht- 
regierenden Herren  eine  recht  erhebliche.  Eine  Reihe  von  Medi- 
zinalordnungen, so  die  der  Herzöge  von  Sachsen  vom  Jahre  1607 
und  die  Churbrandenburgische  vom  Jahre  1685  regelten  mancherlei 
Fragen  des  öffentlichen  Gesundheitswesens,  waren  aber  in  vieler 
Hinsicht  viel  mehr  ein  Hemmschuh,  als  ein  förderndes  Moment  der 
ärztlichen  Entwicklung. 

Neben  diesen  „Medici"  im  engeren  Sinne  standen  fast  ebenso 
geachtet  die  Wundärzte,  welche  größtenteils  auch  durchaus  gebildete 
Leute  waren.  Auch  unter  ihnen  gab  es  solche  mit  fester  Anstellung, 
als  Stadtchirurgen,  Leibchirurgen  u.  a.  Während  die  Geburtshilfe 
bis  zum  17.  Jahrhundert  ausschließlich  in  den  Händen  der  Hebammen 
gelegen  hatte,  begannen  im  Verlaufe  dieses  Jahrhunderts  die  Chirurgen 
immer  mehr,  dieses  Gebiet  in  den  Bereich  ihrer  Tätigkeit  mit  ein- 
zubeziehen.  Viele  von  ihnen  bildeten  sich  geradezu  zu  Geburts- 
helfern aus. 

Weit  unter  diesen  beiden  Kategorien  standen  die  Barbiere  und 
Bader.  Diese  befaßten  sich  zwar  auch  mit  gewissen  Teilen  der 
Chirurgie,  jedoch  zumeist  nur  mit  der  sogenannten  „niederen  Chi- 
rurgie", zu  der  die  Entfernung  von  Warzen  und  Leichdornen,  das 
Schröpfen,  der  Aderlaß  und  ähnliche  Maßnahmen  gehörten. 

Neben  diesen  wirklichen  Vertretern  der  Medizin  —  auch  die 
letzteren  kann  man  insofern  dazu  rechnen,  als  sie  vielfach  Gehilfen 
der  Aerzte  waren  —  machte  sich  ein  ausgedehntes  Pfuschertum 
breit.  Wenn  man  auch  durchaus  nicht  leugnen  kann,  daß  viele 
dieser  Leute,  die  sich  oft  nur  mit  einer  einzigen  Heilmaßnahme  be- 
schäftigten, diese  selbst  mit  einer  gewissen  Vollendung  ausführten, 
so  charakterisierte   sie  doch  ihr  ganzes  marktschreierisches,   auf  Be- 


Das  Aerztewesen  im   17.  Jahrhundert. 


339 


trug    und    x\usbeutung    des    Publikums    berechnetes    Auftreten    als 
Charlatane   schlimmster   Sorte.     Diese   Leute,    wie  z.   B.    die   Stein- 
schneider,   Bruchoperateure,   Starstecher    übten    in   der   Regel   ihren 
Beruf     im     Herum- 
reisen aus,  wobei  sie 
sich    oft    eines    von 
irgendeiner  Behörde 
oder  einer  angesehe- 
nen       Privatperson 
ausgestellten  Erlaub- 
nisscheins    zugleich 
als  Legitimation  und 
Reklame  bedienten. 


Der  medizinische 
Unterricht  wurde  im 
Laufe  des  17.  Jahr- 
hunderts erheblich 
verbessert.  Während 
bis  dahin  die  Schule 
von  Salerno  immer 
noch  das  Vorbild  in 
dieser  Hinsicht  ge- 
blieben war,  ging  die 
Führung  allmählich 
auf  Frankreich  und 
die  Niederlande  über. 
Besonders  erfreuten 
sich  die  Fakultäten 
von  Montpellier, 
Paris  und  Leyden 
eines  außerordent- 
lichen Zulaufs.  Wie 
schwer  es  den  me- 
dizinischen Fakul- 
täten wurde,  sich 
von  der  alten  Tra- 
dition frei  zu  machen, 
zeigen  unteranderem 
die  Helmstedter  Statuten,  welche  die  Professoren  ausdrücklich  an- 
wiesen, die  ärztliche  Kunst  so  zu  bewahren  und  zu  verbreiten,  „wie 
sie  von  dem  göttlich  berufenen  Hippokrates,  Galexos  und  Avicenna 


Abb.  178.    Epitaphium  des  Jenaer  Professors  der  Philosophie, 

Medizin,  Anatomie,  Chirurgie  und  Botanik  JoH.  A.  Friderici 

(gest.  1672)  mit  Emblemen  seines   Berufes  (Originalaufnahme 

Kollegienkirche  in  Jena). 


340 


Das  Aerztewesen  im   17.  Jahrhundert. 


richtig  und  unantastbar  überliefert  sei;  dagegen  alle  Empirie,  des 
Paracelsus  Tetralogien  und  andere  verderbliche  Erzeugnisse  der 
Medizin  völlig  fernzuhalten".  Es  spielte  also  immer  noch  die  Aus- 
legung der  genannten  Autoren  eine  gewaltige  Rolle  in  dem  Bil- 
dungsgang des  jungen  Mediziners;  und  die  praktische  Unter- 
weisung am  Kranken- 
bette wurde  dadurch 
stark  in  den  Hinter- 
grund gedrängt. 

Es  bedurfte  des 
ganzen  Einflusses  eines 
hervorragenden  Man- 
nes, um  hierin  einen 
ernstlichen  Wandel  zu 
schaffen ;  und  dieses 
war  Sylvius.  Er  war 
der  erste,  der  wieder 
auf  die  Notwendigkeit 
der  Unterweisung  am 
Krankenbette  nicht  nur 
theoretisch  hinwies, 
sondern  selbst  einen 
geordneten  klinischen 
Unterricht  in  Leyden 
einführte  und  dadurch 
sowohl  eine  große 
Menge  Medizinstudie- 
render aus  allen  Teilen 
Europas  nach  dort  zog, 
als  auch  andere  Lehrer 
der  Heilkunde  zu  glei- 
chem Vorgehen  an- 
regte. Der  anatomische 
Unterricht,  der  im  1 6.  Jahrhundert  einen  so  vielversprechenden  Auf- 
schwung genommen  hatte,  erfreute  sich  auch  im  17.  Jahrhundert  einer 
eingehenden  Pflege,  Die  anatomischen  Theater,  in  denen  die  Forscher 
nicht  nur  ihre  Untersuchungen  machten,  sondern  auch  öffentliche 
Zergliederungen  veranstalteten,  waren  an  sehr  vielen  Hochschulen, 
besonders  in  Italien,  zu  einer  festen  Einrichtung  geworden.  In 
Deutschland  blieb  allerdings  das  Sezieren  menschlicher  Leichen 
noch  immer  eine  ziemliche  Seltenheit,  so  daß  z.  B,  zwei  öffentliche 
Zergliederungen,  die  im  Jahre  1629  der  berühmte  Jenaer  Professor 
ROLFINK  an  Hingerichteten   vornahm,   ein   ungeheures   und  unlieb- 


Abb.   1 79.     Bibliotheca  anatomica. 


Das  Aerztewesen  im   17.  Jahrhundert.  341 

sames  Aufsehen  erregte  und  der  Anlaß  wurden,  jede  menschliche 
Sektion  als  „rolfinken"  zu  bezeichnen.  Selbst  unter  den  eigentlichen 
Aerzten  in  Deutschland  blieb  ein  merkwürdiges  Vorurteil  gegen  die 
Selbstbeschäftigung  mit  Anatomie  bestehen.  Die  Professoren  be- 
schränkten sich  darauf,  bei  den  Zergliederung"en  anwesend  zu  sein 
und  mit  mündhchen  Betrachtungen,  die  durch  Hinweise  mit  einem 
Stabe  unterstützt  wurden,  die  einzelnen  Phasen  der  ZergUederung 
und  die  dabei  zutage  tretenden  Befunde  zu  erläutern. 

Bei  den  Chirurgen  wirkte  der  Zwang,  zu  ihrem  Berufe  über 
gewisse  anatomische  Kenntnisse  verfügen  zu  müssen,  insofern 
günstig,  als  sie  sich  weit  ausgiebiger  und  vor  allem  unmittelbar 
mit  diesem  Fache  beschäftigten.  In  Italien  wurde  sogar  regel- 
mäßig die  Chirurgie  und  Anatomie  von  dem  gleichen  Lehrer  ver- 
treten, so  daß  in  diesem  Lande  auch  niemals  eine  so  scharfe 
Trennung  der  Chirurgie  von  der  übrigen  Medizin  sich  vollziehen 
konnte.  Am  besten  geregelt  war  der  chirurgische  Unterricht  in 
Frankreich,  wo  im  übrigen  ähnliche  Verhältnisse  wie  in  Italien 
bestanden. 


Trotz  dieser  entschiedenen  Besserung  des  chirurgischen  Unter- 
richts blieb  der  Lehrbetrieb  in  der  Geburtshilfe  noch  außerordentlich 
mangelhaft,  obgleich  doch  viele  und  tüchtige  Chirurgen  gleichzeitig 
vortreffliche  Geburtshelfer  waren.  Man  kam  eben  noch  immer  nicht 
über  das  Vorurteil  hinweg,  das  den  männlichen  Aerzten  die  un- 
mittelbare Berührung  der  Frau  als  nicht  dem  Anstand  entsprechend 
verwehrte  oder  doch  sehr  erschwerte.  So  blieb  die  berühmte  Ent- 
bindungsanstalt am  Hotel  Dieu  zu  Paris  den  Aerzten  unzugänglich, 
sie  wurde  ausschließlich  von  Hebammen  geleitet  und  versorgt,  die 
dadurch  freilich  ihr  Wissen  und  Können  und  damit  ihr  Ansehen 
erheblich  erweiterten.  Die  Aerzte,  welche  Geburtshilfe  treiben 
wollten,  blieben  für  ihre  Ausbildung  großenteils  auf  die  Benutzung 
von  Modellen  und  Phantomen  angewiesen  und  mußten  im  übrigen 
erst  durch  die  Erfahrung  in  der  Praxis  lernen. 


Systembildung  in  der  Medizin  des  i8.  Jahrhunderts. 

Hoffmann,  Stahl  und  Boerhave  und  die  ältere 

Wiener  Schule. 

Nachdem  unter  dem  Einflüsse  Sydenhams  und  gleichgesinnter 
Aerzte  gegenüber  der  drohenden  Ueberhandnahme  der  theoretischen 
Richtung  in  der  Medizin  eine  Rückkehr  zu  mehr  praktisch-empirisch 
gerichteten  Grundsätzen  in  die  Wege  geleitet  worden  war,  schien 
es,  als  ob  die  Heilkunde  ungestört  in  diesen  Bahnen  für  einen 
längeren  Zeitraum  schreiten  würde.  Aber  der  Einfluß  der  allge- 
meinen Zeitströmung  trug  in  diese  ruhige  Entwicklung  einen  Zug 
hinein,  der  —  freilich  unter  erheblich  veränderten  Verhältnissen  — 
zur  Wiederaufnahme  der  Bestrebungen  der  medizinischen  Schulen 
des  verflossenen  Jahrhunderts  zurück  und  weit  darüber  hinaus  zu 
umfassenden  Systembildungen  führte.  Wurde  hierdurch  aber  auch 
die  Stetigkeit  der  Entwicklung  entschieden  ungünstig  beeinflußt,  so 
wirkte  doch  auf  der  anderen  Seite  der  Wettbewerb  zwischen  den 
beiden  entgegengesetzten  Richtungen  anregend  und  fördernd  und 
reifte  in  einigen  führenden  Persönlichkeiten  zu  einem  gewissen  Aus- 
gleich der  Gegenpole. 

Die  unverkennbare  Wirkung,  welche  die  Philosophie  des  i8.  Jahr- 
hunderts auf  die  Medizin  ausgeübt  hat,  beruhte  weniger  darauf,  daß 
jener  Lehren  und  Anschauungen  unmittelbar  von  der  Heilkunde 
übernommen  wurden,  als  vielmehr  auf  der  allgemeinen  Anregung, 
welche  sie  dadurch  empfing.  Ganz  besonders  gilt  dies  für  die 
deutsche  Medizin,  welche  in  gewissem  Sinne  die  Führung  über- 
nahm. Hier  entfalteten  vor  allem  Leibniz  (1646 — 17 16)  und  sein 
Schüler  Christian  Wolff  (1679  —  1754)  einen  tiefgehenden  Einfluß 
auf  das  ärztliche  Denken.  Die  Ausschaltung  alles  Mystischen  aus 
dem  naturwissenschaftlichen  Denken  und  damit  auch  aus  der  Me- 
dizin, die  Anregung  zur  Benutzung  aller  Hilfsquellen,  wie  der 
Mathematik,  Physik,  Mikroskopie,  zur  Begründung  medizinischer 
Zeitschriften  und  manche  andere  Gedanken  mehr  haben  außerordent- 
lich fördernd  gewirkt. 

Unter  den  Naturwissenschaften  hatte  die  Physik  bedeutsame 
Fortschritte  aufzuweisen.  Namen,  wie  Newton,  Bernoulli,  Euler, 
Franklin,   Volta,   Galyani    u.  a.  m.   bezeichnen    die  hauptsäch- 


Systembildung  in  der  Medizin  des   i8.  Jahrhunderts  usw.  343 

liehen  Leistungen.  In  der  Chemie  fiel  eine  wichtige  Rolle  der 
phlogistischen  Theorie  Erxst  Stahls  zu,  welcher  davon  ausging, 
daß  die  Verbrennung  aller  Körper  abhängig  sei  von  ihrem  Gehalt 
an  „Phlogiston".  Also  eine  Vorausahnung  des  Sauerstoffes,  der 
dann  durch  Priestley  entdeckt  wurde,  wodurch  dann  wiederum 
Lavoisier  den  Antrieb  zur  endlichen  richtigen  Erklärung  des  Ver- 
brennungsprozesses erhielt. 

Im  übrigen  haben  sich  auch  die  meisten  hervorragenden  Aerzte 
dieser  Zeit  mit  allgemein-naturwissenschaftlichen  Fragen,  ganz  be- 
sonders auch  mit  Chemie  und  Phj^sik  befaßt;  wie  denn  überhaupt 
der  Zusammenhang  mit  den  beiden  Schulen  der  Jatrophysiker  und 
Jatrochemiker  im  18.  Jahrhundert  nicht  ganz  verloren  gegangen  war. 
Und  so  selbständige  Köpfe  auch  die  leitenden  ^länner  in  der  Heil- 
kunde dieser  Epoche  waren,  so  ist  doch  die  Nachwirkung  älterer 
Anschauungen  und  Lehren  bei  ihnen  zumeist  unverkennbar. 


Sehr  deutlich  sichtbar  ist  dieser  Zusammenhang  bei  dem  bereits 
erwähnten  Ernst  Stahl.  Dieser  Mann,  der  1660  zu  Ansbach  ge- 
boren wurde,  genoß  seine  Ausbildung  v^or  allem  unter  dem  seiner- 
zeit ziemlich  bekannten  Jatrochemiker,  dem  Jenaer  Professor 
G.  W.  Wedel,  wurde  dann  selbst  Dozent  in  Jena  nnd  1694  Professor 
in  Halle,  wo  er  sich  mit  Friedrich  Hoffmann  in  die  einzelnen 
Fächer  der  Medizin  teilte.  Infolge  eines  Zenvürfnisses  beider  ver- 
ließ Stahl  1716  Halle  und  wurde  Leibarzt  des  Königs  in  Berlin, 
wo  er  1734  starb. 

Sein  wichtigstes  Werk,  in  dem  er  seine  Anschauungen  nieder- 
gelegt und  sein  „System"  begründet  hat,  ist  die  1708  erschienene 
„Theoria  medica  vera,  physiologiam  et  pathologiam  tanquam  doc- 
trinae  medicae  partes  vere  contemplativas  e  naturae  et  artis  veris 
fundamentis  intaminata  ratione  et  inconcussa  experientia  sistens". 
Der  Titel  zeigt  schon  an  sich  allerlei  Charakteristiches  für  seinen 
Verfasser:  einmal  sein  festes  Ueberzeugtsein  von  der  Richtigkeit 
seiner  Lehren,  sodann  aber  auch  die  Grundgedanken  des  Aufbaues 
für  sein  System.  Dieses  ist  ausgesprochen  „dynamisch-organistisch" 
und  zeigt  dabei  deutlich  einen  pietistischen  Einschlag.  Den  Ausgangs- 
punkt bildet  für  ihn  die  als  oberstes  Lebensprinzip  —  nach  Art  der 
hippokratischen  Physis  oder  des  Hohenheimschen  Archaeus  —  auf- 
gefaßte „Anima".  Sie  teilt  der  toten  Materie  das  Leben  mit,  sie 
hält  im  normalen  Körper  alle  Funktionen  im  Gleichgewicht  und 
wirkt  dem  Zerfall  entgegen.  Dieser  und  damit  der  Tod  kann  daher 
nur  dadurch  eintreten,  daß  die  „Anima"  den  Körper  verläßt.  Die 
Kraft,  deren  sich  die  Seele  zu  ihren  Funktionen  im  Körper  bedient, 


344  Systembildung  in  der  Medizin  des   i8.  Jahrhunderts. 

ist  die  Bewegung,  und  zwar  eine  Bewegung,  die  einen  bestimmten 
„Tonus"  der  zu  bewegenden  Teile  oder  Organe  bedingt,  Krankheit 
ist  somit  eine  Behinderung  des  normalen  Tonus  und  das  dadurch 
automatisch  ausgelöste  Bestreben  der  Anima,  ihn  wiederherzustellen. 
Sie  bewirkt  dieses  hauptsächlich  durch  Einfluß  auf  den  Kreis- 
lauf des  Organismus,  denn  dessen  Behinderung  ist  eine  der  wich- 
tigsten Ursachen  der  Bewegungshemmungen.  Eines  der  wirk- 
samsten Selbsthilfemittel  ist  das  Fieber,  das  als  Ausdruck  einer 
erhöhten  Tätigkeit  der  Anima  betrachtet  wird.  Ihm  nahe  steht  die 
Entzündung,  die  sich  im  Grunde  nur  durch  die  örtliche  Begrenzung 
davon  unterscheidet. 

Auf  diesem  Wege  nähert  sich  dann  Stahl  mehr  humoral- 
pathologischen  Anschauungen,  Denn  bei  der  Krankheitsätiologie 
spielt  die  „Vollblütigkeit"  eine  große  Rolle,  für  die  die  Anima  im 
Kindesalter  durch  Nasenbluten,  im  Jünglingsalter  durch  Blutspeien, 
im  reifen  Alter  oder  beim  Weib  durch  die  Menses,  beim  Manne 
durch  Hämorrhoidalblutungen  einen  Ausgleich  selbsttätig  schafft. 

Sein  oberster  Behandlungsgrundsatz  ist  folgerichtigerweise  die 
Unterstützung  der  Anima  in  ihren  Bestrebungen,  also  ganz  wie  bei 
HiPPOKRATES  die  Physis,  Auch  dessen  Wort  „^öoek;  vouawv  latpoi" 
findet  sich  bei  Stahl  in  der  Auffassung  wieder,  daß  „der  Mensch 
seinen  Arzt  in  sich  habe,  daß  die  Natur  der  Arzt  der  Krankheiten 
sei".  Die  Behandlung  muß  demnach  versuchen,  in  der  gleichen 
Weise  auf  die  abnormalen  „Bewegungen"  einzuwirken,  wie  dies  die 
„Anima"  gleichsam  vormacht.  Sind  die  Bewegungen  zu  stark,  so 
muß  man  dämpfen.  Das  wichtigste  Mittel  ist  der  die  natürlichen 
Blutentleerungen  nachahmende  Aderlaß,  daneben  Abführ-,  Brech-, 
Schweißmittel  u.  ä.  m.  Umgekehrt  wendet  Stahl  bei  zu  schwachen 
Bewegungen  Reizmittel  der  verschiedensten  Art  an.  Dagegen  ver- 
wirft er  auf  das  schärfste  alle  Mittel,  deren  Anwendung  seine  Theorie 
entgegenstand:  vor  allem  Opium  und  Chinin.  Bedeutsam  war  sein 
Versuch,  als  einer  der  ersten  wieder  die  psychische  Behandlung  der 
Geisteskranken  einzuführen. 

Die  STAHLsche  Lehre,  die  man,  als  Ganzes  genommen,  als 
„Animismus"  bezeichnete,  stellte  somit  ein  trotz  mancher  Inkonse- 
quenzen recht  einheitliches  System  dar.  Und  dieser  Einheitlichkeit 
vor  allem  verdankte  er  die  zahlreichen  Anhänger.  Denn  einer  sach- 
lichen Kritik  mußten  die  erheblichen  Mängel  und  —  selbst  im 
Lichte  der  damaligen  Zeit  —  auffallenden  Rückständigkeiten  in  die 
Augen  springen.  Erklärte  doch  derselbe  Mann,  dessen  Bedeutung 
vor  allem  in  seinen  theoretischen  Anschauungen  liegt,  die  Anatomie 
und  Physiologie  sowie  überhaupt  alle  Beschäftigung  mit  gelehrt- 
wissenschaftlichen Dingen   für   einen  Arzt   als   überflüssig  und   ver- 


Hoffmann,  Stahl  u.  Boerhave  u.  die  ältere  Wiener  Schule.      345 

stieg  sich  sogar  zu  der  Behauptung,  daß  gute  Theoretiker  schlechte 
Praktiker  seien.  Stahl  hat  demnach,  so  bedeutsam  auch  die  von 
ihm  ausgehende  Reaktion  gegen  die  einseitig  sich  überschätzenden 
Chemiatriker  und  Jatrophysiker  war,  mit  seinem  ,.S\^stem"  weit  über 
das  Ziel  hinausgeschossen.  Und  so  bestechend  seine*  Gedanken  in 
mancher  Hinsicht  auch  waren,  so  haben  sich  doch  nur  verhältnis- 
mäßig wenig  Aerzte  ihnen  angeschlossen.  Eine  eigentliche  Schule 
hat  er  nicht  gebildet. 


Weit  größer  war  der  Einfluß,  den  die  in  sachlicher  und  per- 
sönlicher Gegnerschaft  gegen  Stahls  System  entstandenen  Lehren 
seines  Zeitgenossen 
Friedrich  Hoff- 
MANX  zu  gewinnen 
vermochten.  Dieser 
ebenfalls  1 660  zu 
Halle  geboren,  war 
ebenso  wie  jener  ein 
Schüler  Wedels  in 
Jena,  später  aber 
nach  seiner  Pro- 
motion Schüler  des 
englischen  Jatrophy- 
sikers  ROB.  Boyle. 
1688  wurde  er  Phy- 
sikus  zu  Halberstadt, 
6  Jahre  später  Pro- 
fessor in  Halle.  1 709 
berief  man  ihn  zum 
Leibarzt  Friedrichs  I. 
nach  Berlin,  das  er 
aber  infolge  von  In- 
triguen  bald  verließ, 
um  nach  Halle  zu- 
rückzukehren, wo  er 
bis  zu  seinem  1742 
erfolgten  Tode  an 
seiner  alten  Stelle 
wirkte. 

Hoffmann  war 
eine  fast  in  allen 
Stücken   anders  ge- 


Abb.  180.    Friedr.  Hoffmann. 


346  Systembildung  in  der  Medizin  des   18.  Jahrhunderts. 

artete  Persönlichkeit  wie  Stahl.  Trotz  der  mancherlei  namentlich 
äußeren  Berührungspunkte  beider  wandelte  sich  daher  ihre  Freundschaft 
bald  in  offene  Feindschaft,  zu  der  vor  allem  auch  die  größeren  prak- 
tischen Erfolge  Hoffmanns  dem  ehrgeizigen  und  empfindsamen  Stahl 
Veranlassung  gaben.  In  seinen  Anschauungen  ist  Hoffmann  ge- 
radezu ein  Musterbeispiel  dafür,  wie  man  die  ältesten  medizinischen 
Theorien  auch  von  einem  modernen  Standpunkte  aus  verwerten  und 
unter  Benutzung  der  fortgeschrittenen  naturwissenschaftlichen  Er- 
kenntnisse und  Methoden  zu  einem  ziemlich  geschlossenen  System 
verarbeiten  kann.  Zweifellos  stand  er  nicht  wenig  unter  dem  Ein- 
fluß Leibnitz'  und  Wolffs;  des  letzteren  namentlich  darin,  daß  er 
so  meisterhaft  verstand,  durch  eine  Art  mathematischer  Demonstrier- 
methode und  systematischer  Form  seinen  Darlegungen  einen  der- 
artigen Schein  von  Gründlichkeit  zu  geben,  daß  ein  tieferes  Eindringen 
in  seine  Gründe  sich  zu  erübrigen  schien. 

In  seinem  Hauptwerk  „Medicina  rationalis  systematica",  das  er 
erst  wenige  Jahre  vor  seinem  Tode  vollendete  (es  umfaßte  g  Bände), 
hat  er  sein  System  bis  in  alle  Einzelheiten  entwickelt,  das  eine  sehr 
geschickte  Verknüpfung  von  mechanistischen  und  dynamistischen 
Gedanken  darstellt.  Der  Gang  derselben  ist  etwa  folgender :  Unsere 
Erkenntnis  ist  begrenzt  und  auf  das  sinnlich  Wahrnehmbare  be- 
schränkt. Alle  Kräfte  und  die  durch  sie  bedingten  Vorgänge  haften 
der  Materie  an  und  treten  als  Bewegung,  als  Wirkung  und  als  Gegen- 
wirkung, als  Zusammenziehung  und  Ausdehnung  in  die  Erscheinung. 
Leben  ist  also  Bewegung,  namentlich  des  Herzens  und  damit  des 
Blutes;  Tod  ist  Stillstand  der  Bewegung,  und  als  Folge  Eintreten 
von  Fäulnis.  Gesundheit  ist  das  normale  Ablaufen  aller  Bewegungen, 
Krankheit  ihre  Störung.  Die  normale  Blutbewegung  hat  das  rich- 
tige Verhalten  der  Absonderungen  und  Ausscheidungen  zur  Folge. 
Auch  die  Verdauung  hängt  von  der  durch  die  Blutversorgung  er- 
haltenen Körperwärme  ab  und  beruht  im  übrigen  auf  einer  Um- 
wandlung der  Speisen  infolge  des  beigemengten  Speichels.  Der 
Körper  als  Ganzes  ist  mit  einer  hydraulischen  Maschine  zu  ver- 
gleichen, die  von  einer  Art  Nervenfluidum,  dem  „Aether",  gespeist 
wird.  Dieser  ist  vor  allem  in  den  Gehirnventrikeln  vorhanden  und 
wird  von  diesen  aus  durch  die  Bewegung  des  Gehirns  zum  Teil  auf 
dem  Wege  der  Nervenröhrchen  dem  ganzen  Organismus  mitgeteilt, 
zum  anderen  Teile  kreist  er  mit  dem  Blute.  Zwischen  beiden  Systemen 
besteht  eine  Verbindung.  Ueberall  aber  regelt  das  Fluidum  den  nor- 
malen „Tonus"  des  Gewebes. 

Durch  zu  starkes  oder  zu  schwaches  Strömen  des  Nervenfluidums 
entsteht  ein  krankhafter  Zustand  von  Spasmus  oder  umgekehrt  von 
Atonie.     Durch  Befallensein  eines  bestimmten  Körperteils  kann   ein 


HoFFMAXN,  Stahl  u.  Boerhave  u.  die  ältere  Wiener  Schule.      347 

anderer  Teil  in  Mitleidenschaft  gezogen  werden,  auch  wenn  er  jenem 
nicht  benachbart  ist:  es  bestehen  eben  zwischen  bestimmten  Organen 
gewisse  „sympathische"  Beziehungen ;  so  zwischen  Xervensj'stem  und 
Verdauungsorganen,  zwischen  Mamma  und  Uterus  usw. 

Die  Behandlungsgrundsätze  Hofpmanns  sind,  der  scheinbaren 
Durchsichtigkeit  seiner  Krankheitslehre  entsprechend,  mit  Bewußtsein 
äußerst  einfach  gehalten.  Die  hauptsächliche  Vorbedingung  für  die 
Aufstellung  des  Heilplans  liegt  darin,  festzustellen,  in  welcher  Hin- 
sicht die  normalen  „Bewegungen"  des  Organismus  gestört  sind,  und 
in  welcher  Weise  der  „Tonus"  der  Gewebe  dadurch  verändert  ist. 
Daraus  ergaben  sich  nach  den  beiden  Hauptgruppen  auch  zwei  ent- 
gegengesetzte Behandlungsmethoden:  die  eine,  welche  darauf  abzielte, 
die  behinderten  Bewegungen  und  den  dadurch  gestärkten  Tonus 
durch  krampf widrige,  beruhigende,  lösende,  ausleerende  Mittel  zu  be- 
kämpfen, im  umgekehrten  Falle  durch  verschiedenartige  Reizmittel 
die  Bewegungen  anzuregen  imd  die  Spannung  zu  erhöhen.  Eine 
wichtige  Rolle  ließ  Hoffmann  dabei  den  diätetischen  Verordnungen 
aller  Art,  Mineralwässern  und  dem  Aderlasse  zukommen.  Aber  auch 
arzneiliche  Mittel  verwandte  er  in  mäßigem  Umfange,  besonders  gern 
die  von  ihm  selbst  erfundenen,  wie  „Balsamum  vitae",  „Elixir  vis- 
cerale Hoffmanni"  und  die  bekannten  Hoffmanns  Tropfen. 

Auf  der  anscheinenden  Folgerichtigkeit  seiner  Gedanken  und 
der  sich  daraus  ganz  zwanglos  ableitenden  Behandlungsgesichtspunkte 
und  auf  der  Einfachheit  seiner  Mittel,  die  im  wohltuenden  Gegensatz 
zu  der  Vielgeschäftigkeit  mancher  Zeitgenossen  stand,  beruhte  der 
größte  Teil  des  Erfolges,  dessen  sich  Hoffmann  bei  seinen  Patienten 
und  bei  Aerzten  zu  erfreuen  hatte.  Diese  Tatsache  erfährt  auch  da- 
durch keinen  Abbruch,  daß  sein  System,  kritisch  betrachtet,  selbst 
im  Spiegel  des  damaligen  Forschungsstandes  auf  recht  wackeligen 
Füßen  stand  und  seine  Einheitlichkeit  nur  der  außerordentlich  ge- 
schickten Verquickung  alter  Lehren  mit  neueren  naturwissenschaft- 
lichen Ergebnissen  verdankte. 


Ein  noch  viel  weiter  gehender  Eklektizismus  liegt  den  Lehren 
eines  anderen  Zeitgenossen  Stahls  und  Hoffmanns  zugrunde, 
Hermann  Boerhaves.  1668  zu  Vorhout  bei  Leyden  als  Sohn 
eines  Pfarrers  geboren,  studierte  er  zunächst  Theologie,  dann  aber 
bald  Medizin  zu  Leyden.  1693  dort  promoviert,  praktizierte  er  mit 
großem  Erfolge  und  wurde,  nachdem  er  eine  Stelle  als  Leibarzt  ab- 
gelehnt hatte,  17 13  Nachfolger  seines  Lehrers  Drelincourt  auf 
dessen  Lehrstuhl  für  theoretische  Medizin.  Am  größten  war  sein 
Erfolg  als  klinischer  Lehrer,   der  so  weit  ging,  daß  von  überall  her 


348 


Systembildung  in  der  Medizin  des  i8.  Jahrhunderts. 


Schüler  nach  Leyden  strömten.  Infolge  von  Gicht,  die  ihn  seit 
seinem  50.  Lebensjahre  plagte,  legte  er  1729  sein  Lehramt  nieder 
und  starb   1738, 

Wohl  wenige  Aerzte  haben  sich  einer  solch  ungeteilten  An- 
erkennung und  Beliebtheit  erfreut  wie  Boerhave.  Sie  beruhte  vor 
allem  auf  einer  seltenen  Harmonie  von  Geist  und  Gemüt:  er  wußte 
ein  umfassendes  Wissen  und  einen  scharfen  Verstand  in  glücklichster 


Abb.  181.     Herm.  Boerhave. 


Weise  mit  einer  tiefen  Herzensgüte  und  einem  lauteren  Charakter 
zu  vereinigen,  in  einer  Weise,  wie  diese  Eigenschaften  sich  selten  in 
einer  Persönlichkeit  zusammenfinden. 

In  seinen  Bestrebungen  knüpfte  er  unverkennbar  an  den  ihm 
durchaus  wesensverwandten  Sydenham  an.  Deshalb  stellen  seine 
Anschauungen  keineswegs  ein  geschlossenes  System  dar,  obgleich 
sie  seinen  Zeitgenossen  offenbar  als  ein  solches  erschienen.    Es  fehlt 


Hoffmann,  Stahl  u.  Boerhave  u.  die  ältere  Wiener  Schule.      349 

hierzu  vor  allem  der  einheitliche  Grundgedanke,  den  man  vergeblich 
in  seinen  Schriften  sucht.  Diese  lassen  vielmehr  deutlich  das  Be- 
streben erkennen,  auf  der  einen  Seite  die  Forschungsresultate  der 
Anatomie  und  Physiologie  mit  den  Beobachtungen  und  Erfahrungen 
am  Krankenbette  in  Einklang  zu  bringen  —  wobei  übrigens  stets 
den  letzteren  der  Vorrang  eingeräumt  wird  —  auf  der  anderen  Seite 
suchte  er  aus  den  Lehren  der  Aerzte  aller  Zeiten,  die  ihm  aus  tief- 
gehenden historischen  Forschungen  bekannt  waren,  das  ihm  Zu- 
sagende und  Einleuchtende  auszusuchen,  war  aber  auch  hier  stets 
bemüht,  die  Theorie  der  Praxis  unterzuordnen.  Ueberall  leuchtet 
bei  ihm  das  hippokratische  Vorbild  hindurch,  dessen  Erneuerung  er 
sich  als  oberstes  Ziel  gesetzt  hatte.  Besonders  sichtbar  tritt  dies  in 
seinen  „Aphorismi  de  cognoscendis  et  curandis  morbis"  —  seinem 
wichtigsten  Werke  neben  den  „Institutiones  medicae"  —  hervor. 

Aus  dem  Gesagten  ergibt  sich  ohne  weiteres  die  Schwierigkeit, 
den  Gedankengang  von  BOERHAVEs  Lehren  im  Zusammenhang 
wiederzugeben.  Seine  Krankheitslehre  geht  davon  aus,  daß,  ebenso 
wie  alle  anderen  organischen  Vorgänge  auf  der  Bewegung  fester 
oder  flüssiger  Teile  beruhten,  so  auch  die  Krankheit  nichts  anderes 
sei,  als  eine  Bewegungsstörung,  die  ihren  Sitz  entweder  in  den  Ge- 
weben oder  in  den  Säften  haben  könne.  Im  ersteren  Falle  handelt 
es  sich  um  organische  Bildungsfehler,  um  Abweichungen  in  der 
Zahl,  Größe  oder  Lage  der  Gewebsbestandteile  oder  um  zu  starke 
oder  zu  geringe  Spannung.  Im  anderen  Falle  um  quantitative  Ver- 
änderungen, besonders  Plethora  oder  Mischungsabweichungen,  die 
sich  als  sogenannte  „Acrimonia"  äußerten  und  saurer,  salziger,  herber, 
aromatischer,  fettiger,  alkalischer  oder  leimiger  Natur  sein  könnten. 
Also  eine  auf  die  Spitze  getriebene,  mit  anderen  Theoremen  durch- 
setzte Dyskrasielehre,  die  an  sich  keinerlei  Fortschritte  gegenüber 
ähnlichen  älteren  Anschauungen  bedeutet.  Hervorragend  dagegen 
sind  die  vortrefflichen  Krankheitsschilderungen,  die  er  auf  Grund 
einer  außerordentlich  sorgfältigen  Beobachtung  und  Untersuchung 
der  Kranken  (unter  erstmaliger  Zuhilfenahme  von  Thermometer  und 
Lupe)  gewann.  Auf  dem  Gebiete  der  Klinik  lieg^  deshalb  auch 
der  große  Einfluß,  den  BOERHAVE  noch  für  lange  Zeit  auf  die 
Medizin  ausgeübt  hat.  Und  die  eigentliche  Fortsetzung  seiner  Be- 
strebungen ruhte  in  den  Händen  desjenigen  seiner  Schüler,  der 
seine   praktischen   Ideen   aufnahm   und   weiter  ausbaute,  Gerhard 

VAN   SWIETEN. 


V.\x  SwiETEN  war  1700  in  Leydeii  geboren,  studierte  zunächst 
Staatslehre,  wandte  sich  dann  aber  der  Medizin  zu.    Er  wurde  bald 


250  Systembildung  in  der  Medizin  des   i8.  Jahrhunderts. 

BOERHAVEs  Lieblingsschüler,  promovierte  1725.  Da  er  als  Katholik 
in  Leyden  nicht  amtlich  angestellt  werden  konnte,  blieb  er  als 
Assistent  seines  Meisters  in  Leyden,  bis  ihn  eine  Berufung  Maria 
Theresias  1745  nach  Wien  holte.  Dort  wurde  er  Leibarzt  der 
Kaiserin  und  Vorsteher  des  gesamten  österreichischen  Medizinal- 
wesens. Als  solcher  erhielt  er  vor  allem  den  Auftrag,  die  Wiener 
medizinische  Schule  zu  reformieren,  und  hat  diese  Aufgabe  in 
glänzender  Weise  gelöst.  Reorganisatorische  Betätigungen  auf  allen 
Gebieten    des    Gesundheitswesens    füllten    neben    schriftstellerischer 

und  praktisch-ärztlicher 
Tätigkeit  sein  Leben 
bis  zu  dem  1772  er- 
folgten Tode  aus. 

Wie  sehr  VAN 
SwiETEN  im  Geiste 
BoERHAVEs  wirkte, 
lehrt  schon  sein  Haupt- 
werk, die  Kommentare 
zu  den  Aphorismen 
seines  Meisters,  das  voll 
ist  von  ausgezeichneten 
Beiträgen  zur  Krank- 
heitskasuistik und  zur 
Therapie.  Die  nach  ihm 
benannte   (Liquor  VAN 

Swieten)       Sublimat- 
Abb.   182.     Gerh.  van  Swieten.  ,  /  ,      .  ■,.  ■, 

lösung   (als  mnerliches 

Mittel  gegen  Syphilis)  stellte  unter  anderem  eine  wichtige  Neue- 
rung dar. 

Hatte  VAN  Swieten  die  Einrichtung  der  Wiener  Klinik  nach 
BoERHAVEs  Vorbild  in  die  Wege  geleitet,  so  blieb  ihre  volle  Aus- 
gestaltung einem  anderen  Schüler  des  Leydeners  Meisters  vor- 
behalten: Anton  de  Haen.  Dieser  Mann,  der,  1704  im  Haag  ge- 
boren, die  gleiche  Ausbildung  wie  VAN  Swieten  genossen  hatte, 
wurde  von  diesem  in  uneigennütziger  Weise  1754  nach  Wien  be- 
rufen, wo  er  1776  starb.  Er  war  ein  glänzender  und  für  seinen 
Beruf  in  seltener  Weise  befähigter  Geist,  aber  nicht  ohne  erhebliche 
Fehler,  unter  denen  eine  starke  Ueberheblichkeit  und  Unduldsamkeit 
gegen  Andersdenkende,  vor  allem  aber  ein  gewisser  Sinn  für 
mystische  Dinge  und  ein  daraus  entspringender,  mit  seinen  sonstigen 
Anschauungen  im  scharfen  Gegensatz  stehender  Hexenglaube  her- 
vortraten. Im  übrigen  war  er  der  geborene  Kliniker  und  stellte 
als  solcher  Beobachtung  und  Erfahrung  am  Krankenbette  weit  über 


Hoffmann,  Stahl  u.  Boerhave  u.  die  ältere  Wiener  Schule.      351 

alles  andere  in  der  Medizin.  In  seiner  vollkommenen  Verachtung 
gegenüber  jedem  System  stellt  er  eine  deutliche  Reaktion  gegen 
die  besonders  von  Hoffmann  und  Stahl  beeinflußte  Richtung 
dar  und  bekennt  sich  trotz  mancher  Inkonsequenzen  im  einzelnen, 
zu  einem  ausgesprochenen  Hippokratismus.  Als  dessen  Verfechter 
neigte  er  denn  auch  folgerichtigerweise  und  ersichtlich  zu  einer 
humoralpathologischen  Betrachtungsweise,  ohne  dieser  freilich  ein- 
seitig zu  verfallen.  In  seinem  von  1758  —  79  erschienenen  Hauptwerke 
„Ratio  medendi  in  nosocomio  practico  Vindobonensi",  das  ein 
durch  mehr  als  20  Jahre  fortgeführter  Jahresbericht  ist,  hat  er  in 
vorbildlicher  Weise  das  gesamte  klinische  Material  verarbeitet. 
Ohne  eigentliche  systematische  Behandlung  des  Stoffes  —  die  sich 
ja  auch  schon  durch  die  kasuistische  Form  des  Werkes  von  selbst 
verbot  —  bringt  er  eine  Fülle  trefflicher  Beobachtungen,  eine  Reihe 
neuer  Krankheitsbilder,  zahlreiche  epikritische  Angaben  auf  Grund 
von  Sektionen  und  schließlich  auch  manchen  wichtigen  neuen 
Fingerzeig  für  die  Krankenbehandlung. 


Neben  diesem  Werke,  das  bei  den  zeitgenössischen  Aerzten  als 
Quelle  des  Wissens  eine  außerordentlich  große  Rolle  spielte,  beruhte 
der  Einfluß  de  Haens  vor  allem  auf  der  glänzenden  Ausbildung 
des  Klinikwesens  und  des  klinischen  Unterrichts.  Er  ist  der  eigent- 
liche Schöpfer  der  sogenannten  „älteren  Wiener  Schule",  welche 
eine  ganze  Reihe  bedeutender  Forscher  hervorgebracht  und  zahl- 
reichen Aerzten  aus  allen  Ländern  eine  vortreffliche  praktische 
Ausbildung  vermittelt  hat.  Unter  den  ersten  wäre  namentlich  der 
Nachfolger  van  Swietens  in  der  Leitung  des  österreichischen 
Medizinalwesens  Anton  Stoerck  (1749— 1803)  zu  erwähnen, 
der  sich  vor  allem  durch  seine  Arbeiten  über  die  Wirkung 
verschiedener  bis  dahin  wenig  erforschter  pflanzlicher  Giftstoffe  einen 
Namen  erwarb.  Ferner  MAXIMILIAN  Stoll  (1742 — 1787),  der  mit 
einer  starken  Hinneigung  zu  vorwiegend  humoralpathologischer  Be- 
trachtung ein  für  seine  Zeit  ungewöhnliches  Verständnis  für  die 
Bedeutung  pathologisch-anatomischer  Untersuchungen  verband  und 
ein  ausgezeichneter  Lehrer  im  Klinikwesen  war.  Die  Bedeutung 
eines  weiteren  Abkömmlings  der  Wiener  Schule,  Leopold  Auen- 
BRUGGERs  (17 22 — 1809)  ist  von  seiner  Zeit  nicht  erkannt  worden. 
Sie  lag  in  der  Erfindung  der  Perkussion,  die  er  als  „Inventum  novum 
ex  percussione  thoracis  humani  ut  signo  abstrusos  interni  pectoris 
morbus  detegendi"  1761  veröffentlichte.  Diese  Erfindung  wurde 
zunächst  völlig  unbeachtet  gelassen  und  verdankt  ihre  Anerkennung 
erst  dem  Eintreten  des  Napoleonischen  Leibarztes  Corvisart  (1808). 


352  Systembildung  in  der  Medizin  des   i8.  Jahrhunderts  usw. 


Sie  wurde  dann  der  Ausgangspunkt  für  die  ganze  Ausgestaltung 
der  modernen  physikalischen  Diagnostik  und  hat  zweifellos  den 
Anstoß,  wenn  auch  nicht  zu  einer  weiteren  Erfindung  selbst,  so 
doch  zu  ihrer  Ausnutzung  gegeben :  zur  Einführung  der  Auskultation 
durch  Rene  Laennec  (i8i8),  der  diese  ganz  in  Vergessen- 
heit geratene  Untersuchungsmethode  wieder  aufnahm  und  zu  der 
unmittelbaren  Behorchung  diejenige  mit  dem  von  ihm  angegebenen 
„Stethoskop"  hinzufügte.  Obgleich  es  somit  nicht  an  bedeutenden 
Männern  fehlte,  welche  der  Wiener  Schule  angehörten  oder  doch 
von  ihrem  Geiste  befruchtet  waren,  so  währte  doch  der  Einfluß 
Wiens  nur  einige  Jahrzehnte   und   ist   in    den   neunziger  Jahren  des 

1 8.  Jahrhunderts  schon  deutlich 
im  Sinken  begriffen.  Immer- 
hin ist  die  Bedeutung  eines 
Mannes  wie  Johann  Peter 
Frank  (1745 — -1821),  der  von 
1795  bis  1804  in  Wien  als 
Leiter  des  Wiener  allgemeinen 
Krankenhauses  und  der  inneren 
Klinik  wirkte,  nicht  zu  unter- 
schätzen. Sein  1792  erschie- 
nenes Werk  „de  curandis  ho- 
minum  morbis  epitome"Jiat  mit 
seiner  knappen  und  klaren 
Form  der  Darstellung  sowie 
durch  sein  e  vortreffliche  Brauch- 
barkeit für  die  Praxis  noch 
Jahrzehnte  über  Franks  Tod 
hinaus  sich  großen  Ansehens 
und  großer  Verbreitung  erfreut.  Auch  sein  Handbuch  der  medi- 
zinischen Polizei  ist  vorbildlich  für  die  ganze  öffentliche  Gesund- 
heitspflege geworden. 

Einer  der  Hauptgründe  für  die  verhältnismäßig  kurze  Dauer 
dieser  bedeutsamen  Epoche  der  Medizin  liegt  in  dem  immer  und 
immer  wieder  hervortretenden  Streben  des  ärztlichen  P'orschergeistes' 
den  praktischen  Erfolgen  eine  der  fortgeschrittenen  naturwissen- 
schaftlichen Erkenntnis  entsprechende  bessere  theoretische  Unterlage 
zu  geben.  Dieses  Streben  fand  im  18.  Jahrhundert  seinen  sicht- 
barsten und  zugleich  bedeutsamsten  Ausdruck  in  dem  Manne,  den 
man  wohl  als  den  ersten  ärztlichen  Naturforscher  im  modernen 
Sinne  bezeichnen  kann:  Albrecht  von  Haller. 


Abb.  183.    J.  P.  Frank. 


Die  Neubegründung  der  Physiologie  durch  Albrecht 

von  Haller.    Anatomen  und  Physiologen  in  seinen 

Bahnen.     Die  Lehren  CuUens  und  Browns.     Gaub 

und  die  Pathologie. 

Die  Verhältnisse,  unter  denen  Haller  wirkte,  waren  in  vieler 
Hinsicht  denen  ähnhch,  welche  Galex  im  2.  Jahrhundert  n.  Chr. 
vorfand.  Wie  im  Altertum  mit  den  großen  Alexandrinern  die  ana- 
tomisch-physiologische Forschung  einen  ungeheuren  Aufschwung 
begonnen  und  in  einer  meh- 
rere Jahrhunderte  hindurch 
gehenden  Forschertätigkeit  zur 
Aufsammlung  eines  bereits  er- 
staunlichen Tatsachenmaterials 
auf  diesen  Gebieten  geführt 
hatte,  so  waren  auch  von  Vesal 
ab  diese  beiden  Fächer  als  die 
Grundlage  des  medizinischen 
Lehrgebäudes  nach  fast  andert- 
halbtausendjährigem Schlafe  zu 
neuem  Leben  erweckt  worden 
und  hatten  Entdeckung  auf 
Entdeckung  gehäuft.  Wie  vor 
Galen  die  griechisch-römische 
Medizin  in  einem  auf  und  ab- 
wogenden Streite  der  verschie- 
denen Schulen  (Dogmatiker, 
Empiriker,  Methodiker  usw.) 
die  Grundprobleme  der  Medizin 
von  den  mannigfachsten  Seiten 

aus  aufgefaßt  und  —  wenn  auch  zumeist  in  einseitiger  Weise  —  so 
doch  nicht  ohne  Förderung  zu  lösen  versucht  hatte,  so  hatten  sich 
von  Paracelsus  ab  ganz  ähnliche  Kämpfe  zwischen  den  latro- 
chemikern,  latrophysikern,  Hippokratikern  usw.  abgespielt  und  in 
beiden  Epochen  schließlich  wieder  auf  der  einen  Seite  zu  einer 
Reaktion   im  Sinne  einer  Bevorzugung  des  rein  praktisch-klinischen 


Abb.  184.     Albrecht  von  Haller. 


Meyer-Steineg  u.  Sndboff,  Illustr.  Geschiebte  der  Medizin. 


23 


354     Neubegründung  der  Physiologie  durch  Albrecht  von  Haller. 

Standpunktes  geführt.  Auf  der  anderen  Seite  aber  drängten,  ebenso 
wie  zu  Galens  Zeit,  so  auch  wieder  vor  Haller,  die  großen,  aber 
ohne  inneren  Zusammenhang  nebeneinander  stehenden  Fortschritte 
in  der  Naturerkenntnis  zu  einer  Zusammenfassung  durch  einen  ein- 
zigen überragenden  Geist  nach  einem  einheithchen  Grundgedanken. 
Und  wie  im  2.  Jahrhundert  Galen  diese  Aufgabe  auf  sich  genommen 
hatte,  so  im  18.  Jahrhundert  Haller. 

Im  Jahre  1708  zu  Bern  geboren,  zeigte  er  schon  früh  eine  seltene 
wissenschaftliche  Begabung.  Nach  kurzen  Studien  unter  dem  Tü- 
binger Anatomen  DuvERNOY,  ging  er  nach  Leyden  und  war  dort 
namentlich  Schüler  BoERHAVEs  und  Albinus*.  Mit  19  Jahren  im 
Besitze  des  Doktorhutes,  unternahm  er  weite  Reisen,  die  ihn  nach 
London,  Paris  und  dann  nach  Basel  führten  und  ihm  bei  den  ver- 
schiedensten hervorragenden  Aerzten  reiche  Anregung  und  Be- 
lehrung brachten.  Mit  26  Jahren  wurde  er  in  seiner  Vaterstadt 
Lehrer  der  Anatomie  und  Leiter  eines  Hospitals,  aber  schon  ein  Jahr 
später  als  Professor  der  Anatomie,  Chirurgie,  Chemie  und  Botanik 
nach  Göttingen  berufen  (1746).  Dort  entfaltete  er  von  vornherein 
eine  ebenso  in  die  Tiefe  wie  in  die  Breite  gehende  Wirksamkeit 
und  verstand  es,  das  Ansehen  Göttingens  und  namentlich  der  medi- 
zinischen Fakultät  derart  zu  heben,  daß  von  überall  her  die  Stu- 
dierenden dorthin  strömten,  und  es  bald  als  eine  besondere  Empfehlung 
galt,  bei  Haller  gehört  zu  haben.  Trotzdem  ging  er  im  Jahr  1753 
nach  Bern  zurück,  teils  infolge  eines  Leidens,  teils  weil  es  ihn  mit 
Macht  in  die  Heimat  zog.  Dort  lebte  er,  vorwiegend  literarisch 
tätig,  daneben  aber  auch  als  Dichter  und  auch  als  Förderer  des 
Gemeinwohls  seiner  Vaterstadt  wirkend.  Er  starb  1777  an  Magen- 
krebs. 

Hallers  wichtigste  Arbeiten  betreffen  —  auch  hierin  eine  Ver- 
wandtschaft mit  Galen  —  die  Anatomie  und  besonders  die  Physio- 
logie. Das  letztere  Gebiet  entbehrte  bis  auf  ihn  trotz  der  zahlreichen, 
hervorragenden  Einzelleistungen  (man  denke  an  Harvey  und  seine 
Nachfolger!)  noch  jeder  einheitlich  zusammenfassenden  Bearbeitung. 
Es  war  eine  Sammlung  von  vielen  Tatsachen.  Auch  äußerlich  fand 
dies  seinen  Ausdruck  darin,  daß  seit  Galens  „Tcepl  XP*^*^*^  {xoptwv" 
kein  einziges  wirkliches  Lehrbuch  der  Physiologie  verfaßt  worden 
war.  Um  so  gewaltiger  erscheinen  die  beiden  HALLERschen  Werke, 
das  1747  erschienene  Elementarwerk  „Primae  lineae  physiologiae" 
und  sein  großes  Handbuch  von  1757  ,,Elementa  physiologiae  cor- 
poris humani".  Ihnen  stehen  ebenbürtig  zur  Seite  die  „Icones  ana- 
tomicae"  und  die  Kommentare  zu   Boerhaves  Institutiones. 

Sein  Hauptverdienst  besteht  darin,  an  die  Stelle  der  vagen  Be- 
griffe, mit  denen  man  bis  dahin  den  organischen  Vorgang   der  Be- 


Anatomen  und  Physiologen  in  seinen  Bahnen  usw.  355 

wegnng  als  Grundlage  einer  großen  Zahl  von  Lebensfunktionen  zu 
erklären  versucht  hatte,  eine  wissenschaftliche  Tatsache  gesetzt  und 
damit  überhaupt  als  erster  dieses  biologische  Grundproblem  ohne 
jede  Spekulation  ausschließlich  auf  Grund  der  sinnlichen  Erfahrung 
gelöst  zu  haben.  In  seiner  Schrift  „De  partibus  corporis  humani 
sensibilibus  et  irritabihbus"  brachte  er  durch  eine  große  Reihe  von 
Versuchen  den  Nachweis,  daß  dem  Muskelgewebe  eine  von  der  rein 
mechanischen  Eigenschaft  der  Elastizität  grundverschiedene,  nur  ihm 
allein  eigentümliche  Eigenschaft  innewohne,  auf  verschiedene  Reize 
mit  einer  Zusammenziehung  zu  antworten.  Für  diese  Eigenschaft 
brauchte  Haller  die  bereits  von  anderen  (aber  im  abweichenden 
Sinne)  gebrauchte  Bezeichnung  „Irritabilität".  Weiter  versuchte  er 
dann  das  Verhältnis  der  Nerventätigkeit  zu  dieser  Funktion  festzu- 
stellen, und  erkannte,  daß  den  Nerven  selbst  keinerlei  Irritabilität 
zukomme,  daß  diese  andererseits  dem  Muskelgewebe  ganz  unab- 
hängig von  den  Nerven  innewohne,  daß  die  letzteren  dagegen  die 
Rolle  von  Fortleitern  des  vom  Zentralorgan  ausgehenden  Reizes  zu 
den  Muskeln  spielten.  ~~ 

Den  Nerven  ihrerseits  erkannte  er  ebenfalls  eine  ihnen  eigen- 
tümliche Eigenschaft  zu :  die  Sensibilität,  d.  h.  die  Fähigkeit,  auf  alle 
sie  irgendwo  treffenden  Reize  mit  einer  Empfindung  zu  reagieren. 
Die  Fortleitung  dieser  Reize  verlegte  er  in  die  von  ihm  —  ebenso 
wie  bereits  von  Galen  und  anderen  Aerzten  des  Altertums  —  an- 
genommenen feinen  Röhrchen  der  Nervenfasern,  in  denen  er  die 
feinsten  „Lebensgeister"  in  ähnlicher  Weise  wie  das  Blut  in  den 
Adern  zirkulieren  ließ. 

Diese  Anschauungen  bilden  das  Gerüst,  auf  dem  sich  seine  ge- 
samte Physiologie  aufbaut,  und  die  vielen  einzelnen  Ideen  seiner 
Vorgänger  zu  einem  einheitlichen  Bilde  verarbeitet  werden.  Dabei 
ist  Haller  immer  bestrebt,  unter  engstem  Anschluß  an  die  spezielle 
Anatomie  und  Vornahme  unzähliger  Experimente  seinen  Lehren  eine 
feste  naturwissenschaftliche  Begründung  zu  geben.  Obgleich  also 
von  unserem  heutigen  Standpunkte  aus  noch  vielerlei  Unrichtiges 
und  noch  mehr  Unvollkommenes  in  seiner  Physiologie  enthalten  ist, 
so  bleibt  ihm  doch  das  Verdienst,  eine  gewaltige  Förderung  dieses 
Wissenszweiges  erreicht  und  die  Wege  gewiesen  zu  haben,  auf  denen 
er  weiter  ausgestaltet  werden  konnte. 


Während  aber  Haller  selbst  sich  vollkommen  klar  darüber 
war,  nur  einigen  Grundformen  des  organischen  Lebens  auf  die  Spur 
gekommen  zu  sein,  nahmen  viele  seiner  Schüler  und  Nachfolger  seine 
Lehren  als  etwas  Endgültiges  hin,  über  das  man  nicht  weiter  hinaus- 

*3' 


356     Neubegründung  der  Physiologie  durch  Albrecht  von  Haller. 

kommen  könne.  Andere  wieder,  die  noch  tief  in  den  Anschauungen 
des  18.  Jahrhunderts  staken,  bekämften  ihn,  und  nur  verhältnismäßig 
wenige  erfaßten  den  Geist  seiner  Lehren  vollständig  und  versuchten 
in  ihm  weiterzuwirken. 

Zu  den  letzteren  gehören  vor  allem  Johann  Gottfried  Zinn 
(1727  — 1759),  dessen  Namen  in  der  Anatomie  des  Auges  fortlebt, 
Giovanni  Battista  Morgagni  (1682— 177 i),  Heinrich  August 
Wrisberg  (1739— 1808),  ferner  der  erste  Anatom  des  Berliner  Col- 
legiums  Johann  Friedrich  Meckel  (1724 — 1774),  Johann  Nathan 
Lieberkühn  (1711 — 1765)  u.a.m. 

Diese  Männer,  von  denen  keiner  an  Bedeutung  Haller  an- 
nähernd erreichte,  haben  eine  ganze  Reihe  bedeutsamer  anatomisch- 
physiologischer Einzelbefunde  zu  seinen  Forschungen  hinzugefügt 
und  damit  dem  Gebäude  der  HALLERschen  Lehren  manche  neue 
Stütze  geschaffen.  Aber  auch  auf  anderem  Gebiete  erwies  sich 
Hallers  Wirken  als  äußerst  anregend.  So  nahm  unter  seinem 
Einfluß  Caspar  Friedrich  Wolff  (1735 — 1794)  die  Theorie  der 
Epigenese,  die  bereits  bei  Hippokrates  und  Aristoteles  ange- 
deutet war,  wieder  auf  und  behauptete,  daß  bei  der  Zeugung  eine 
wirkliche  Neuschöpfung  stattfände.  Auch  sah  er  zum  ersten  Male 
die  Entwicklung  des  tierischen  Organismus  aus  kugligen  Gebilden, 
des  Embryos  aus  einer  Platte  und  manches  mehr.  Er  kann  somit 
als  der  Vorläufer  der  modernen  Embryologie  bezeichnet  werden. 
Johann  Friedrich  Blumenbach  (1752  — i 840)  schuf  die  Lehre  vom 
„Bildungstrieb",  als  einem  dem  tierischen  Körper  innewohnenden 
Triebe,  sich  zu  erhalten  und  innerhalb  seiner  selbst  und  der  Gattung 
zu  reproduzieren. 


Nicht  gering  war  die  Zahl  der  Aerzte,  welche  teils  in  Ver- 
kennung des  wahren  Sinns  der  HALLERschen  Lehren,  teils  im  be- 
wußten Gegensatz  zu  ihnen  oder  aber  auf  Grund  besonderer  Auf- 
fassungen ihrer  eigenen  Wege  gingen,  die  sie  dann  vielfach  auf 
ganz  andere  Gleise  führten.  Zu  diesen  meist  sehr  einseitig  vor- 
gehenden Männern  gehört  in  erster  Linie  William  Cullen  (17 12 
bis  1790),  der  in  Edinburgh  eine  Richtung  begründete,  die  zwar  ihren 
Zusammenhang  mit  Haller  nicht  verleugnete,  in  ihren  Auswirkungen 
aber  seinen  Gedanken  stracks  zuwiderlief.  Seine  Anschauungen, 
die  er  vor  allem  in  dem  1777  erschienenen  Werke  „First  lines  of 
the  practice  of  physik  usw."  niederlegte,  gehen  davon  aus,  daß  alle 
Funktionen  des  Organismus  im  gesunden  wie  im  kranken  Zustande 
im  letzten  Sinne  vom  Nervensystem  ihren  Anfang  nehmen.  Das 
„nervöse  Prinzip"   regelt   normalerweise    alle  Tätigkeiten   im  Körper 


Anatomen  und  Physiologen  in  seinen  Bahnen  usw. 


357 


und  stellt  bei  Krankheiten  durch  Erzeugung  von  Krampf  oder  um- 
gekehrt von  Atonie  die  normalen  Verhältnisse  wieder  her.  Das 
Fieber  beispielsweise,  das  er  als  einen  Ausdruck  des  natürlichen 
Heilungsbestrebens  ansieht,  besteht  vor  allem  in  einem  Krämpfe 
der  feinen  Arterienendungen,  durch  welche  rückwirkend  die  Herz- 
tätigkeit beschleunigt  und  die  Gefäße  erregt  werden.  Aehnlich 
erklärt  er  die  Entzündung.  Berühmt  wurde  seine  Theorie  der  Gicht. 
Er  glaubte,  daß  diese  auf  einer  Atonie  des  Magens  oder  der  übrigen 
Verdauungsorgane  beruhe,  gegen  die  sich  in  gewissen  Zwischen- 
räumen eine  natürliche  Reaktion  in  Form  einer  Entzündung  der 
Gelenke  geltend  mache.  Seine  Kj-ankheitslehre  ist  somit  vorwiegend 
solidar-pathologisch,  aber  nicht  bis  zur  letzten  Konsequenz.  Vielmehr 
läßt  er  manche  Leiden,  wie  den  Skorbut  und  die  Skrofulöse,  in 
Säfteveränderungen  ihre  Ursache  haben;  ferner  arbeitet  er  mit  dem 
seinen  sonstigen  Anschauungen  gänzlich  widersprechenden  Begriff 
der  „Kachexie"  und  manches  mehr.  Seine  Therapie  war  in  der 
Theorie  äußerst  einfach.  Sie  ruhte  —  genau  wie  schon  bei  den 
Methodikern  —  auf  zwei  entgegengesetzten  Prinzipien :  bei  atonischen 
Zuständen  Anwendung  von  Reizmitteln,  bei  krampfartigen  umgekehrt 
Verordnung  lindernder  und  krampfstillender  Maßnahmen.  In  voller 
Erkenntnis  aber,  daß  in 
der  Praxis  sehr  oft  solche 
Grundsätze  versagen  muß- 
ten, weicht  er  selbst  von 
ihnen  unbedenklich  ab. 
Trotz  der  außerordentlichen 
Flachheit  dieser  Lehren, 
vielleicht  aber  auch  gerade 
infolge  derselben  erwarb 
sich  CuLLEN  einen  großen 
Anhang  nicht  nur  in  Eng- 
land selbst,  sondern  auch 
auf  dem  Kontinent. 

In  mancher  Hinsicht 
diesen  Lehren  verwandt  und 
sicher  durch  sie  beeinflußt 
ist  ein  System,  daß  bei  den 
Zeitgenossen,  Aerzten  wie 
Laien  ein  außerordentliches,  uns  heute  kaum  mehr  verständliches 
Aufsehen  erregt  hat,  das  System  des  schottischen  Arztes  John  Brown 
(1735— 17Ö8).  Dieser  Mann,  der  zunächst  ein  Schüler  Cullens  war, 
später  sich  aber  auf  das  schroffste  gegen  ihn  stellte,  veröffentlichte 
1778   seine   Schrift   „Elementa  medicinae",  die   ihm    in   kurzer  Frist 


Abb.  185.    John  Brown. 


358     Neubegründung  der  Physiologie  durch  Albrecht  von  Haller. 

eine  große  Anzahl  Anhänger  und  seinem  System  den  Namen 
„Brownianismus"  verschaffte.  In  Brown  vereinigten  sich  die  denkbar 
verschiedenartigsten  Eigenschaften:  er  war  zweifellos  ein  geistvoller 
und  origineller  Mensch,  dabei  aber  von  zügellosem  Charakter  und 
einer  weitgehenden  Gewissenlosigkeit.  Sein  Gedankengang,  der 
neben  mancherlei  Anklängen  an  ältere  Lehren  doch  auch  Eigenes 
enthält,  ist  kurz  folgender:  das  Leben  ist  im  letzten  Sinne  kein 
natürlicher  Zustand,  vielmehr  abhängig  von  der  dauernden  Einwirkung 
der  „Reize",  und  zwar  von  äußeren  Reizen  wie  Kälte  und  Wärme, 
Luftströmung,  Nahrung  usw.  und  inneren  Reizen,  wie  psychische 
Verrichtungen,  Muskelzusammenziehungen  usw.  Ferner  sind  örtlich 
und  allgemein  wirkende  Reize  zu  unterscheiden.  Auf  jede  Art  von 
Reiz  aber  antwortet  der  Organismus  mit  einer  „Erregung",  so  daß 
durch  die  ununterbrochene  Reizwirkung  auch  ein  dauernder  „Er- 
regungszustand" des  Körpers  bedingt  ist.  Gesundheit  ist  also  nichts 
anderes  als  ein  mittlerer  Grad  von  Erregung.  Krankheit  entsteht 
durch  ihre  örtliche  oder  allgemeine  Erhöhvmg  oder  Herabsetzung. 
Danach  gibt  es  zwei  Hauptgruppen  von  Leiden:  „sthenische"  und 
„asthenische".  Diese  Einteilung  wird  gekreuzt  von  einer  anderen  in 
„allgemeine  und  örtliche  Krankheiten".  Die  ersteren  treten  zwar 
meist  von  vornherein  als  solche  auf  und  beruhen  dann  fast  immer 
auf  einer  besonderen  Anlage,  manchmal  aber  können  sie  sich  auch 
aus  einem  örtlichen  Leiden  entwickeln. 

Bei  einer  derartigen  auf  eine  denkbar  einfache  Formel  gebrachten 
Krankheitstheorie  erübrigt  sich  für  Brown  fast  jede  Diagnostik.  Es 
genügt  ihm  die  Feststellung  des  vorhandenen  Grades  von  Erregung 
(nach  einem  übrigens  recht  willkürlichen  Schema,  das  seine  Anhänger 
geradezu  in  ein  „Krankheitsbarometer"  umwandelten),  ferner  einer 
gewissen  Rücksichtnahme  auf  die  Ursachen  des  Leidens  und  —  bei 
örtlichen  Krankheiten  —  auf  ihren  Sitz.  In  gleicher  Weise  verein- 
facht ist  dementsprechend  auch  die  Therapie.  Ihre  Aufgabe  besteht 
nur  in  einer  Herabsetzung  oder  Erhöhung  der  Reizbarkeit  nach 
dem  wenigstens  in  der  Theorie  bis  zur  äußersten  Konsequenz  durch- 
geführten Grundsatz  „contraria  contrariis";  eine  Auffassung,  die  am 
meisten  an  die  des  Asklepiades  (siehe  oben  S.  107  f.)  anklingt.  Wie 
denn  überhaupt  Brown  in  seinem  Gehaben  und  seinen  Lehren 
mancherlei  Verwandtes  mit  dem  Bithynier  hat,  nicht  zum  wenigstens 
in  seiner  völligen  Negierung  der  Natur. 

Auch  seinen  Zeitgenossen  erschien  Brown  (trotz  Hoffmann, 
CuLLEN  usw.)  als  ein  hervorragender  Neuerer,  während  in  Wirklich- 
keit das  einzige  Novum  in  seinen  Lehren  —  das  als  solches  damals 
gar  nicht  erkannt  wurde  —  darin  bestand,  daß  er  zum  ersten  Male 
eine  rein  auf  den  Phänomenen  begründete  Krankheitslehre  aufstellte. 


Anatomen  und  Physiologen  in  seinen  Bahnen  usw.  359 

Diese  artete  dann  sehr  bald  ganz  ähnlich  wie  bei  den  Xachfolgern 
des  ASKLEPIADES  in  einen  ausgesprochenen  „Methodismus"  aus. 
Wie  Thessalos  von  Tralles  (s.  oben  S.  1 19  f.)  seine  Kommunitätenlehre 
schuf,  so  stellte  Röschlaub  (1768 — 1835)  dreißig  Axiome  auf,  deren 
Beobachtung  den  ganzen  Inbegriff  aller  praktischen  Medizin  bilden 
sollte.  Eine  gewisse  Umbildung  erfuhr  BRO\srxs  Lehre  durch  den 
Italiener  GlOVANXl  Rasori  (1763 — 1837).  Dieser  setzte  an  die  Stelle 
der  Begriffe  „Sthenie  und  Asthenie"  diejenigen  der  „Diathesis  de 
stimulo"  und  „Diathesis  de  contrastimulo",  in  denen  er  die  Haupt- 
grundlagen seiner  Diagnostik  und  Therapie  sah.  Auf  wie  schwachen 
Füßen  diese  Vorstellungen  standen,  erhellt  am  besten  daraus,  daß 
er  die  Xatur  einer  Krankheit  in  der  Regel  erst  aus  der  Wirkung 
der  angewandten  Mittel  erschloß  (also  eine  verallgemeinerte  Diagnose 
ex  juvantibus  in  krassester  Form!). 

Von  HALLERschem  Geiste,  dem  sie  sich  in  gewissem  Sinne 
verwandt  fühlten,  ist  bei  keinem  der  zuletzt  behandelten  Männer 
viel  zu  bemerken.  Sie  hafteten  nur  an  dem  Aeußerlichen,  während 
sie  den  Kern  entweder  nicht  erfaßten  oder  jedenfalls  unbenutzt  bei- 
seite ließen.  Eine  Ausnahme  bildete  in  dieser  Zeit,  d.  h.  um  die 
Mitte  des  18.  Jahrhunderts,  nur  ein  einziger  Mann,  ein  Schüler 
BoERHA\'Es,  indem  er,  ebenso  wie  Haller  die  Physiologie  zum 
ersten  Male  wieder  als  ein  geschlossenes  Gebiet  bearbeitet  hatte, 
das  Gleiche  für  die  Pathologie  unternahm:  HiERONYMUS  David 
Gai>b  (1704 — 1780).  Er  ist  ein  Eklektiker  im  wahren  Sinne  des 
Wortes:  denn  sein  System  —  als  solches  muß  man  seine  Lehren  in 
ihrer  Einheitlichkeit  bezeichnen  —  baut  sich  auf  den  verschieden- 
artigsten Anschauungen  auf,  die  von  ihm  in  geschickter  Weise  mit- 
einander in  Einklang  gebracht  werden,  wie  dies  am  besten  seine 
1758  veröffentlichten  „Institutiones  pathologiae  medicinahs"  zeigen. 
Er  faßt  die  Irritabihtät  und  Sensibilität  als  zw^ei  Hauptformen  der 
dem  Körper  und  seinen  Teilen  innewohnenden  Kraft  auf,  die  er 
ebenso  sehr  als  eine  Art  Physis  nach  hippokratischem  Vorbild,  wie 
als  Anima  nach  SxAHLschem  Muster  oder  als  eine  besondere 
„Lebenskraft"  auffaßt.  Indem  er  den  Sitz  dieser  Kraft  in  die 
festen  wie  in  die  flüssigen  Teile  des  Organismus  verlegt,  nament- 
lich auch  in  das  Blut,  geht  er  über  die  einseitig  solidarpathologische 
Betrachtung  hinaus.  Diese  allgemeinen  Theoreme  sucht  er  durch 
sorgfältige  physiologische  Untersuchungen  im  einzelnen  zu  stützen 
und  zieht  dabei  die  gesamten  Kenntnisse  über  den  Bau  und  die 
Funktion  des  Körpers  heran.  Der  Einfluß  von  Hallers  Lehren 
ist  dabei  unverkennbar. 

Origineller  geht  er  in  seiner  Krankheitslehre  vor,  wenngleich 
auch  darin   die  verschiedensten  Anschauungen  zeitgenössischer  und 


360  Die  Schule  von  Montpellier  und  der  Vitalismus. 

älterer  Autoren  anklingen.  Er  sieht  in  jeder  Krankheit  nicht  ein- 
fach eine  Störung  in.  der  Zusammensetzung  und  der  Funktion  von 
Körperteilen,  sondern  einen  Kampf  zwischen  dem  krankmachenden 
Agens  und  der  dem  Körper  eigentümlichen,  hauptsächlich  in  der 
„Seele"  wirksam  werdenden  Kraft,  die  sich  stets  gerade  da  betätigt, 
wo  die  krankhafte  Schädigung  sich  am  stärksten  bemerkbar  macht. 
Je  nachdem  dies  in  den  festen  Geweben  oder  in  den  Säften  der 
Fall  ist,  je  nachdem  nur  ein  einzelner  Teil  ergriffen  ist  oder  —  was 
weit  häufiger  vorkommt  —  mehrere,  unterscheidet  Gaub  verschie- 
dene Grundformen  der  Krankheit:  Gewebs-  oder  Säftekrankheiten, 
einfache  oder  zusammengesetzte  Leiden.  Die  Gewebskrankheiten 
bestehen  entweder  in  einer  zu  großen  Starre  (Rigidität)  oder  Schlaff- 
heit (Debilität)  der  Faser.  Die  Säftekrankheiten  entweder  in  Ver- 
dickungen (Tenacitas)  oder  Verflüssigungen  (Tenuitas), 

Eine  wichtige  Rolle  kommt  der  Aetiologie  der  Krankheiten  zu. 
Gaub  würdigte  sowohl  die  äußeren  wie  die  inneren  Ursachen,  unter 
den  letzteren  die  Erblichkeit  und  Disposition,  unter  den  ersteren  die 
gesamte  Lebensweise,  jede  Art  äußerer  Einflüsse,  insbesondere  auch 
die  sogenannten  Miasmata  und  Kontagien  als  Verursacher  der  an- 
steckenden Krankheiten.  Vortrefflich  ist  auch  die  Symptomenlehre 
abgehandelt;  man  spürt  in  ihr  sichtlich  den  Einfluß  Sydenhams 
und  der  großen  Wiener  Kliniker. 

Dieser  Einheitlichkeit  der  Krankheitslehre  stand  nun  als  Schatten- 
seite die  mangelhafte  Verknüpfung  mit  der  normalen  Physiologie 
gegenüber;  ein  Fehler,  der  zwar  bei  Gaub  nicht  allzu  schwer  ins 
Gewicht  fällt,  bei  manchen  seiner  Anhänger  aber  entschieden  Schaden 
angerichtet  hat.  Gaubs  Einfluß  war  im  übrigen  nicht  gering ;  nament- 
lich fand  sein  oben  erwähntes  Werk  weite  Verbreitung  und  hat 
zweifellos  mit  den  Boden  für  die  Aufnahme  einer  Lehre  vorbereitet, 
deren  Grundgedanke  sich  auch  bei  ihm  als  einer  der  vielen  Bau- 
steine seines  „Systems"  findet,  dessen  Ausbau  zu  einer  Schule  aber 
auf  ganz  anderem  Boden  stattfand:  des  Vitalismus. 


Die  Schule  von  Montpellier  und  der  Vitalismus. 

Die  großen  Schwierigkeiten,  die  der  Begründung  einer  medi- 
zinischen Theorie  trotz  der  fortgeschrittenen  naturwissenschaftlichen 
Kenntnisse  immer  noch  entgegenstanden,  fanden  ihren  Ausdruck  in 
den  von  den  verschiedensten  Forschern  gemachten  Versuchen,  von 
den  mannigfachsten  Standpunkten  aus  den  Rätseln  des  gesunden 
und  kranken  Lebens  auf  die  Spur  zu  kommen.  Ist  auch  bei  fast 
allen  diesen  Versuchen  der  Einfluß  der  HALLERschen  Anschauungen 


Die  Schvile  von  Montpellier  und  der  Vitalismus.  361 

unverkennbar,  so  blieb  es  doch  nicht  aus,  daß  auch  andere,  ältere 
Gedankengänge  zu  jenem  Zwecke  wieder  hervorgeholt  wurden.  Zu 
Montpellier  hatte  mehr  als  irgendwo  sonst  die  alte  hippokratische 
Lehre  von  der  Physis  sich  als  Grundlage  des  ärztlichen  Denkens 
und  Handelns  erhalten.  Daher  vermochte  die  Theorie  Stahls  von 
der  Anima,  die  ja  im  Grunde  nichts  anderes  war,  als  eine  Erneuerung 
der  antiken  Physiatrie,  ohne  Schwierigkeit  dort  Fuß  zu  fassen.  In 
der  Tat  hatte  Fraxcois  BoissiER  DE  LA  Croix  de  Sauvages 
(17 06  — 1767)  bereits  versucht,  die  einseitig  mechanistischen  Lehren  durch 
eine  Verquickung  mit  dem  SxAHLschen  Animismus  für  die  Schule 
von  Montpellier  aufnahmefähig  zu  machen  und  so  gleichzeitig  den 
SYDENHAMschen  Hippokratismus  in  erweiterter  Form  fortzuführen. 
Während  aber  bei  ihm  die  Theorie  mehr  sekundär  zur  Erklärung 
der  beobachteten  Erscheinungen  herangezogen  wurde,  machte  um- 
gekehrt ein  Zeitgenosse,  Theophile  Bordeu,  seine  Theorie  zum 
Ausgangspunkte  einer  Lehre,  die,  wenn  auch  mit  manchen  Wand- 
lungen, sich  bis  auf  unsere  Zeit  erhalten  hat;  er  wnirde  der  Vor- 
bereiter des  „Vitalismus".  Dieser  Mann,  der  1722  geboren  war, 
seine  Ausbildung  in  Montpellier  erhalten  hatte  und  im  Jahre  1776 
nach  einem  Leben  voller  Kämpfe  in  Paris  starb,  machte  seinen 
Namen  zuerst  bekannt  durch  seine  außerordentlich  heftige  Kritik 
gegen  die  iatrochemische  Schule  und  gegen  Boerhave.  Seine 
Studien  auf  dem  Gebiete  der  Chemie,  der  Physik,  Anatomie  usw. 
führten  ihn  zu  der  Ueberzeugung,  daß  alles  diesen  Gebieten  ent- 
lehnte Wissen  nicht  imstande  sei,  eine  wirkliche  Erklärung  der 
Lebenserscheinungen  zu  geben.  So  glaubte  er  z.  B.  zu  erkennen, 
daß  der  Vorgang  der  Drüsenabsonderungen  weder  auf  physikalischem 
noch  auf  chemischem  Wege  zu  erklären  sei,  sondern  auf  Gesetzen 
höherer  Ordnung  beruhen  müsse.  Seine  Beschäftigung  mit  der  alten 
Medizin  brachte  ihm  vielmehr  die  Ansicht  bei,  daß  der  beste  Aus- 
gangspunkt für  alle  Erklärungsversuche  noch  immer  die  hippo- 
kratische „Physis"  in  der  durch  Stahl  begründeten  Auffassung  als 
beseelendes  Prinzip  sei,  die  er  mit  „la  nature"  übersetzte.  Diese  dem 
lebenden  Organismus  immanente  Kraft  hat  nach  ihm  ihren  Sitz  in 
jedem  einzelnen  Teile  des  Körpers  und  äußert  sich  in  jedem  der- 
selben in  einer  eigentümlichen  Art,  die  von  dem  Bau  des  betreffenden 
Teiles  abhängt.  Die  wichtigsten  Organe  sind  Magen,  Herz  und 
Gehirn,  sie  regulieren  die  F"unktionen  aller  anderen  Teile;  namentlich 
sind  von  ihnen  die  zwei  hauptsächlichsten  Lebensäußerungen  ab- 
hängig: Gefühl  und  Bewegung.  Diese  im  Grunde  genommen  nur 
wenig  von  Stahl  abweichende  Theorie  bildet  die  eigentliche  Unter- 
lage für  die  vitalistische  Lehre,  die  ihre  eigentliche  Begründung 
BüRDEUs  Schüler  Paul  Joseph  Barthez  verdankt. 


ß62  Die  Schule  von  Montpellier  und  der  Vitalismus. 

Barthez  stand  unverkennbar  unter  dem  Einfluß  der  Philosophie 
CONDiLLACs  (17 15— 1780),  welcher  für  die  Naturforschung  nur  die 
vSinneserfahrung  gelten  ließ,  die  Auflösung  der  Sinneswahrnehmungen 
in  ihre  einzelnen  Grundbestandteile,  und,  darauf  folgend,  ihre  Wieder- 
zusammensetzung als  den  einzig  wahren  Weg  wissenschafthcher 
Untersuchungen  ansah.  In  seinem  1778  erschienenen  Werke  „No- 
veaux  Clements  de  la  science  de  l'homme"  entwickelt  er  seine  Ge- 
danken :  der  letzte  Grund  aller  Vorgänge  im  Organismus  ist  das 
„vitale  Prinzip",  dessen  eigentliches  Wesen  unbekannt  und  unbe- 
gründbar  ist.  Es  ist  verschieden  vom  „denkenden  Geist",  es  ist 
aber  mit  Bewegung  und  Sensibilität  begabt.  Es  ist  zwar  etwas 
Abstraktes,  hat  aber  doch  auch  wieder  gewisse  reale  Eigenschaften. 
Neben  den  iVeußerungen  der  Motilität  und  Sensibilität  kommt  ihm 
das  Vermögen  zu,  in  allen  Körperteilen  die  Form,  Ausdehnung, 
Lage,  Spannung  zu  bewahren  und  Störungen  hierin  wieder  aufzu- 
heben. Auch  die  Beziehungen  der  einzelnen  Teile  des  Körpers 
untereinander  unterliegen  dem  sie  beherrschenden  Lebensprinzip. 

Krankheit  ist  nach  Barthez'  Auffassung  eine  Affektion  der 
Lebenskraft  und  äußert  sich  entsprechend  den  einzelnen  Funktionen 
je  nachdem  in  einer  Störung  der  Sensibilität,  Motilität,  der  „force 
de  Situation  fixe"  u.  a.  m.  Alle  diese  Störungen  rufen  dann  aber 
spontan  eine  Gegenwirkung  der  dem  Organismus  innewohnenden 
Lebenskraft  hervor. 

Die  therapeutischen  Folgerungen  aus  diesen  Vorstellungen  er- 
geben sich  ohne  weiteres:  die  Behandlung  besteht  in  der  Unter- 
stützung oder  Regelung  des  natürlichen  Heilbestrebens  und  in  einer 
Beeinflussung  der  einzelnen  Krankheitselemente.  Eine  Inkonsequenz 
bedeutet  ein  drittes  Heilprinzip,  nach  dem  man  gegen  die  Krank- 
heiten mit  solchen  Mitteln  vorgehen  soll,  die  erfahrungsgemäß  eine 
spezifische  Wirkung  ausübten.  Im  übrigen  war  er  der  erste,  der  — 
seit  den  Methodikern  —  der  Indikationenlehre  wieder  einen  bevor- 
zugten Platz  in  seinem  S3^stem  einräumte. 


Während  Barthez  und  seine  unmittelbaren  Schüler  und  An- 
hänger, wie  vor  allem  Philippe  Pinel  (1755  — 1826),  die  kurz  ge- 
kennzeichneten vitalistischen  Ideen  als  das  auffaßten,  was  sie  wirk- 
lich waren,  nämlich  den  Versuch,  gewissen  Erscheinungen  des  ge- 
sunden und  kranken  Lebens  einen  Ausdruck  zu  verleihen,  daneben 
aber  in  durchaus  rationeller  Weise  die  praktische  Medizin  auszuge- 
stalten suchten  und  durch  bewußte  Anwendung  der  „analytischen 
Methode"  den  Boden  für  eine  spätere,  äußerst  fruchtbare  Richtung 
vorbereiteten,   wurde  die  Lehre   in  Deutschland  weit  stärker  auf  die 


Die  Schule  von  Montpellier  und  der  Vitalismus.  363 

Bahn  der  Spekulation  geleitet.  Ihr  Schicksal  auf  deutschem  Boden 
verkörperte  sich  vor  allem  in  dem  Entwicklungsgange,  den  ihr  be- 
deutendster Vertreter  in  seinen  Anschauungen  selbst  durchlief: 
Johann  Christian  Reil  (1759—1813).  In  seiner  berühmten  1796 
erschienen  Abhandlung  „Von  der  Lebenskraft"  geht  er  davon  aus, 
daß  der  Grund  aller  Lebensäuüerungen  in  der  eigentümlichen 
Mischung  und  Form  der  Materie  liege.  Zu  dieser  rechnet  er  neben 
den  sinnlich  wahrnehmbaren  noch  gewisse  unsichtbare  Stoffe,  wie 
Wärme,  Elektrizität  u.  a.  m.  Das  Verhältnis  der  Erscheinungen  zu 
den  Eigenschaften  der  Materie,  welche  sie  erzeugen,  bezeichnet  er 
als  Kraft.  Eine  besondere  Form  der  Kraft  ist  die  „Lebenskraft". 
Sie  ist  nach  seiner  Auffassung  der  iVusdruck  für  das  Verhältnis,  in 
dem  die  materiellen  Eigenschaften  der  lebenden  Teile  zu  denjenigen 
von  ihnen  ausgehenden  Erscheinungen  stehen,  durch  die  sich  die 
lebendige  Natur  von  der  toten  unterscheidet.  Ihr  sind  die  physischen, 
chemischen  und  mechanischen  Kräfte  im  tierischen  Körper  unter- 
geordnet und  gleichsam  durch  sie  gebunden,  so  daß  sie  durch  den 
Tod  des  Tieres  von  dieser  Subordination  befreit  und  wieder  in  ihre 
Herrschaft  eingesetzt  werden.  Der  Organismus  ist  eine  Art  Republik, 
in  der  alle  Teile  zur  Erhaltung  des  Ganzen  nach  bestimmten  Ge- 
setzen zusammenwirken,  wobei  aber  jeder  einzelne  Teil  seine  eigene 
Existenz  und  seine  eigenen  Lebenserscheinungen  besitzt.  Krankheit 
ist  nach  Reils  Lehre  auf  der  einen  Seite  Abweichung  von  Form 
und  Mischung,  auf  der  anderen  Seite  das  dem  Körper  innewohnende 
Bestreben,  jene  wieder  auszugleichen.  Der  Prototyp  aller  Krank- 
heiten im  engeren  Sinne  ist  das  Fieber,  das  besonders  deutlich  die 
beiden  Komponenten  des  Krankheitsbegriffs  zeigt. 

Da  die  Heilung  in  der  Regel  von  selten  des  Organismus  selbst 
erfolgt,  hat  die  Behandlung  vor  allem  die  Unterstützung  der  Kräfte 
zum  Ziele,  deren  sich  jener  bedient:  so  der  organisierenden,  der 
reproduzierenden,  der  beseelenden  Kraft  usw.  Demnach  unterscheidet 
Reil  Heilmittel,  welche  zunächst  dynamisch  wirken  (psychische), 
aber  sekundär  auch  stoffliche  Veränderungen  hervorrufen  können; 
femer  chemische,  d.  h.  unmittelbar  auf  die  Plastizität  wirkende,  und 
mechanische.  Die  starke  Betonung  der  psychischen  Heilmittel  geht 
bei  ihm  Hand  in  Hand  mit  dem  Interesse,  das  er  der  Psychiatrie 
entgegenbrachte,  die  in  ihm  seit  langer  Zeit  wieder  zum  ersten  Male 
einen  Förderer  fand.  Ueberhaupt  war  Reil  trotz  seiner  Festlegung 
auf  den  Vitalismus  ein  vielseitiger  Arzt,  der  ebenso  auf  dem  Gebiete 
der  Anatomie  —  insbesondere  der  des  Gehirns  —  forschend  tätig 
war,  wie  als  Kliniker.  Trotzdem  aber  hat  er  in  seinen  späteren 
Jahren  sichtlich  unter  dem  Einfluß  der  philosophischen  Strömung 
dieser   Zeit  sich   weit  in   das  Dickicht   der  Spekulationen    verloren. 


364     System  Mesmers  u.  seine  Nachfolger,  Naturphilosophie  Schellings 

Aber  seine  Grundideen  sind  auch  für  solche  Forscher  anregend  ge- 
wesen, die  sich  im  übrigen  in  ihren  Anschauungen  weit  von  ihm 
entfernten.  Sicher  ist  der  große  Einfluß,  den  der  Vitalismus  für 
einige  Jahrzehnte  zu  erringen  vermochte,  zu  einem  großen  Teil  auf 
Reil  zurückzuführen;  und  viele  theoretische  Systeme  der  Folgezeit 
lassen  mehr  oder  minder  diesen  Einfluß  erkennen. 


Das  System  Mesmers  und  seine  Nachfolger, 

die  Naturphilosophie  Schellings  und  ihr  Einfluß  auf 

die  Medizin.    Die  naturhistorische  Schule. 

Bei  den  mannigfachen  Eindrücken,  die,  von  ganz  anderen 
Grundlagen  ausgehend,  nicht  minder  stark  auf  die  Medizin  ein- 
wirkten, bot  diese  in  der  Folgezeit  ein  Bild  von  einer  Buntheit,  wie 
kaum  vorher  und  nachher.  Besonders  von  zwei  entgegengesetzten 
Seiten  drangen  neue  Gedanken  und  Anschauungen  auf  die  Heil- 
kunde ein:  von  den  realen  Ergebnissen  der  im  letzten  Viertel  des 
18.  Jahrhunderts  in  einem  gewaltigen  Umschwung  befindlichen  Natur- 
wissenschaften und  dem  in  Schellings  Naturphilosophie  Ausdruck 
findenden  Streben  nach  Vergeistigung  aller  Naturgesetze.  Die  großen 
Fortschritte  des  18.  Jahrhunderts  in  der  Physik,  wie  sie  sich  an  die 
Namen  der  Schweizer  Gelehrtenfamilie  Bernoulli,  Leonard 
Eulers,  Newtons,  Franklins,  Galvanis,  Voltas  u.  a.  knüpfen, 
blieben  ebensowenig  ohne  starke  Einwirkung  auf  die  Heilkunde 
wie  die  chemischen  Entdeckungen  von  Leuten  wie  GeoffOY,  Ca- 
vendish,  Priestley,  Lavoisier  u.  a.  m.  So  war  es  Galvani 
selbst,  der  auf  den  Gedanken  kam,  seine  Entdeckung  auf  dem  Ge- 
biete der  Elektrizität  für  die  Medizin  fruchtbar  zu  machen,  nament- 
lich sie  zu  Erklärungen  solcher  Lebenserscheinungen  zu  benutzen, 
denen  man  mit  den  bisherigen  Erkenntnissen  nicht  beikommen 
konnte.  Er  glaubte  die  Krankheiten,  insbesondere  die  der  Nerven, 
auf  qualitative  oder  quantitative  Veränderungen  des  im  gesunden 
Organismus  innerhalb  eines  gewissen  Norm  sich  bewegenden  elek- 
trischen Fluidums  zurückführen  und  daraus  alle  möglichen  thera- 
peutischen Folgerungen  ableiten  zu  können.  Hielt  er  sich  dabei 
aber  wenigstens  an  naturwissenschaftliche  Tatsachen,  so  wurden 
diese  von  anderen  Männern  nur  benutzt,  um  darauf  rein  spekulative 
Gebäude  zu  errichten. 

Zu  diesen  Leuten  gehörte  vor  allem  FRIEDRICH  Anton  Mesmer 
(1734 — 1Ö15)»  der  bereits  in  seiner  Doktorarbeit  seine  besondere 
Geistesrichtung  zu  erkennen  gab.  In  dieser  Schrift,  die  den  Titel 
trug:   „De  influxu  planetarum  in  corpus  humanum"  ging  er  im  An- 


und  ihr  Einfluß  auf  die  ^Medizin.     Die  naturhistorische  Schule.      36; 


Schluß  an  die  damals  noch  junge  Lehre  vom  ^lagnetismus  davon 
aus,  daß  ein  allgemein  verbreitetes  feines  Fluidum  mannigfaltige 
Wirkungen  ganzer  Weltkörper  untereinander,  aber  auch  auf  einzelne 
Lebewesen  vermittle.  Dies  führte  ihn  dann  weiter  zu  der  Annahme, 
daß  auch  dem  menschlichen  Organismus  ein  solches  Fluidum  inne- 
wohne, das  er  als  „tierischen  Magnetismus"  bezeichnete.  Dessen  Ver- 
halten glaubte  er  von  außen  her  durch  die  Einwirkung  von  IMagneten 
beeinflussen  und  auf  diese  Weise  auch  krankhafte  Zustände  des  Körpers 
umwandeln  zu  können.  Sehr  bald  aber  kam  er  bei  seinen  Versuchen 
zu  der  Erkenntnis, 
daß  es  des  eigent- 
lichen „^Magnetisie- 
rens"  gar  nicht  be- 
dürfe, daß  vielmehr 
der  Magnet  nicht  die 
eigentliche  Quelle, 
vielmehr  nur  der  ver- 
mittelnde Körper  der 
vom  ,.Magnetiseur" 
ausgehenden  Kraft 
zu  dem  „Magneti- 
sierten"  sei.  Er  er- 
setzte also  die  Kraft 
des  Magneten  durch 
die  seiner  Meinung 
nach  in  ihm  selbst 
ruhende  Kraft,  die 
er  durch  Berühren 
oder  Streichen  des 
anderenlndividuums 
auf  diesen  überlei- 
tete. Weitere  Experi- 
mente  aber  zeigten 

ihm.  daß  selbst  dieser  Kontakt  zwischen  ihm  und  der  Versuchs- 
person nicht  erforderlich  sei,  sondern  daß  eine  Konzentrierung  seines 
Willens  genüge,  um  sein  magnetisches  Fluidum  auf  den  anderen 
überströmen  und  wirken  zu  lassen. 

Zwar  bedeuteten  diese  Dinge  in  ihrem  Ausgangspunkte  nichts 
Neues:  hatten  doch  schon  Paracklsus  und  seine  Anhänger  wie 
auch  andere  Aerzte  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  beiläufig  einer  thera- 
peutischen Verwendung  des  Magneten  das  Wort  geredet.  Das  Neue 
bei  Mesmer  lag  nur  in  der  folgerichtigen  Weiterführung  der  ur- 
sprünglichen Idee,   ihrer   scheinbar  klaren  theoretischen  Fundierung 


Abb.  186.    Anton  Mesmer. 


366     System  Mesmers  u.  seine  Nachfolger,  Naturphilosophie  Schellings 

und  ihrer  Verknüpfung  mit  den  uralten  Versuchen,  durch  Handauf- 
legen und  ähnliche  Maßnahmen  einen  psychischen  Einfluß  auf  den 
Kranken  auszuüben. 

Mesmers  Ideen  erregten  ungeheures  Aufsehen,  und  es  ent- 
brannte ein  heftiger  Streit  zwischen  denen,  die  sich  dadurch  über- 
zeugen ließen,  und  solchen,  die,  von  nüchternem  Naturforschergeiste 
beseelt,  sie  von  Grund  aus  ablehnten.  In  Paris,  wohin  er  1777  über- 
siedelte, prüfte  eine  eigens  dazu  eingesetzte  Kommission  seine  Ver- 
suche nach  und  erklärte  sie  aller  Realität  bar  und  für  das  Werk 
einer  aufgeregten  Einbildungskraft,  wenn  nicht  gar  absichtlichen  Be- 
trugs. Trotzdem  fanden  sich  auch  in  Frankreich  Leute,  die  seiner 
Lehre  nicht  nur  folgten,  sondern  sie  sogar  weiterzubilden  unter- 
nahmen. So  suchte  der  Marquis  PuYSEGUR  durch  allerlei  Maß- 
nahmen den  Kranken  in  einen  ungewöhnlichen  Sinneszustand  zu 
versetzen,  den  man  als  „clairvoyance"  bezeichnete  oder  auch  als 
„Somnambulismus".  In  diesem  sollte  dann  zwischen  dem  Magnetiseur 
und  der  Versuchsperson  ein  „Rapport"  entstehen,  durch  den  eine  Be- 
einflussung dieser  durch  jenen  in  ausgiebigster  Weise  ermöglicht 
werde,  so  daß  Krankheiten  verschiedenster  Art  durch  bloße  Willens- 
beeinflussung geheilt  werden  könnten. 

In  Deutschland,  wo  der  Mesmerismus  durch  La  VATER  1787 
eingeführt  wurde,  trafen  diese  Lehren  auf  eine  bereits  in  manchen 
Kreisen  vorhandene  ausgesprochene  mystische  Neigung  und  ver- 
setzten sie  in  eine  magische  Atmosphäre,  die  selbst  bei  an  sich 
kritischen  Denkern  und  hervorragenden  Geistern  eine  vollkommene 
Verwirrung  erzeugte.  Die  Bremer  Aerzte  Olbers,  Bicker  und 
Wienhold  und  nach  ihnen  viele  andere  gerieten  vollkommen  in 
die  Bande  dieser  in  eine  längst  überwundene  Epoche  der  Medizin 
zurückweisenden  Lehren.  So  entstanden  in  den  verschiedenen  Köpfen 
die  mannigfachsten  Theorien:  Johann  Nepomuck  von  Ringseis 
(1785 — 1880)  leitete  die  Krankheit  von  der  Sünde  her,  James  Braid 
(1795 — 1860)  führte  den  Hypnotismus  in  die  Medizin  ein,  Carl  VON 
Reichenbach  begründete  die  Od  lehre  usw.  Aber  selbst  solche 
Aerzte,  die  allem  Mystischen  durchaus  abhold  waren,  und,  ohne  sich 
durch  Mesmer  beeinflussen  zu  lassen,  nur  eine  nüchterne  Erklärung 
für  seine  in  vielen  Fällen  unleugbaren  Erfolge  zu  finden  suchten, 
fielen  statt  dessen  dem  Mysticismus  der  philosophischen  Spekulation 
in  die  Arme.  So  vor  allem  der  Jenenser  Naturforscher  Dietrich 
Georg  Kieser  (1779— 1862). 


Die   auf  deutschem  Boden   erwachsene  Naturphilosophie   wurde 
die  Grundlage,   auf   der  Aerzte   wie   KiESER,    Gmelin,    Kessler, 


und  ihr  Einfluß  auf  die  ^Medizin.     Die  naturhistorische  Schule.      367 

Treviranus  u.  a.  von  neuem  eine  wissenschaftliche  Begründung  der 
Medizin  versuchten.  Insbesondere  wirkten  die  Lehren  Schellings 
(1775 — 1854),  wie  sie  vor  allem  in  seinem  1799  erschienenen  „Ent- 
wurf eines  Systems  der  Naturphilosophie"  zum  Ausdruck  kamen,  mit 
einer  geradezu  unwiderstehlichen  Anziehungskraft  besonders  auf  alle 
die  Aerzte,  die,  unbefriedigt  durch  die  rein  naturwissenschaftlichen 
Erklärungsversuche,  die  auf  diesem  Wege  gewonnenen,  eines  inneren 
Zusammenhangs  entbehrenden  Tatsachen  durch  eine  philosophische 
Betrachtung  zu  vertiefen  hofften.  Hierzu  boten  ihnen  Gedanken- 
gänge der  ScHELLiNGschen  Naturphilosophie  scheinbar  gute  Hand- 
haben: die  Materie  im  gewöhnlichen  Sinne  war  danach  nicht  das 
Ursprüngliche,  sondern  erst  das  Resultat  der  Einbildung  des  Wesens 
in  bestimmte  Form.  Auch  dann  ist  die  Materie  mit  ihrer  Schwere 
nicht  der  allein  zureichende  Grund  der  Weiteren,  sondern  ihr  gehen 
Erscheinungen  wie  Licht,  Bewegung  oder  dynamische  Vorgänge 
parallel.  Grundprinzipien  der  Natur  im  allgemeinen  sind  Magnetis- 
mus, Elektrizität  und  Chemismus.  Ihnen  entsprechen  im  tierischen 
Organismus  die  drei  Dimensionen :  Sensibilität,  Irritabilität  und  Re- 
produktion. Hiervon  besitzt  das  Pflanzenreich  nur  die  dritte,  bei 
den  Würmern  aber  besteht  schon  ein  Zusammenarbeiten  von  Re- 
produktion und  Irritabilität,  die  Vögel  nähern  sich  bereits  der  Sensi- 
bilität, während  schließlich  die  Säugetiere  alle  drei  Dimensionen  auf- 
weisen. So  ist  im  menschlichen  Organismus  die  Sensibilität  an  die 
Nerventätigkeit  gebunden  mit  ihrem  Zentralsitz  im  Gehirn,  die  Irrita- 
bilität an  die  Muskeln  und  insbesondere  an  den  Herzmuskel,  die 
Reproduktionskraft  an  die  vegetativen  Vorgänge  in  der  Bauchhöhle. 

Diese  Anschauungen,  in  denen  eine  Vielheit  älterer  naturwissen- 
schaftlicher und  philosophischer  Gedanken  anklingt,  stehen  bei 
SCHELLING  in  einem  größeren  Zusammenhange  mit  seiner  Annahme 
inniger  Wechselbeziehungen  zwischen  Makrokosmus  und  Mikrokos- 
mus, einer  Art  Einheit  alles  Naturlebens,  die  in  der  Identität  der 
größten  und  der  kleinsten  Dinge  und  Vorgänge  ihren  Ausdruck  hat. 

Gerade  der  ungehemmte  Wagemut,  mit  dem  Schelling  es 
unternahm,  gleichsam  die  ganze  Welt  mit  allen  ihren  Erscheinungen 
unter  Verachtung  jeder  bloßen  Erfahrung  aprioristisch  aufzubauen, 
schlug  die  zahlreichen  Aerzte  in  seinen  Bann,  deren  Neigung  oder 
Anlage  auf  Spekulation  gerichtet  war.  Wenn  einer  seiner  Anhänger 
(Hermann  Hörn)  die  Blutkörperchen  des  Menschen  ihrer  Form 
und  ihren  Funktionen  nach  mit  der  Erde  verglich,  und  zu  dem 
Schluß  kam,  daß  alle  Eigenschaften,  die  der  Blutzelle  zukämen,  auch 
der  Erde  beizulegen  wären,  wenn  ein  ander  (Sal.  Steinheim)  von 
der  Cholera  behauptete,  sie  sei,  „was  ihre  negative  Sphäre  anlanget, 
von    einer  outrierten   Dekombustion   der   organischen    Ursäfte,    von 


368     System  Mesmers  u.  seine  Nachfolger,  Naturphilosophie  Schellings 

einer  vollendeten  Melanhämie  mit  allen  ihren  begleitenden,  aus  dieser 
einzigen  Quelle  entspringenden  pathologischen  Affekten",  —  so 
springt  die  Verwirrung,  die  durch  die  Naturphilosophie  in  den  Köpfen 
vieler  Aerzte  angerichtet  wurde,  ohne  weiteres  in  die  Augen,  und 
man  begreift  es  nicht  leicht,  daß  Leute  wie  Lorenz  Oken  {1779 
bis  18,51),  der  Begründer  der  Naturforscherversammlungen  und  Her- 
ausgeber der  angesehenen  Zeitschrift  „Isis",  ferner  wie  Friedrich 
Kielmeyer  (1765  — 1844),  Ignaz  Döllinger  (1770— 1841)  u.a.m. 
sich  von  einer  so  weit  ab  von  allem  nüchternen  Denken  führenden 
Philosophie  gefangen  nehmen  ließen.  Man  versteht  dies  nur,  wenn 
man  dagegen  hält,  daß  auf  der  anderen  Seite  gerade  die  Auffassung 
der  Natur  als  eines  geschlossenen  Ganzen  im  Gegensatz  zu  der  vor 
allem  Einzelresultate  anstrebenden  naturwissenschaftlichen  Forschung 
einen  der  größten  und  fruchtbringendsten  Gedanken  erzeugt  hat: 
den  einer  allmählichen  Entwicklung  alles  organischen  Lebens.  Einen 
Gedanken,  der  später  in  dem  sogenannten  biogenetischen  Grund- 
gesetz eine  klare  Fassung  erhielt.  Wie  man  denn  überhaupt  zugeben 
muß,  daß  manche  Gebiete  der  Medizin,  vor  allem  die  vergleichende 
Anatomie,  die  Physiologie  und  Embryologie,  dem  philosophischen  Ein- 
schlag der  Forscher  dieser  Zeit  manche  Anregung  und  Bereicherung 
zu  verdanken  hatten. 

Trotzdem  war  im  großen  und  ganzen  der  Einfluß  der  Philosophie 
auf  die  Heilkunde  ein  schädlicher,  wie  er  es  stets  ist,  wenn  er  zu 
tief  eindringt  und  neben  den  Forschern  auch  die  im  praktischen  Be- 
rufe stehenden  Aerzte  mitergreift.  Das  gesamte  medizinische  Denken 
artete  in  ein  Spielen  mit  Ideen  und  ein  Sichberauschen  an  hoch- 
tönenden, aber  inhaltsleeren  Phrasen  aus,  die  den  Arzt  nicht  nur  im 
Studierzimmer  gefangen  nahmen,  sondern  bis  ans  Krankenbett  ver- 
folgten. Besonders  verderblich  zeigten  sich  diese  Erscheinungen  in 
der  Krankheitslehre.  Wie  man  alle  Erscheinungen  im  normalen 
Organismus  mit  einer  Ausspinnung  des  Gedankens  von  der  Bedeu- 
tung der  drei  Dimensionen  (s.  oben  S.  367)  erklären  zu  können  glaubte, 
so  vermeinte  man  auch  das  Wesen  der  Krankheit  erfaßt  zu  haben, 
wenn  man  sie  auf  das  „Vorwalten  eines  Pols"  zurückführte,  wenn 
man  von  Polaritätswirkung  der  einzelnen  Körperteile  und  Organe 
untereinander,  von  polaren  Beziehungen  zwischen  Materie  und  Er- 
regbarkeit, zwischen  Ausdehnung  und  Zusammenziehung,  Sensibilität 
und  Irritabilität  redete.  Natürlich  färbten  solche  Ideen  sehr  stark 
auf  die  Therapie  ab:  man  nahm  an,  daß  das  gleiche  Verhältnis  wie 
zwischen  Organismus  und  Außenwelt  auch  zwischen  Krankheiten 
und  Arzneien  bestände.  Jede  Arznei  wirke  fördernd  und  verbessernd 
auf  das  ihr  Analoge  im  Körper,  auf  alles  andere  wirke  sie  feindlich. 
Die  Hauptaufgaben  des  Arztes  wurden  demnach  in  einer  Einwirkung 


und  ihr  Einfluß  auf  die  Medizin.     Die  naturhistorische  Schule.      369 

auf  die  jeweilige  Polarität  des  Kranken  gesucht.  Derartige  Gedanken- 
gänge, die  in  den  einzelnen  Köpfen  die  verschiedenartigsten  Formen 
annahmen,  beherrschten  für  eine  ^^^eile  mit  einer  nur  dem  Ueber- 
sinnlichen  innewohnenden  Kraft  die  Mehrheit  der  Aerzte  Deutsch- 
lands. Und  ebenso  wie  Schelling  selbst,  anfangs  immer  noch  durch 
mannigfache  Fäden  mit  dem  Realen  verbunden,  schließlich  doch  voll- 
kommen im  Mystischen  aufging,  so  verfielen  auch  zahlreiche  Medi- 
ziner einer  Entwicklung,  die  sie  über  Mystik,  Symbolismus  und 
Magie  zu  einer  pietistischen  Theurgie  führte,  deren  Endglieder  die 
Krankheiten  von  dem  Wirken  von  Geistern  oder  von  der  Sünde 
ableiteten. 


Hatte  der  unmittelbare  Einfluß  der  Naturphilosophie  auf  die 
Medizin  sich  auf  der  einen  Seite  in  der  Polaritätentheorie  geäußert, 
so  erzeugte  auf  der  anderen  der  von  ihr  ausgehende  Entwicklungs- 
gedanke eine  Lehre,  die  geradezu  wie  ein  Rückfall  in  ältere  Zeiten 
anmutete,  indem  sie  vor  allem  gewisse  Ideen  des  Paracelsus  wieder 
aufnahm,  dabei  aber  doch  in  ihrer  Grundidee  den  Keim  einer  ganz 
modernen  Anschauung  trug.  Den  Ausgangspunkt  bildete  die  An- 
nahme, daß  jede  Form  von  Krankheiten  eine  gewisse  Aehnlichkeit 
mit  niederen  Lebensformen  besitze.  Von  hier  war  es  nur  ein  Schritt 
zu  der  Verallgemeinerung,  daß  Krankheitserscheinungen  dadurch 
entständen,  daß  dieser  oder  jener  Teil  des  Körpers  auf  einer  niederen 
Stufe  der  Entwicklung  stehen  bliebe,  oder  aber,  wenn  die  normale 
Höhe  bereits  erreicht  sei,  von  ihr  wieder  herabsänke.  Dadurch,  daß 
man  bei  dieser  Theorie  vorwiegend  die  Krankheiten  im  Auge  hatte, 
die  man  auf  ein  „Kontagium",  d.  h.  einen  übertragbaren  Giftstoff 
oder  auf  Parasiten  zurückführte,  daß  man  unter  völligem  Beiseite- 
lassen der  festliegenden  naturwissenschaftlichen  Tatsachen  wieder 
die  Bildung  niederer  Lebewesen  aus  toter  Substanz  innerhalb  des 
Körpers  für  möglich  hielt  und  diese  parasitären  Lebewesen  nicht  als 
die  Ursache  des  Krankseins,  sondern  als  die  Krankheit  selbst  auf- 
faßte —  durch  diese  ganze  Kette  von  Irrtümern  gelangte  man  zu  einer 
rein  ontologischen  Begreifung  der  Krankheit:  man  nahm  an,  daß 
diese  eine  Art  selbständiges  Wesen  sei,  das  ein  Leben  niederer  Form 
für  sich  führte,  und  gegenüber  dem  Körper  als  Parasit  wirkte,  daß 
der  kranke  Körperteil  eine  Art  von  „Afterorganisation"  sei,  die  nach 
besonderen  Gesetzen  im  Organismus  eine  Existenz  führte. 

Diese  Ideen  verleiteten  dann  weiter  dazu,  für  die  als  selbständige 
Wesen  aufgefaßten  Krankheiten  in  ähnlicher  Weise  eine  Klassi- 
fikation zu  suchen,  wie  für  andere  naturwissenschaftliche  Objekte. 
Und  so  wurde  der  Jenenser  Professor   K.  W.  Starck  (1787 — 1845) 

Meyer-Steincf^  u.  Sudhoff,  Illustr.  Geschichte  der  Medizin.  24 


370     System  Mesmers  u.  seine  Nachfolger,  Naturphilosophie  Schellings 


der  Begründer  einer  Schule,  der  er  den  Namen  „naturhistorische 
beilegte.  Bis  zu  welchen  Folgerungen  Starck  in  seiner  Para- 
sitenlehre ging,  erhellt  am  besten  daraus,  daß  nach  ihm  die 
Krankheiten  bis  zu  solchem  Grade  Individuen  darstellten,  daß  sie 
sogar  für  sich  selbst  wieder  erkranken  können,  z.  B.  wenn  zu  einem 
Tuberkel  Geschwürsbildung,  zu  einer  Allgemeinerkrankung  eine 
Blutung  hinzukomme.  Das  eigentliche  Haupt  der  naturhistorischen 
Schule  ist  Lucas  Johann  Schönlein  (1793 — 1865).  Er  läßt  in 
seinen  Anschauungen  am  deutlichsten  deren  Gang  erfolgen.  Aus- 
gehend von  der  parasitären  Theorie  gelangte  er  von  ihr  zunächst 
zu  einer  nosologischen  Klassifizierung  und  schließlich  zu  einer  stark 
klinisch   gefärbten    diagnostisch-naturwissenschaftlichen  Betrachtung, 

mit  der  er  dann, 
genau  genommen, 
wieder  aus  dem 
eigentlichen  Rah- 
men der  Schule  her- 
austrat. Zu  einer  der- 
artigen Entwicklung 
befähigte  ihn  eine 
seltene  geistige  An- 
lage, in  der  eine  ge- 
wisse Neigung  zur 
Spekulation  und 

Schematisierung  in 
glücklicher  Weise 
mit  einer  Begabung 
für  das  Praktische, 
für  Diagnose  und 
Therapie  und  mit 
einem  glänzenden 
Lehrtalent  vereinigt  war.  Sein  literarischer  Einfluß  beruhte  haupt- 
sächlich auf  seiner  Krankheitslehre.  Er  war  der  Meinung,  daß 
zwischen  dem  Organismus  des  einzelnen  und  der  allgemeinen  Natur 
ein  fortwährender  Kampf  bestehe.  Wenn  in  diesem  die  beiden  Teile 
sich  gegenseitig  die  Wage  halten,  oder  gar  der  erstere  das  Ueber- 
gewicht  hat,  so  besteht  Gesundheit,  im  umgekehrten  Falle  Krank- 
heit. Ohne  rechte  innerliche  Verbindung  mit  dieser  Anschauung 
erscheinen  Schönleest  die  Krankheiten  im  übrigen  als  eine  Art 
parasitärer  Lebewesen,  die  zum  Teil  —  wie  bei  den  kontagiösen 
Leiden  —  durch  einen  der  geschlechtlichen  Zeugung  zu  ver- 
gleichenden Vorgang,  zum  anderen  Teil  ähnlich  der  spontanen 
Entstehung  von  Infusorien   sich  entwickelten.     Die  mit  den  Krank- 


Abb.  187.     Lucas  Joh.  Schönlein. 


und  ihr  Einfluß  auf  die  Medizin.     Die  natVMrhistorische  Schule.      371 

heiten  verbundenen  funktionellen  Störungen  wurden  von  ihm  auf 
der  einen  Seite  als  Beeinträchtigung  des  Mutterorganismus  durch 
den  Krankheitsparasiten,  zumeist  aber  als  eine  Reaktion  des  ersteren 
gegen  den  letzteren  betrachtet.  Die  wichtigste  Reaktion  sei  das 
Fieber. 

Das  nosologische  System  Schönleins  teilt  die  Krankheiten  in: 
Morphen,  d.  h.  Abweichungen  in  der  ursprüngHchen  Anlage  und 
Ernährung  sow^ie  Verlagerungen  und  Verletzungen,  ferner  Häma- 
tosen,  d.  h.  Krankheiten  des  Blutes  und  deren  Folgen  wie  Blut- 
flüsse, Entzündungen,  Katarrhe,  Krebs,  Tuberkeln  usw.;  schließlich 
Neurosen,  darunter  vor  allem  die  Intermittens,  Als  eine  Gruppe 
für  sich  dann  schließlich  noch  die  Syphiliden.  Es  ist  dies  also  ein 
reichlich  willkürliches  System;  und  SCHÖNLEIN  selbst  scheint  auf 
seine  Durchführung  nicht  aUzu  großen  Wert  gelegt  zu  haben. 
Namentlich  in  den  letzten  Jahrzehnten  begab  er  sich  in  immer  zu- 
nehmendem Umfange  auf  das  Gebiet  pathologiseh-anatomischer 
Forschung  und  sorgfältiger  klinischer  Betrachtung  und  benutzte  so- 
wohl bei  der  letzteren  als  auch  bei  der  Diagnostik  alle  Hilfsmittel, 
die  ihm  die  Physik  und  Chemie  an  die  Hand  gaben.  Während  die 
Mehrzahl  seiner  Schüler  und  Anhänger  auf  dem  Wege  einer  prak- 
tischen Weiterbildung  der  kUnischen  Medizin  und  ihrer  Hilfsfächer 
folgten  und  damit  sich  von  der  naturhistorischen  Schule  abwandten, 
suchten  doch  auch  mehrere,  wie  Carl  Cannstatt,  Rich.  Hoff- 
mann u.  a.  seine  theoretischen  Lehren  fortzubilden,  ohne  indessen 
einen  nachhaltigen  Einfluß  auf  die  übrige  Aerzteschaft  gewinnen  zu 
können. 


Die  Homöopathie,  Rademachers  Erfahrungsheil- 
lehre.    Die  Kuhpockenimpfung. 

Eine  weit  stärkere  Wirkung  war  einer  Lehre  beschieden,  deren 
Keime  ebenso  wie  die  der  Parasitentheorie  schon  bei  Paracelsus 
sichtbar  sind,  einer  Lehre,  die  aus  dem  Zuspruch,  den  sie  unter  den 
Aerzten  fand,  besonders  deutlich  den  schwankenden  Grund  erkennen 
läßt,  auf  dem  die  Medizin  um  die  Wende  des  18.  zum  19.  Jahr- 
hunderts noch  immer  nach  einem  endlichen  Ruhepunkte  tastete:  der 
Homöopathie.  Der  Arzt  suchte  in  seinem  praktischen  Berufe  vor 
allem  eine  zuverlässige  und  stetige  Unterlage  für  seine  Kranken- 
behandlung. An  einer  solchen  aber  fehlte  es  vollkommen :  die  zahl- 
reichen medizinischen  Systeme,  von  denen  ein  jedes  auf  einem  anderen 
Gedankengange  aufgebaut  war,  bedingten  einen  fortwährenden 
Wechsel  der  Therapie.     Da  aber  durchaus  nicht  ein  jeder  Arzt  einer 

24* 


37  2     Homöopathie,  Rademachers  Erfahrungsheillehre.    Kuhpockenimpfung. 


bestimmten  Schule  angehörte,  die  Mehrzahl  vielmehr  spätestens  in 
der  Praxis  zu  einem  mehr  oder  minder  kritischen  Eklektizismus  ge- 
langt war,  bestand  eine  Buntheit  und  Unsicherheit  in  der  Kranken- 
behandlung, wie  wohl  nur  in  der  Zeit  der  ärztlichen  Sektenkämpfe 
der  alexandrinisch-römischen  Zeit.  Aehnlich  wie  damals,  war  denn 
auch  eine  Polypragmasie  eingerissen,  die  sich  in  der  Verordnung 
zahlreicher  (meist  mehrere  an  einem  Tage)  und  oft  ellenlanger  Re- 
zepte u.  ä.  äußerte.  Nur  wenn  man  diese  Tatsachen  in  Betracht 
zieht,  versteht  man  den  außerordentlichen  Erfolg,  den  die  Homöo- 
pathie zu  verzeichnen  hatte,  obgleich  doch  auch  sie  nichts  anderes 
als  ein  auf  Theorie  aufgebautes  therapeutisches  System  \var. 

Ihr  Begründer   ist  Samuel  Hahnemann,  der,    1755  zu  Meißen 
geboren,  zunächst  nach  Erledigung  seines  Studiums  der  Reihe  nach 

an  verschiedenen 

Orten  seiner  Heimat 
ohne  rechten  Erfolg 
zu  praktizieren  ver- 
suchte, zum  Teil  wohl 
infolge  einer  Art  inne- 
rer Zerrissenheit,  die 
ihn  unfähig  machte, 
das  Gelernte  praktisch 
zu  verwenden.  Er 
wandte  sich  dann  wis- 
senschaftlichen Arbei- 
ten, namentlich  auf 
dem  Gebiete  der  Che- 
mie, zu  und  betrieb 
allerhand  pharmazeu- 
tisch-chemische Stu- 
dien. Bei  der  Lektüre 
CuLLENs  stieß  er  auf 
eine  Bemerkung  dieses  Forschers,  daß  die  Chinarinde  im  gesunden 
Körper  Erscheinungen  hervorbringe,  die  denen  der  Malaria  sehr  ähn- 
lich sähen ;  eine  Behauptung,  die  er  dann  durch  Versuche  an  sich  selbst 
unzweifelhaft  bestätigt  zu  sehen  glaubte.  Das  veranlaßte  ihn,  mit 
anderen  Mitteln  ähnliche  Versuche  anzustellen,  die  er  zunächst  in 
den  gebräuchlichen  Dosen  verwandte.  Allmählich  aber  gelangte  er 
zu  der  Ueberzeugung,  daß  diese  zunächst  immer  eine  Verschlimme- 
rung des  krankhaften  Zustandes  hervorriefen,  bevor  sie  ihre  eigent- 
lichen Heilwirkungen  entfalteten.  Dadurch  kam  er  darauf,  die  Dosen 
immer  mehr  zu  verkleinern.  In  diesem  Entwicklungsgange  sind  die 
Hauptideen   seiner  Tehre   begründet,   die  er  zum  ersten  Male   (nach 


Abb.   188.     Sam.  Hahnemann. 


Homöopathie,  Rademachers  Erfahrungsheillehre.  Kuhpockenimpfung.     373 

einer  bereits  1797  in  der  HuFELAXDschen  Zeitschrift  und  einer 
selbständigen  1805  erfolgten  Veröffentlichung)  in  seinem  18 10  er- 
schienenen „Organen  der  rationellen  Heilkunde'  bekannt  gab.  Durch 
dieses  Werk,  in  dem  er  auf  das  entschiedenste  seine  bis  dahin  ent- 
weder unbeachteten  oder  mit  Widerspruch  aufgenommenen  Lehren 
vertrat,  rief  er  eine  äußerst  heftige  Polemik  für  und  wider  sich  her- 
vor. Er  übte  dann  in  den  folgenden  Jahren  in  Leipzig  seine  Praxis 
unter  ständig  zunehmendem  Andrang  von  Kranken  und  Aerzten  aus, 
während  er  gleichzeitig  (von  181 1 — 1820)  seine  „Reine  Arzneimittel- 
lehre in  sechs  Teilen"  herausgab.  1821  sah  er  sich  veranlaßt,  nach 
Cöthen  überzusiedeln,  wo  er  an  seinem  zweiten  Hauptwerk,  dem 
1828  erschienenen  Buche  „Die  chronischen  Krankheiten,  ihre  eigen- 
tümliche Natur  und  homöopathische  Heilung"  arbeitete,  1834  ging 
er  dann  mit  seiner  zweiten  Frau,  einer  französischen  Marquise,  nach 
Paris  und  starb  dort  im  Jahre   1843. 

Die  Grundgedanken  seiner  Lehre  sind  nun  folgende:  der  Haupt- 
fehler der  ganzen  Medizin  bestehe  darin,  daß  durch  alle  ihre  bis- 
herigen Verfahren,  die  ja,  indem  sie  die  Krankheiten  zu  bekämpfen 
suchten,  entweder  antipathisch,  d.  h.  nach  dem  Grundsatze  „contraria 
contrariis"  oder  allöopathisch  verführen,  in  jedem  Falle  zu  der  be- 
stehenden Krankheit  eine  anders  geartete  neue  gesetzt  werde.  Die 
Krankheit  sei  in  Wirklichkeit  eine  Art  Verstümmelung  der  Lebens- 
kraft. Wie  diese  aber  zustande  komme,  und  worin  sie  bestehe,  sei 
für  den  Arzt  gleichgültig,  da  er  doch  die  letzten  Ursachen  nicht  er- 
forschen könne.  Seine  eigentliche  Aufgabe  sei  vielmehr  das  Heilen. 
Hierzu  sei  aber  nur  eine  Kenntnis  der  Krankheitssymptome  not- 
wendig; also  anatomisch-physiologische  Kenntnisse  soweit  entbehr- 
lich, als  sie  nicht  zur  Feststellung  der  Symptome  unbedingt  er- 
forderlich seien. 

Der  Grund,  auf  dem  sich  die  wahre,  homöopathische  Heilkunde 
aufbauen  sollte,  waren  also  Experimente  mit  Arzeneien  an  Ge- 
sunden. Diese  sollten  den  Zweck  hab^n.  die  Erscheinungen  fest- 
zustellen, die  durch  die  verschiedenen  Mittel  im  gesunden  Organis- 
mus hervorgerufen  würden  und  auf  diese  Weise  möglichst  viele 
solche  Symptomenkomplexe  zu  erzeugen,  die  die  meiste  Aehnlich- 
keit  mit  wirklichen  Krankheitsbildern  hätten. 

Einen  derartigen  Symptomenkomplex  im  einzelnen  Krankheits- 
falle zu  schaffen,  sei  die  eigentliche  und  einzige  Aufgabe  des 
Arztes.  Man  habe  also  bei  jedem  Kranken  die  Mittel  anzuwenden, 
welche  möglichst  ähnliche  Symptome  am  Gesunden  hervorriefen, 
wie  sie  die  betreffende  Krankheit,  gegen  die  man  sie  anwenden 
wolle,  darbiete.  Er  faßte  dieses  Prinzip  in  die  Worte:  similia  simi- 
libus   curantur",   nach   denen   dann   für   die   ganze  Heilmethode   aus 


374     Homöopathie,  Rademachers  Erfahrungsheillehre.   Kuhpockenimpfung. 

dem  Griechischen  das  Wort  „Homöopathie"  von  ihm  gebildet 
wurde. 

Die  Anschauung,  daß  die  erforderliche  Umstimmung  der  Lebens- 
kraft nur  durch  kleine  Dosen  der  Arzneimittel  bewirkt  werden 
könne,  während  größere  Dosen  geradezu  schädigend  auf  sie  ein- 
zuwirken pflegten,  daß  überhaupt  nicht  die  grobe  Materie  der 
Arznei  an  sich,  sondern  nur  durch  die  auch  in  den  kleinsten  Mengen 
enthaltene  „Dynamis"  (eine  Art  geistigen  Prinzips)  die  Heilwirkung 
erzeuge  —  diese  Anschauung  veranlaßte  ihn,  in  einer  ganz  be- 
stimmten Weise  die  Heilmittel  zu  verdünnen,  oder  sie,  wie  er  es 
ausdrückte,  zu  „potenzieren".  Dies  geschah,  indem  zunächst  beispiels- 
weise bei  flüssigen  Darreichungen  eine  Urtinktur,  d.  h.  ein  kräftiger 
spirituöser  Auszug  der  Drogue  hergestellt  wurde.  Hiervon  wurden 
2  Tropfen  mit  98  Tropfen  Spiritus  verdünnt  und  kräftig  geschüttelt, 
hiervon  wieder  i  Tropfen  entnommen  und  mit  99  Tropfen  Spiritus 
gemischt,  und  dieser  Vorgang  bis  zu  3omal  wiederholt.  Bei  festen 
Substanzen  trat  an  die  Stelle  des  Spiritus  der  Milchzucker.  Um 
nun  bei  dieser  Sublimität  den  homöopathischen  Gaben  ihre  Wirkung 
möglichst  frei  von  allen  Störungen  von  selten  des  Körpers  zu 
halten,  schrieb  Hahnemann  eine  äußerst  strenge  Diät  und  nament- 
lich völlige  Enthaltsamkeit  gegenüber  allen  irgendwie  differenten 
Einflüssen  vor. 

Hiermit  erschöpfen  sich  keineswegs  die  von  Hahnemann  in 
die  Medizin  hineingetragenen  neuen  oder  doch  von  neuem  auf- 
genommenen Gedanken.  Eine  wichtige  Rolle  spielte  vielmehr  die 
Annahme,  daß  die  mannigfachen  Krankheiten  bei  den  verschiedenen 
Individuen,  sei  es  auf  Grund  einer  besonderen  Konstitution  oder  in- 
folge von  vorhandenen  Grundübeln  sich  in  verschiedener  Art  modi- 
fizieren. Dieser  an  sich  ganz  rationelle  Gedanke  wuchs  sich  aber 
bei  Hahnemann  zu  einem  ausgesprochenen  Dogma  aus,  daß 
nämlich  z.  B.  allen  chronischen  Krankheiten  und  einem  erheblichen 
Teil  der  akuten  die  Prozesse  der  drei  sogenannten  miasmatischen 
Urübel   zugrunde  liegen:   der  Syphilis,   der  Sykosis  oder  der  Psora. 

In  den  therapeutischen  Folgerungen,  die  er  aus  dieser  Annahme 
zog,  liegt  die  größte  Inkonsequenz,  die  er  selbst  seinem  System 
antut;  denn  da  nach  seiner  Meinung  diesen  Grundübeln  besondere 
Arzneien  entsprechen  sollten,  für  deren  Anwendung  nicht  der 
Komplex  der  den  Arzneisymptomen  entsprechenden  Krankheits- 
erscheinungen maßgebend  war,  so  war  das  wichtigste  Ausgangs- 
prinzip durchbrochen. 

Alles  in  allem  genommen  aber  haben  die  Lehren  Hahnemanns 
im  Rahmen  seiner  Zeit  betrachtet,  ganz  zweifellos  mancherlei  Vor- 
züge  gegenüber  denen   anderer:    die  stärkere  Betonung  des  Indi- 


Homöopathie,  Rademachers  Erfahrungsheillehre.   Kuhpockenimpfung.     375 

vidualisierens  in  der  Krankenbehandlung,  die  Zurückweisung  der 
auf  fortwährend  wechselnden,  unsicheren,  pathologischen  Theorien 
begründeten  Heilmethoden,  die  Betonung  der  Wichtigkeit  von  phar- 
makologischen Untersuchungen  am  Gesunden  sind  immerhin  be- 
achtenswert. Und  die  Vorwürfe,  die  man  gegen  den  wissenschaft- 
lichen Wert  und  Charakter  der  Homöopathie  mit  Recht  erheben 
kann,  treffen  die  ganze  übrige  zeitgenössische  ^ledizin  in  demselben 
^laße.  Keinesfalls  darf  man  auch  den  weiteren  Entwicklungsgang, 
den  die  homöopathische  Lehre  genommen  hat,  ihrem  Begründer  zur 
Last  legen.  Er  teilte  in  dieser  Hinsicht  durchaus  das  Schicksal 
anderer  Reformatoren:  seine  Ideen  wurden  vielfach  mißverstanden, 
vielfach  einseitig  übertrieben.  Vor  allem  kann  man  es  nicht  Hähxe- 
MANN  als  Schuld  anrechnen,  wenn  seine  Lehren  in  höherem  Maße, 
als  dies  bei  den  meisten  anderen  der  Fall  war,  von  unlauteren  Ele- 
menten als  Aushängeschild  für  allerlei  pseudoärztliche  Machenschaften 
benutzt  wurden. 

Die  stärkste  und  einseitigste  Uebertreibung,  die  aus  der  Ho- 
möopathie unmittelbar  erwuchs,  war  die  sogenannte  „Isopathie". 
Dies  war  die  vor  allem  von  Lux  und  G.  Fr.  Müller  vertretene 
Lehre,  daß  nicht  „Aehnliches  durch  Aehnliches"  zu  bekämpfen 
sei,  sondern  „Gleiches  durch  Gleiches"  (aequalia  aequalibus).  So 
wurde  allen  Ernstes  gegen  Krätze  innerlich  Krätzestoff,  gegen  Band- 
würmer aus  den  gleichen  Parasiten  gewonnene  Substanz,  gegen 
Phthisis  der  Auswurf  Phthisischer  innerlich  dargereicht  usw.  —  wobei 
im  übrigen  daran  erinnert  werden  darf,  daß  auch  in  diesem  Ge- 
danken ein  richtiger  Keim  enthalten  ist. 


Unter  ähnHchen  psychologischen  Bedingungen  wie  die  Homöo- 
pathie entwickelte  sich  fast  gleichzeitig  eine  andere  Lehre,  deren 
Grundgedanken  ebenfalls  eine  energische  Abkehr  von  den  herrschen- 
den Meinungen  und  eine  Reaktion  gegen  die  stark  theoretichen 
Neigungen  der  zeitgenössischen  Medizin  bedeuten.  Im  Jahre  1843 
erschien  ein  umfangreiches  Buch,  daß  schon  durch  seine  ganze  Form 
sich  von  der  übrigen  Literatur  abhob :  „Rechtfertigung  der  von  den 
Gelehrten  mißkannten  verstandesrechten  Erfahrungsheillehre 
der  alten  scheidekünstigen  Geheimärzte  und  treue  Mitteilung  des 
Ergebnisses  einer  fünfundzwanzigjährigen  Erprobung  dieser  Lehre 
am  Krankenbette".  Der  Verfasser  war  JoH.  Gottfried  Rade- 
macher (1772  — 1850),  ein  feingebildeter  Arzt,  der  zu  Loch  am  Rhein 
seinen  Beruf  ausübte.  Unverkennbar  tritt  auch  in  seinen  An- 
schauungen —  ähnlich  wie  bei  Hahnemann  —  der  noch  immer 
wirkende  Einfluß  paracelsistischer  Ideen   zutage.    Auch   er   verwirft 


3/6     Homöopathie,  Rademachers  Erfahrungsheillehre.  Kuhpockenimpfung. 

die  ganze  naturwissenschaftliche  Richtung  der  Medizin  und  will 
allein  den  Erfahrungsstandpunkt  gelten  lassen.  Nicht  einmal  eine 
Einsicht  in  die  krankhaften  Vorgänge  scheint  ihm  erforderlich, 
sondern  ganz  ausschließlich  eine  Betrachtung  der  Arzneiwirkung 
auf  den  einzelnen  Organismus.  Er  klassifiziert  demnach  auch  die 
Krankheiten  nicht  nach  ihren  primären  Erscheinungen,  sondern  nach 
den  Mitteln,  welche  sie  günstig  zu  beeinflussen  imstande  sind.  Da 
es  nun  nach  seinen  Erfahrungen  drei  Universalheilmittel  gab: 
den  Würfelsalpeter,  das  Kupfer  und  das  Eisen ,  gibt  es  dement- 
sprechend drei  Grundleiden  des  Gesamtkörpers,  die  er,  weil  sie  ihrem 
Wesen  nach  zwar  unbekannt,  aber  durch  jene  drei  Stoffe  heilbar 
wären,  als  Würfelsalpeterkrankheit,  als  Kupferkrankheit  und  als 
Eisenkrankheit  bezeichnete.  Diese  Allgemeinleiden  aber  ziehen  fast 
immer  ein  bestimmtes  Organ  in  Mitleidenschaft ;  und  so  gibt  es 
neben  ihnen  auch  Organkrankheiten,  die  aber  auch  wieder  erst  aus 
der  Wirksamkeit  bestimmter  Organheilmittel  festgestellt  und  nach 
ihnen  benannt  werden. 

Wie  wenig  es  aber  auch  Rademacher  gelang,  sich  von  der 
Neigung  zum  Theoretisieren  freizumachen,  die  er  bei  allen  anderen 
so  scharf  bemängelte,  das  geht  aus  seinen  Erörterungen  über  Kunst- 
und  Naturheilung  hervor,  bei  denen  er  g-anz  vergaß,  daß  es  sich  um 
Dinge  und  Fragen  handelte,  die  nach  seiner  eigenen  Meinung  gar 
nicht  lösbar  waren  und  jedenfalls  nicht  in  die  Medizin  hineingehörten. 

Trotz  dieser  und  mehrfacher  anderer  schwerer  Mängel  hat  sein 
Buch  und  damit  seine  Lehre  weite  Verbreitung,  ja  sogar  in  dem 
Tübinger  Georg  Rapp  eine  akademische  Vertretung  gefunden. 


Trotz  des  unruhigen  Auf-  und  Abwogens  der  medizinischen 
Theorien  gelangen  in  der  Praxis  mancherlei  Fortschritte  und  neue 
Entdeckungen.  Zu  diesen  Neuerungen,  die  ohne  eigentlichen  Zu- 
sammenhang mit  der  übrigen  Medizin  doch  von  großer  Bedeutung  und 
nachwirkendem  Einfluß  wurden,  gehört  vor  allem  die  Einführung 
der  Kuhpockenimpfung.  Der  Gedanke,  durch  künstliche  Er- 
zeugung der  natürlichen  Blattern  eine  Immunität  gegen  die  echte 
Pockenerkrankung  zu  erzeugen,  ist  sehr  alt.  Die  Chinesen  bewirkten 
die  „Impfung"  schon  lange  vor  Christi  Geburt,  indem  sie  den  Kindern 
mit  Pockeneiter  getränkte  Wattebäusche  in  die  Nase  steckten.  Die 
Inder  übten  ebenfalls  in  alter  Zeit  schon  eine  Methode  der  Impfung, 
indem  sie  die  Haut  des  Armes  ritzten  und  mit  Pockeneiter  be- 
feuchtete Bäusche  auflegten.  Auch  von  einigen  Naturvölkern  ist 
eine  Art  der  Pockenimpfung  bekannt.  Von  großer  Bedeutung  aber 
war  vor  allem  die  von  dem  griechischen  Arzte  Emanuele  TiMONi 


Homöopathie,  Rademachers  Erfahrungsheillehre.    Kuhpockenimpfung.     377 


Abb.  189.    Edward  Jenner. 


1713  bekannt  gegebene  Tatsache,  daß  bei  den  Georgiern  und  Zir- 
kassiern  durch  künstliches  Ritzen  der  Haut  mit  in  Pockeneiter  ge- 
tauchten Xadeln  eine  gelinde 
P'orm  der  Blattern  hervorgerufen 
werde,  die  vor  der  wirklichen 
Infektion  schütze.  Diese  Methode 
fand  dann  durch  die  Vermitte- 
lung  der  Frau  des  damaligen 
englischen  Gesandten  in  Kon- 
stantinopel Lady  Worthley-Mon- 
tague  Eingang  auch  in  Europa, 
doch  nicht  ohne  mannigfache 
Widerstände.  Diese  waren  darin 
begründet,  daß  schwere  Erkran- 
kungen, ja  Todesfälle  nicht  ganz 
selten  auftraten. 

So   bedeutete  die  Beobach- 
tung,  daß  das  Ueberstehen  der. 
harmlosen    Kuh  pocken     durch 
den  Menschen  diesen  vor  der  Er- 
krankung   mit    menschlichen   Blattern    schützte,    einen    ungeheuren 
Fortschritt.   Es  war  der  englische  Arzt  EDWARD  Jenner  (1749 — 1823) 
der  zum  ersten  Male  der  Tatsache,  daß  bei  Pockenepidemien  in  auf- 
fallender Weise   Kuhmägde 
verschont  blieben,  näher  auf 
den  Grund  ging  und  sie  ganz 
richtig  damit  in  Zusammen- 
hang brachte,  daß  jene  meist 
eine  Kuhpockenerkrankung 
durchgemacht  hatten.  Nach- 
dem   er    diesem    Gedanken 
20  Jahre  lang  nachgegangen 
war,   entschloß  er  sich  1796 
zu  dem  Versuch,   von  einer 
an    Kuhpocken    erkrankten 
Magd  entnommenen  Pocken- 
inhalt auf  einen  Knaben  zu 
übertragen,     und     nachdem 
dieser  die  Kuhpockenkrank- 
heit  überstanden  hatte,   ihn 
mit  echten  Menschenblattem 
zu  impfen.     Der  Knabe   er- 
krankte  nicht   an    den  letz-  Abb.  190.    Chr.  Wilh.  Hufeland. 


378     Chirurgie,  Augenheilkunde  und  Geburtshilfe  im   18.  Jahrhundert. 

teren,  und  der  Beweis  war  erbracht,  daß  in  der  Tat  das  Ueber- 
stehen  von  Kuhpocken  gegen  die  Erkrankung  an  echten  Blattern 
schütze.  1798  veröffentlichte  Jenner  dann  seine  Entdeckung,  stieß 
aber  damit,  wie  fast  alle  Entdecker  —  auf  Unverständnis  und 
Widerstand;  einen  Widerstand,  der  dann  ganz  allmählich  erst  — 
nicht  zum  wenigsten  durch  das  Verdienst  der  deutschen  Aerzte 
HUFELÄND  und  Stromeyer  gebrochen  wurde,  ohne  indessen  bis 
heute  gänzlich  zum  Stillschweigen  gebracht  worden  zu  sein. 


Chirurgie,  Augenheilkunde  und  Geburtshilfe  im 
18.  Jahrhundert. 

So  sehr  alle  diese  mannigfaltigen  Bewegungen  in  der  Medizin 
in  der  auf  Haller  folgenden  Zeit  die  Aerzteschaft  in  Mitleiden- 
schaft zogen,  so  blieben  doch  manche  Sondergebiete  in  ihrer  Ent- 
wicklung von  ihnen  ziemlich  unberührt.  Vor  allem  die  Chirurgie. 
Während  namentlich  in  Deutschland  ein  fortwährender  Wechsel  der 
Systeme  die  Heilkunde  nicht  zur  Ruhe  kommen  ließ,  nahm  die 
Chirurgie  auf  französischem  Boden  einen  langsamen,  aber  stetigen 
Aufstieg  und  erkämpfte  sich  allmählich  immer  mehr  die  volle  Gleich- 
berechtigung mit  der  inneren  Medizin,  die  zwar  theoretisch  schon 
anerkannt,  aber  noch  nicht  restlos  in  die  Praxis  umgesetzt  worden 
war.  Seinen  ganzen  Einfluß  und  einen  großen  Teil  seines  Vermögens 
setzte  für  diesen  Zweck  ein  Francois  Gigüt  de  LA  Peyronie 
(1678 — 1747),  der  als  Direktor  der  Akademie  für  Chirurgie  zu  Paris 
die  Einrichtung  einer  ganzen  Reihe  von  Lehrstühlen  und  eine  scharfe 
Trennung  der  Barbiere  von  den  eigentlichen  Chirurgen  durchsetzte. 
Seine  wissenschaftlichen  Leistungen  waren  nicht  so  bedeutend  wie 
die  seines  Zeitgenossen  und  Kollegen  Jean  Louis  Petit  (1674—1750), 
der,  ebenso  wie  ehemals  Pare,  aus  dem  Barbierstande  hervor- 
gegangen war,  es  bis  zum  Professor  der  Chirurgie  und  Direktor  an 
der  obengenannten  Akademie  gebracht  hatte.  Sein  Verdienst  war 
es  besonders,  daß  er  mehr  als  die  meisten  anderen  Chirurgen  seiner 
Zeit  auf  eine  sorgfältige  und  wahrhaft  wissenschaftlich-anatomische 
Vorbildung  Wert  legte.  Vortrefflich  sind  seine  Arbeiten  über  chi- 
rurgische Krankheiten  und  Operationen ;  erwähnenswert  sein  Schrauben- 
tourniquet,  die  von  ihm  angegebene  zweizeitige  Amputation  und  der 
Bruchschnitt  ohne  Eröffnung  des  Bruchsackes. 

Von  den  sehr  zahlreichen  anderen  französischen  Chirurgen  ragen 
ferner  über  das  Mittelmaß  hinaus  Raph.  Bienvenu  Sabatier 
{1732  — 1811),  der  sich  viel  mit  Anatomie  und  Augenheilkunde  be- 
schäftigte,   sowie    vor    allem    Pierre   Jos.    Desault    (1744 — 1795). 


Chinngie,  Augenheilkunde  und  Geburtshilfe  im   i8.  Jahrhundert.     37g 


Dieser  Mann,  der  zunächst  von  sdbaen  einfachen  Eltern  zum  Geist- 
lichen bestimmt  war,  dann  aber  unter  großen  Schwierigkeiten  seinen 
Weg  zum  Chirurgen  fand  und  schließlich  Chef-Chirurg  am  Hotel 
Dieu  zu  Paris  wurde,  war  der  erste,  der  eine  wirkliche  chirurgische 
Klinik  begründete  und  nach  Grundsätzen  einrichtete,  die  im  Rahmen 
der  damaligen  hygienischen  Anschauungen  als  recht  fortschritthch 
zu  bezeichnen  sind.  Durch  starke  Betonung  der  chirurgischen  Ana- 
tomie, Verbesserung  von  Operationsmethoden,  Gründung  einer  Fach- 
zeitschrift und  Ausbildung  zahlreicher  tüchtiger  Schüler  hat  er  sich 
ein  großes  Verdienst  um  sein 
Fach  erworben. 

Wenn  Deutschland  auch 
Frankreich  in  der  Entwick- 
lung der  Chirurgie  bedeutend 
nachstand,  so  hat  es  doch 
auch  nicht  nur  einige  be- 
deutende Vertreter,  sondern 
auch  einen  entschiedenen 
allgemeinen  Aufschwung 
dieses  Faches  gezeitigt  und 
so  eine  Bewegung  weiter- 
geführt, die,  wenn  auch  in 
bescheidenem  Umfange,  mit 
Wilhelm  Fabry  v.  Hilden 
begonnen  hatte.  Der  haupt- 
sächlichste Uebelstand,  unter 
dem  die  Chirurgie  —  insbe- 
sondere auch  in  Deutschland 
—  immer  noch  litt,  war  der, 
daß  die  Stellung  des  Chir- 
urgen gegenüber  der  des 
Medicus  eine  minder  geach- 
tete geblieben  war,  so  daß  wirkHch  wissenschaftlich  gebildete  Medi- 
ziner sich  nicht  leicht  zur  Ergreifung  dieses  Berufes  entschlossen.  Sich 
über  dieses  Vorurteil  hinweggesetzt  zu  haben,  ist  das  Verdienst  eines 
Mannes,  dessen  Namen  noch  heute  einen  guten  Klang  in  der  Chirurgie 
hat:  Lorenz  Heister.  1683  zu  Frankfurt  a.  M.  geboren,  studierte  er 
zunächst  in  Gießen  allgemeine  Medizin,  ging  dann  aber,  da  es  an  Ge- 
legenheit zu  wirklich  chirurgischer  Ausbildung  in  Deutschland  fehlte, 
nach  Leyden  und  Amsterdam.  Nachdem  er  längere  Zeit  in  holländischen 
Diensten  gestanden  hatte,  wurde  er  als  erster  an  eine  deutsche  Uni- 
versität nach  Altdorf  berufen,  wo  er  dann  eine  umfassende  praktische 
und   Lehrtätigkeit   entfaltete.     Er   starb    1758.    Sein   Hauptverdienst 


Abb.   191.     Lorenz  Heister. 


380     Chirurgie,  Augenheilkunde  und  Geburtshilfe  im   18.  Jahrhundert. 

ist  die  Verfassung  des  ersten  brauchbaren  Lehrbuches  der  Chirurgie, 
das  17 18  zu  Nürnberg  erschienen,  zwar  keine  hervorragende  wissen- 
schaftHche  Leistung  darstellte,  aber  doch  mit  seiner  guten  ana- 
tomischen Grundlage,  seiner  gründlichen  Bearbeitung  des  ganzen 
Gebietes  von  der  einfachen  Wundbehandlung  bis  zu  den  größten 
Operationen,  und  der  sorgfältigen  Darstellung  des  gesamten  Instru- 
mentariums einen  entschiedenen  Fortschritt  bedeutet. 


Abb.    192.     Darstellung   der   Blasenstein-Operation   aus   Lorenz  Heisters   „Institutiones 

chirurgicae". 


Heister  blieb  indessen  durchaus  nicht  der  einzige  deutsche 
Arzt,  der  sich  der  Chirurgie  widmete.  So  leistete  auch  der  Leipziger 
Professor  Zacharias  Platner  (1694— 1747)  hierin  recht  Gutes; 
namentlich  erfreuten  sich  seine  1745  erschienenen  „Institutiones  chi- 
rurgiae  rationalis"  großer  Verbreitung  und  Beliebtheit.  Daneben  gab 
es  eine  ganze  Reihe  von  Männern,  die  ohne  eigentliche  wissenschaft- 
liche Bedeutung,  sich  doch  um  die  chirurgische  Praxis  namhafte 
Verdienste  erwarben:  wie  der  Jeaner  Professor  Karl  Friedrich 
Kaltschmidt  (1706—1769),  der  Mitbegründer  der  Charite  Johann 
Theodor  Eller  (1689 — 1750),  der  preußische  Generalchirurgus 
Chr.  Anton  Theden  (1714— 1797)  u.  a.  m. 


Chirurgie,  Augenheilkunde  und  Geburtshilfe  im   i8.  Jahrhundert.     381 

Alle  diese  Männer  aber  wurden  erheblich  überragt  von  zwei  in 
der  zweiten  Hälfte  des  1 8.  Jahrhunderts  wirkenden  Chirurgen:  Siebold 
und  Richter.  Der  erstere  von  ihnen,  Carl  Kaspar  Siebold 
(1736 — 1807),  zeichnete  sich  nicht  nur  durch  hervorragende  praktische 
Leistungen  in  der  Chirurgie  sowie  durch  Angaben  neuer  Operations- 
methoden (vor  allem  der  Symphyseotomie)  aus,  sondern  er  wurde 
auch  nach  seiner  Berufung  auf  einen  Lehrstuhl  für  Anatomie,  Chi- 
rurgie und  Geburtshilfe  in  Würzburg  der  geistige  Vater  einer  ganzen 
Generation  von  tüchtigen  Chirurgen.  Die  Bedeutung  August  Gott- 
LIEB  Richters  (1742  — 1812)  dagegen  lag  in  erster  Linie  in  der 
Bearbeitung  eines  .vortrefflichen  Lehrbuches  der  Chirurgie,  das,  in 
7  Bänden  von  1782  — 1804  erschienen,  große  Verbreitung  fand.  Da- 
neben war  er  der  erste,  der  konsequent  auf  eine  Vereinigung  der 
inneren  Medizin  und  Chirurgie  hinarbeitete. 

x\uch  England  hat  im  18.  Jahrhundert  eine  Reihe  tüchtiger 
Chirurgen  hervorgebracht  Sie  zeichnen  sich  größtenteils  dadurch 
aus,  daß  sie  eine  sorgfältige  anatomische  Vorbildung  mit  einer 
nüchternen  Beobachtung,  dabei  aber  kühnem  Vorgehen  und  einer 
gewissen  Vielseitigkeit  verbinden.  Diese  Eigenschaften  zeigt  einer 
der  ersten  Chirurgen  jener  Zeit  WlLLL\M  Cheselden  (1^88 — 1752), 
der  vor  allem  auf  dem  Gebiete  der  Blasensteinoperation  Hervorragendes 
leistete  (er  führte  den  Seiten-Steinschnitt  in  wenigen  Minuten  aus) 
und  eine  einfache  Form  von  künstlicher  Pupillenbildung  durch 
Irisschnitt  angab.  Andere  nennenswerte  englische  Chirurgen  waren 
Alex„\xder  Münro  (1697  —  1767),  Percival  Pott  (1713  —  1788), 
dessen  Name  in  dem  nach  ihm  benannten  „Malum  Pottii"  fortlebt, 
und  die  beiden  Brüder  Hunter,  deren  älterer  Willl\m  Huxter 
(1717 — 1783)  als  Leibarzt  der  Königin  großes  Ansehen  genoß,  ein 
tüchtiger  Operateur  und  Geburtshelfer  war  und  die  Chirurgie  um 
neue  Methoden  bereicherte  (HuNTERsche  Aneur\'smen  -  Operation). 
Der  jüngere  JOHN  Hunter  (1728 — 1793)  bezeugte  seine  Vielseitig- 
keit durch  ausgezeichnete  Leistungen  in  der  pathologischen  Anatomie, 
Syphilisforschungen  und  Zahnheilkunde.  Andere  europäische  Staaten, 
wie  Dänemark,  Holland  und  Schweden,  nahmen  auch  an  dem  Auf- 
schwung der  Chirurgie  teil. 

Obgleich  eine  große  2^hl  von  Chirurgen  die  Augenheil- 
kunde mit  in  den  Bereich  ihrer  Tätigkeit  einbezog  und  auch 
mancherlei  Einzelfortschritte  erzielte,  so  fehlte  es  doch  seit  Georg 
Bartisch  bis  zum  Beginn  des  1 8.  Jahrhunderts  an  einer  zusammen- 
fassenden Bearbeitung  dieses  Gebietes.  Auch  hier  wurde  die  Führung 
von  den  Franzosen  übernommen.  Das  „Traite  des  maladies  de  reell" 
benannte,  1707  erschienene  Werk  des  AntüINE  Maitre  Jan  (1650 
bis  1730),   der  wohl   als  erster  den  wahren  Sitz  des  grauen  Stars  in 


382     Chirurgie,  Augenheilkunde  und  Geburtshilfe  im   18.  Jahrhundert. 

der  Linse  erkannte,  leitete  in  glücklicher  Weise  eine  Bewegung  ein, 
die  allmählich  zur  Löslösung  der  Augenheilkunde  von  der  Chirurgie 
hinführte.  Wichtige  Etappen  auf  diesem  Wege  bezeichnen  Namen 
wie  Jaques  Da  viel  (1696 — 1762),  der  aus  der  genauen  Kenntnis 
des  grauen  Stars  die  seit  dem  Altertum  (seit  Antyllos,  s.  S.  131) 
fast  völlig  in  Vergessenheit  geratene  Extraktion  der  Linse  ableitete 
und  endgültig  wieder  einführte.  Ferner  die  durch  Abfassung  brauch- 
barer augenärztlicher  Werke  bekannt  gewordenen  Charles  de  St. 

IVES  (1667  —  1736)  und  GUILLAUME  PELLIER  DE  QUENGSY  U.  a.  m. 
Unter  den  deutschen  Chirurgen  gab  es  auch  nicht  wenige,  die  in 
der  Augenheilkunde  Vortreffliches  leisteten:  so  der  oben  erwähnte 
Aug.  Gottlieb  Richter,  Just.  Gottfried  Günz  (17 14  —  1754), 
Heinrich  Jung-Stilling  (1740 — 18 17)  u.  a.  m.  Ihre  Bedeutung 
steigerte  sich  zusehends  in  der  2.  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts  und 
fand  ihren  Höhepunkt  in  GEORG  Joseph  Beer  (1762— 182 1),  der  die 
Ophthalmologie  an  der  Wiener  Universität  zu  großem  Ansehen 
brachte.  Seine  hauptsächlichsten  Arbeiten  galten  der  Lehre  vom 
Star,  die  er  in  theoretischer  wie  praktischer  Hinsicht  außerordentlich 
gefördert  hat  (Verbesserung  des  Instrumentariums !) ;  ferner  der  künst- 
lichen Pupillenbildung.  Aber  er  hat  sich  außerdem  um  das  gesamte 
Gebiet  der  Augenheilkunde  verdient  gemacht. 

Auch  in  England  befaßten  sich  fast  alle  Chirurgen  mit  Augen- 
heilkunde ;  doch  brachten  es  nur  verhältnismäßig  wenige  zu  wirklicher 
Bedeutung.  Unter  diesen  stehen  an  erster  Stelle  James  Ware  (17 17 
bis  1802),  der  die  Blennorrhoea  neonatorum  genau  beschrieb, 
Benediktus  Duddel,  dessen  1729  erschienene  Schrift  über  Krank- 
heiten und  verschiedene  Arten  von  Star  einige  Beachtung  be- 
ansprucht. 

Einen  gewaltigen  Schritt  voran  tat  trotz  mannigfacher  zu  über- 
windender Widerstände  (s.  oben  S.  341)  die  Geburtshilfe.  Die  durch 
die  hervorragenden  französischen  Geburtshelfer  eingeleitete  Bewegung, 
die  vor  allem  eine  den  damaligen  Anschauungen  entsprechende 
wissenschaftliche  Begründung  ihres  Faches  zum  Ziel  hatte,  erlitt 
keine  Unterbrechung.  So  bedeutete  es  einen  großen  Erfolg,  daß 
der  Holländer  Hendrik  van  Deventer  (1651 — 1724)  zum  ersten 
Male  die  Wichtigkeit  des  knöchernen  Beckens,  insbesondere  der 
Beckenachse  für  den  Geburtsvorgang  in  ihrem  vollen  Umfange 
würdigte  und  eine  richtige  „Lehre  vom  Becken"  begründete.  Sein 
1701  erschienenes  bedeutendes  Werk  „Operationes  chirurgicae  novum 
lumen  exhibentes  obstetricantibus"  mit  seinen  guten  Abbildungen 
läßt  den  Fortschritt  besonders  deutlich  erkennen.  Namentlich  er- 
scheint die  Diagnostik  der  abnormalen  Kindeslagen  bei  ihm  er- 
heblich verfeinert;    nicht  minder  seine  Technik  der  geburtshilflichen 


Chirurgie,  Augenheilkunde  und  Geburtshilfe  im  i8.  Jahrhundert     383 

Eingriffe,  bei  denen  er  dem  manuellen  Verfahren  gegenüber  dem 
instrumentellen  bis  zur  äußersten  Grenze  den  Vorzug  gab. 

Das  letztere  erhielt  eine  seiner  wichtigsten  Bereicherungen  durch 
eine  Erfindung,  die  sich  auf  die  Dauer  als  eine  der  wirksamsten 
und  segensreichsten  in  der  Geburtshilfe  überhaupt  erwies:  die  Ge- 
burtszange Wenn  man  sich  vor  Augen  hält,  daß  schon  im  Alter- 
tum (s.  oben  S.  124)  zangenartige  Instrumente  zur  Zerkleinerung 
und  auch  zur  Herausbeförderung  des  abgetöteten  Embryos  Ver- 
wendung fanden,  so  ist  man  verwundert,  daß  der  Gebrauch  eines 
ähnhch  gebauten  Werkzeugs  zur  Entwicklung  eines  lebenden  Kindes 
erst  so  spät  in  Aufnahme  kam.  Die  Idee,  mit  einem  einem  Spekulum 
ähnlichen  Instrumente  den  Kopf  des  Kindes  zu  entwickeln,  scheint 
bereits  im  16.  Jahrhundert  von  Pierre  Franco  geäußert  zu  sein. 
In  die  Tat  umgesetzt  wurde  sie  etwa  100  Jahre  §päter,  indem  die 
Londoner  Familie  Chamberlex  eine  von  einem  ihrer  Mitgheder  er- 
fundene Zange  unter  ängstlicher  Wahrung  ihres  Geheimnisses  mit 
gutem  Erfolg  bei  schwierigen  Geburtsfällen  verwandte.  Aber  erst 
durch  den  flandrischen  Chirurgen  JOHX  Palfyn  (1650— 1730)  wurde 
die  Entdeckung  Gemeingut  aller.  Dieser  legte  im  Jahre  1721  der 
Pariser  Akademie  ein  von  ihm  selbst  auf  Grund  langer  En;\'ägungen 
und  Proben  hergestelltes  Werkzeug  vor,  das  aus  zwei  nicht  mit- 
einander verbundenen  großen,  tief  ausgehöhlten  Löffeln  bestand.  Das 
in  dieser  Form  noch  recht  unhandliche  und  unzweckmäßige  Instru- 
ment wurde  dann  von  anderen  Geburtshelfern  immer  weiter  ver- 
bessert. Der  wichtigste  Fortschritt  bestand  darin,  daß  der  Franzose 
DüSSfe  und  die  beiden  Gregoire  zu  einer  Kreuzung  und  Ver- 
längerung der  beiden  Zangenarme  sowie  zur  Anbringung  von 
Fenstern  und  eines  einfachen  „Schlosses"  übergingen.  Daraus,  daß 
auch  diese  wichtige  Entdeckung  in  erster  Linie  wieder  in  Frank- 
reich zur  Verbreitung  kam,  wird  ersichtlich,  daß  dieses  I^nd  noch 
immer  eine  führende  Rolle  nicht  nur  auf  dem  Gebiete  der  allge- 
meinen Medizin,  sondern  namentlich  auch  in  der  Geburtshilfe  spielte. 
So  war  es  auch  ein  Franzose,  der  die  durch  Deventer  geschaffene 
Beckenlehre  weiter  ausbaute :  Jean  Louis  Baudelocque  ( 1 746 — 1 8 10), 
indem  er  vor  allem  die  Beckenmessung  verfeinerte.  Andere,  wie  DE 
Puzos,  Levret,  Deleurye  usw.  vervollkommneten  die  Wendung. 
Wieder  andere  wandten  ihre  Aufmerksamkeit  dem  Kaiserschnitt  zu. 

Aber  auch  Deutschland  blieb  in  der  Geburtshilfe  nicht  weit 
zurück.  War  es  doch  Lorenz  Heister,  der  die  Anwendung  der 
Zange  unmittelbar  nach  ihrer  Bekanntgabe  durch  Palfyn  unter 
seinen  Landsleuten  durch  Wort  und  Schrift  verbreitete,  das  all- 
gemeine Interesse  für  die  Geburtshilfe  entschieden  stärkte  und 
damit,   zum    mindestens   mittelbar,    den   Anstoß    zur   Schaffung   der 


384     Chirurgie,  Augenheilkunde  und  Geburtshilfe  im   18.  Jahrhundert. 

ersten  deutschen  Professur  für  dieses  Fach  gab.  Diese  wurde  be- 
kleidet von  Johann  Georg  Roederer  (1726  — 1763),  der,  auf 
Hallers  Veranlassung  nach  Göttingen  berufen,  dort  der  Geburts- 
hilfe eine  vorbildliche  Pflegestätte  bereitete,  aus  der  eine  ganze 
Reihe  bedeutender  Geburtshelfer  hervorging.  Durch  seinen  vor- 
trefflichen Grundriß  der  Geburtshilfe,  den  er  1753  in  Göttingen  er- 
scheinen ließ,  hat  er  einen  weitgehenden  und  nachhaltigen  Einfluß 
auf  viele  Aerztegenerationen  ausgeübt. 

Die  Engländer  sind  in  dieser  Zeit  trotz  des  französischen  Vor- 
bildes doch  ihre  eigenen  Wege  auf  dem  Gebiete  der  Geburtshilfe 
gegangen  und  haben  ihrerseits,  namentlich  gegen  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts, einen  entschiedenen  Einfluß  auf  andere  Länder,  besonders 
auch  auf  Deutschland,  ausgeübt.  Der  bereits  erwähnte  Chirurg 
William  Hunter  (s.  oben  S.  381)  wirkte  im  allgemeinen  eher  zu- 
rückhaltend gegenüber  den  neu  aufkommenden  eingreifenderen 
Methoden  und  war  vor  allem  ein  entschiedener  Gegner  der  Zange. 
Umgekehrt  lag  die  Wirksamkeit  des  berühmten  Londoner  Geburts- 
helfers William  Smellie  (1680— 1763)  gerade  in  seiner  Bevor- 
zugung instrum enteilen  Vorgehens,  das  ihn  auch  zur  Erfindung  oder 
teilweise  Neueinführung  verschiedener  geburtshilflicher  Werkzeuge 
führte.  Das  größte  Ansehen  aber  genoß  wohl  Thomas  Denman 
(1733  — 181 5),  der  eine  vermittelnde  Richtung  einschlug,  indem  er, 
ohne  grundsätzlich  die  Anwendung  der  neu  erfundenen  Instrumente 
abzulehnen,  doch  das  konservativ  abwartende  Verfahren  bevorzugte. 
Er  hat  die  Lehre  von  der  naturgemäßen  Geburt  entschieden  ge- 
fördert, er  hat  den  Vorgang  der  Selbstwendung  bei  vorliegendem 
Arme  zum  ersten  Male  genau  beobachtet  und  beschrieben  (daher 
DENMANsche  Wendung!),  er  empfahl  die  künstliche  P>ühgeburt  bei 
sehr  engem  Becken.  Auch  war  er  der  erste,  der  die  Tatsache  der 
Uebertragbarkeit  des  Wochenbettfiebers  durch  dritte  Personen  (Aerzte 
und  Hebammen),  wenn  auch  nicht  in  ihrer  Bedeutung  völlig  er- 
kannte, so  doch  beobachtete.  Unter  den  Holländern  ist  als  hervor- 
ragende Persönlichkeit  PiETER  Camper  (1722  —  1789)  zu  erwähnen, 
der  wohl  die  erste  Anregung  zur  Symphyseotomie  (s.  oben  S.  381) 
gegeben  hat  und  im  übrigen  in  den  Geleisen  Deventers  wandelte. 

Zwei  wichtige  Errungenschaften  des  Altertums  vermißt  man  in 
dieser  doch  in  mancher  Hinsicht  fortgeschrittenen  Zeit  auf  allen  Ge- 
bieten der  chirurgischen  Betätigung:  die  Asepsis  und  die  Narkose. 
Was  die  erstere  anbetrifft,  so  braucht  man  nur  das  möglichst  nur 
aus  einem  einzigen  Stück  Metall  gearbeitete  Instrumentarium  der 
alten  Griechen  mit  den  komplizierten  mit  Hörn,  Holz,  Elfenbein, 
Perlmutter,  Schildpatt  usw.  verzierten  Instrumenten  des  18.  Jahr- 
hunderts  zu    vergleichen,    um   zu   erkennen,    daß  die  Notwendigkeit 


Das  Aerztewesen  im  i8.  Jahrhundert.  385 

einer  vollkommenen  Reinhaltung  als  obersten  Grundsatzes  in  der 
Wundbehandlung  noch  nicht  wieder  erkannt  wurde.  Auch  sonst 
fehlt  es  in  den  chirurgischen  Lehrbüchern  dieser  Zeit  an  jedem  wirk- 
lichen Verständnis  für  die  Wichtigkeit  einer  peinlichsten  Sauber- 
haltung aller  mit  der  Wunde  in  Berührung  kommenden  Dinge.  Und 
es  nimmt  nicht  wunder,  wenn  man  in  zeitgenössischen  Nachrichten 
immer  wieder  die  beweglichen  Ivlagen  darüber  vernimmt,  daß  trotz 
besten  Gelingens  der  Operationen  so  unendlich  viele  Kranke  dem 
„Hospitalbrand"  und  anderen  Folgekrankheiten  erlagen.  Auch  von 
erfolgreichen  Versuchen,  bei  den  Kranken  durch  Betäubungsmittel 
Empfindungslosigkeit  herbeizuführen,  erfährt  man  nichts.  Und  es 
ist  kaum  zu  verstehen,  wie  die  in  dieser  Richtung  gemachten  An- 
sätze des  Altertums,  die  in  den  mittelalterlichen  Schlafschwämmen 
ihre  Fortsetzung  gefunden  hatten,  so  vollkommen  in  Vergessenheit 
geraten  konnten. 


Das  Aerztewesen  im  18.  Jahrhundert. 

Der  neue  Geist,  der  mit  den  großen  Aerzten  wie  BoERHAVE, 
VAN  SwiETEX,  Haller  u.  a.  in  die  Heilkunde  eingezogen  war,  hatte 
seinen  Einfluß  nicht  nur  auf  das  gesamte  medizinische  Denken  aus- 
geübt, sondern  gleichzeitig  auch  auf  die  äußeren  ärztlichen  Verhältnisse 
umbildend  gewirkt.  Wenn  auch  die  Neigung  zum  Theoretisieren 
weite  Kreise  unter  den  Aerzten  in  ihren  Bann  geschlagen  hatte,  so 
vermochten  sich  doch  die  selbständig  Denkenden  bei  der  praktischen 
Ausübung  ihres  Berufes  zumeist  von  solch  einengenden  Beeinflus- 
sungen frei  zu  machen.  Und  so  hat  die  Epoche,  die  als  die  Bringerin 
wichtiger  wissenschaftlicher  Erkenntnisse  in  der  Medizingeschichte 
dasteht,  zugleich  eine  erhebliche  Förderung  des  Aerztewesens  ge- 
zeitigt, eine  Tatsache,  die  in  der  Bezeichnung  als  „das  goldene  Zeit- 
alter des  ärztlichen  Standes"  ihren  Ausdruck  gefunden  hat. 

.  Die  ganze  Auffassung  des  ärztlichen  Berufes  erreichte  eine  Höhe, 
wie  sie  seit  den  unter  dem  Zeichen  des  Hippokratismus  stehenden 
Zeiten  nie  wieder  erlangt  worden  war.  Der  Grund  mag  zum  Teil 
in  der  allgemeinen  idealistischen  Grundstimmung  der  Zeit  gelegen 
haben.  Sicher  aber  war  von  großem  Einfluß  auch  der  hohe  Begriff, 
den  viele  der  bedeutendsten  und  einflußreichsten  Aerzte  nicht  nur 
von  ihrer  Kunst  selbst  hatten,  sondern  auch  anderen.  Aerzten  wie 
Laien,  beizubringen  verstanden.  Die  ärztliche  Berufswahl  wurde 
wieder  in  viel  höherem  Maße  als  vorher  als  eine  Sache  der  inneren 
Neigung  betrachtet  und  nicht  nur  von  dem  Standpunkte  des  reinen 
Broterwerbs  behandelt.     Und   so   sah   auch  das  Publikum  im  Arzte 

Meyer-Steineg  u.  Sudhoff,  Illustr.  Geschichte  der  Mediiin.  25 


•2  86  Das  Aerztewesen  im   i8.  Jahrhundert. 

nicht  bloß  einen  Geschäftsmann,  sondern  einen  zuverlässigen  und 
treuen  Berater  in  gesunden  und  kranken  Tagen.  Daher  kam  es, 
daß  sich  die  Einrichtung  des  Hausarztes  als  die  regelmäßige  Form 
der  Beziehungen  zwischen  dem  Arzte  und  seinen  Klienten  heraus- 
bildete; eine  Einrichtung,  die  für  die  Allgemeinheit  außerordentlich 
segensreich  war,  für  die  Gesamtheit  der  Aerzte  aber  neben  der  guten 
Seite  doch  auch  eine  weniger  günstige  hatte:  denn  wenn  auch  die 
in  der  Praxis  festgewurzelten  Aerzte  damit  eine  angenehme  und 
sorgenfreie  Stellung  hatten,  so  war  doch  für  den  jungen  Anfänger 
der  Erwerb  einer  Patientenschaft  sehr  erschwert. 

Auch  der  Staat  hob  und  unterstützte  die  Stellung  des  Arztes 
namentlich  dadurch,  daß  er  ihn  durch  strenge  gesetzliche  Bestim- 
mungen und  ihre  nachdrückliche  Durchführung  scharf  von  allen 
nicht  rechtmäßigen  Aerzten  sonderte.  An  die  Stelle  der  in  einzelnen 
Fällen  immer  noch  auftretenden  geistlichen  Aerzte ,  einer  Ueber- 
kommenschaft  des  Mittelalters,  traten  nunmehr  zahlreiche  jüdische 
Aerzte  als  völlig  gleichberechtigte  Berufsgenossen.  Einen  erheb- 
lichen Fortschritt  für  den  ärztlichen  Stand  bedeutete  die  endliche 
formale  Aufhebung  der  seit  dem  Mittelalter  nicht  beseitigten  Tren- 
nung der  Chirurgen  von  den  eigentlichen  Aerzten.  In  Paris  blieb 
allerdings  der  Unterschied  noch  insofern  bestehen,  als  die  Befugnisse 
der  „medici  puri"  und  der  „chirurgi"  nach  wie  vor  verschieden  waren. 
Erst  gegen  Ende  des  i8.  Jahrhunderts  begann  der  Unterschied  sich 
immer  mehr  zu  verwischen.  Viele  der  bedeutenderen  Aerzte,  nament- 
lich der  Professoren  der  Medizin,  befanden  sich  in  hochangesehenen 
Stellungen  als  Leibärzte,  deren  einen  sich  jeder  einigermaßen  ver- 
mögende Fürst  zu  halten  pflegte.  Unter  diesen  Leibärzten  standen 
dann  die  sogenannten  Hofmedici.  Ihre  Wirksamkeit  war  nicht  nur 
eine  rein  persönliche,  sondern  hatte  auch  ihre  sachliche  Seite:  sie 
nahmen  vielfach  eine  vorherrschende  Stellung  in  den  Medizinal- 
kollegien ein  und  übten  einen  ausschlaggebenden  Einfluß  auf  die 
Medizinalgesetzgebung  aus.  In  dieser  Hinsicht  hatte  Preußen  eine 
führende  Rolle:  es  schuf  1725  anstelle  der  alten  kurbrandenburgischen 
(s.  oben  S.  338)  die  erste  moderne  Medizinalordnung,  die  unter  anderem 
das  Staatsexamen  einführte.  Ihr  folgten  dann  andere  deutsche 
Staaten,  Dänemark,  Ungarn,  Schweden  usw.  Die  preußische  Ord- 
nung blieb  bestehen,  freilich  nicht  ohne  Widerspruch,  trug  aber  im 
allgemeinen  in  glücklichster  Weise  den  veränderten  Verhältnissen 
Rechnung.  Sie  handelt  im  ersten  Abschnitt  von  der  Zusammen- 
setzung und  den  Befugnissen  der  Collegia  medicorum,  die  in 
jeder  Provinz  eingerichtet  und  insgesamt  dem  Oberkollegium  in 
Berlin  unterstellt  wurden.  In  dem  zweiten  Abschnitt  ist  von  den 
medici,   den   eigentlichen  Aerzten,   die  Rede,   ihren  Pflichten    unter- 


Das  Aerztewesen  im  i8.  Jahrhundert.  387 

einander  und  gegenüber  der  Allgemeinheit.  Sie  durften  allein  das 
„innere  Curieren"  betreiben,  hatten  das  Privileg,  vor  allen  anderen 
Gläubigern  die  Zahlung  ihres  Honorars  zu  verlangen.  Die  Chirurgen, 
die  im  nächsten  Abschnitt  behandelt  werden,  stehen  unter  dem 
Aerztekollegium  und  haben  ihre  besondere  Ausbildung.  Es  folgen 
Vorschriften  über  die  Apotheker,  Materialisten,  Bader,  Hebammen, 
Marktschreier,  Zahnärzte  usw. 

Die  ärztliche  Ausbildung  erfuhr  auch  manche  Veränderung.  Nach 
einer  Vorbildung  auf  den  sogenannten  akademischen  Gymnasien, 
die  zwischen  dem  heutigen  Gymnasium  und  der  Universität  standen, 
begann  das  eigentliche  Hochschulstudium,  für  das  weder  ein  fester 
Plan  noch  eine  bestimmte  Dauer  vorgeschrieben  war.  Der  Studie- 
rende hatte,  bevor  er  zur  Praxis  zugelassen  wurde,  zunächst  eine 
„Disputation"  einzureichen,  dann  wurde  er  zum  „cursus  anatomicus" 
zugelassen,  wo  er  6  Präparate  zu  demonstrieren  hatte,  mußte  darauf 
einen  praktischen  Fall  ^lateinisch)  bearbeiten  und  erhielt  darauf  die 
Genehmigung  zum  Praktizieren. 

Die  Grundlage  des  Studiums  bildete  in  allen  europäischen  Län- 
dern die  Anatomie,  deren  Betreiben  aber  wegen  Mangels  an  mensch- 
hchen  Leichen  noch  immer  mit  großen  Schwierigkeiten  verbunden 
war.  Das  Berliner  Theatrum  anatomicum  war  im  letzten  Viertel 
des  18.  Jahrhunderts  reichlicher  mit  Leichenmaterial  versehen  und 
daher  von  Studierenden  aus  allen  Teilen  Deutschlands  stark  besucht. 
Im  übrigen  behalf  man  sich  mit  Wachsnachbildungen,  wie  sie  vor 
allem  der  Italiener  FONTANA  in  unübertrefflicher  Weise  für  den 
Unterricht  hergestellt  hatte. 

Die  Naturwissenschaften  wurden  dabei  keineswegs  versäumt. 
Für  ihr  Studium  waren  Sammlungen,  botanische  Gärten,  I^boratorien 
usw.  vorhanden,  deren  Betrieb  zumeist  von  Professoren  der  Medizin 
geleitet  wurde. 

Da  aber  keinerlei  Zwang  zu  ihnen  bestand,  so  beschäftigte  sich 
der  eine  mehr  mit  Botanik,  der  andere  mehr  mit  Zoologie,  mit 
Chemie  oder  Physik.  Der  Unterricht  in  den  beiden  wichtigsten 
Fächern,  der  Pathologie  und  Therapie,  war  in  der  ersten  Hälfts  des 
18.  Jahrhunderts,  mit  Ausnahme  von  Leyden,  noch  überall  recht  im 
argen.  E^  war  eine  Ausnahme,  daß  der  Studierende  selbst  an  den 
Kranken  herankam,  er  lernte  vielmehr  sowohl  die  Krankheitsbilder 
als  auch  das  Diagnostizieren  und  die  Behandlung  nur  aus  theoreti- 
schen Vorträgen  und  Büchern  kennen.  Erst  als  nach  dem  Vor- 
gange von  Leyden  unter  dem  Einfluß  BOERHAVEs  und  seiner  Schüler 
ein  wirklicher  klinischer  Unterricht  in  Deutschland,  Frankreich  und 
allmählich  auch  in  anderen  Ländern  eingerichtet  worden  war,  änderte 
sich  dieser  Zustand,  und  das  medizinische  Studium  nahm  einen,  ge- 

25*      ^ 


388 


Das  Aerztewesen  im   i8.  Jahrhundert. 


0 


waltigen  Aufschwung.  Sehr  hinderlich  standen  dabei  im  Wege  die 
traurigen  Verhältnisse  der  Krankenhäuser.  Wenn  man  bedenkt,  daß 
selbst  in  einer  so  großen  und  den  Zeitgenossen  als  mustergültig  er- 
scheinenden Anstalt  wie  das  Hotel  Dieu  in  Paris  oft  noch  mehrere 
Kranke  ein  Bett  teilen  mußten,  daß  das  Hospitalfieber  (d.  h.  Infek- 
tionen aller  Art)  ein  scheinbar  unumgängliches  Zubehör  der  Kranken- 
anstalten war,  versteht  man,  wie  schwer  es  vielfach  wurde,  die  für  einen 

geordneten  klinischen 
Unterricht  erforder- 
lichen Voraussetz- 
ungen zu  schaffen.' 

Die  Versorgung 
mit  Aerzten  war  in 
den  Städten  zumeist 
ausreichend,  doch  in 
den  einzelnen  Län- 
dern sehr  verschieden, 
ein  Ausgleich  war  da- 
durch erschwert,  daß 
selbst  in  den  einzelnen 
deutschen  Staaten 
nicht  ohne  weiteres 
jeder  in  einem  anderen 
Staate  approbierte 
Arzt  seinen  Beruf  trei- 
ben konnte,  vielmehr 
zumeist  erst  ein  neues 
Landesexamen  zu  be- 
stehen hatte.  Auf  dem 
Lande  war  fast  durch- 
weg die  Anzahl  der 
Aerzte  viel  zu  gering, 
um  in  genügendem 
Umfange  Hilfe  leisten 
zu  können.  Deshalb 
herrschte  dort  auch  zumeist  ein  blühendes  Kurpfusch  er  wesen.  das 
von   der  Behörde  stillschweigend  geduldet  werden  mußte. 

Dagegen  wurde  die  Regelung  des  öffentlichen  Gesundheits- 
dienstes durch  die  Schaffung  zahlreicher  staatlich  angestellter  Aerzte 
gefördert.  Auch  hier  ging  Preußen  führend  voran,  indem  es  statt 
der  bis  dahin  zumeist  in  den  Diensten  einzelner  Gemeinden  stehenden 
und  in  ihren  Rechten  und  Pflichten  ganz  verschieden  gestellten 
Stadtärzte    die    „Physici"    (s.   oben   S.  338)    zu    staatlichen   Beamten 


gwwmcffiliwffimtty.i 


Abb.     193.      Das     „Königliche    Spital    zu    Haslar",     aus 

J.  Howard,   „Krankenhäuser  und  Pesthäuser  in  Europa", 

Leipzig  1791. 


Das  Aerztewesen  im  i8.  Jahrhundert.  389 

machte,  und.  nach  einem  ganz  bestimmten  einheitlichen  Plane  mit 
gleichen  Befugnissen  ausgestattet,  über  das  Staatsgebiet  verteilte. 
Erst  hierdurch  wurde  ein  wohlgeregelter  Gesundheitsdienst  ermög- 
licht. Diesem  Vorgehen  Preußens  folgte  dann  Rußland  bald  nach. 
In  den  vielen  freien  Städten  blieb  das  Stadtphysikat  bestehen.  Die 
Gesamtheit  der  Physici  eines  solchen  Gemeinwesens  bildete  eine 
kollegiale  Behörde,  an  deren  Spitze  der  „Ph3-sicus  primarius"  stand. 

Infolge  der  Vereinigung  der  inneren  ^Medizin  und  der  Wund- 
heilkunde zu  einer  Gesamtdisziplin,  wie  sie  durch  das  Vorgehen 
Frankreichs  1792  zu  einem  endgültigen  Zustande  gemacht  wurde, 
hob  sich  auch  die  Stellung  der  Chirurgen  um  ein  bedeutendes.  Der 
Unterricht  in  der  Chirurgie  wurde  zum  Teil  auf  den  Universitäten, 
zum  Teil  an  besonderen  Lehranstalten  erteilt.  In  Frankreich  waren 
schon  im  zweiten  Viertel  des  18.  Jahrhunderts  Lehrstühle  für  Chi- 
rurgie mehrfach  errichtet.  Die  173 1  erfolgte  Stiftung  der  „Academie 
de  Chirurgie"  und  die  20  Jahre  später  geschaffene  ergänzende  Ein- 
richtung einer  „Ecole  pratique"  gaben  Frankreich  einen  großen  Vor- 
rang auf  dem  Gebiete  des  chirurgischen  Unterrichts.  In  Deutschland 
hatten  die  Bemühungen  in  dieser  Hinsicht  trotz  des  Wirkens  von 
Leuten  wie  Heister  nur  vereinzelte  Erfolge.  So  wurde  1748  in 
Dresden  die  erste  staatliche  chirurgische  Klinik  eingerichtet.  In 
Oesterreich  stiftete  die  1785  errichtete  medizinisch-chirurgische  Joseph- 
Akademie  viel  Nützliches,  wenngleich  ihre  Hauptaufgabe,  wenigstens 
zunächst,  in  der  Erziehung  tüchtiger  Wundärzte  für  das  Heer  be- 
stand. In  anderen  Ländern,  wie  Rußland,  Dänemark,  Holland,  Eng- 
land u.  a.  m.,  hatte  die  Chirurgie  immer  noch  mit  großen  Wider- 
ständen zu  kämpfen.  So  wurde  in  letztgenanntem  Lande  erst  1800 
eine  Trennung  der  Barbiere  von  den  wirklichen  Wundärzten  durch- 
geführt. Eine  uns  heute  sonderbar  anmutende  Sitte  war  es,  daß  die 
Chirurgen  in  vielen  Ländern  bei  ihren  Operationen  einen  „medicus 
purus"  hinzuziehen  mußten,  der  zwar  in  der  Regel  nicht  das  min- 
deste von  Wundbehandlung  verstand,  aber  auch  als  bloßer  Zu- 
schauer das  ihm  zustehende  Honorar  einstrich.  Wie  denn  immer 
noch  trotz  aller  äußeren  und  inneren  Fortschritte  der  Chirurgie  ihren 
Vertretern  etwas  von  dem  alten  Makel  ihres  Handwerks  anhaften 
blieb.  Dazu  trugen  besonders  die  zahlreichen  Chirurgen  bei,  die, 
obgleich  vollkommen  rite  ausgebildet  und  approbiert,  es  nicht  ver- 
schmähten, wie  fahrende  Leute  von  Stadt  zu  Stadt  zu  ziehen  und 
im  Verein  mit  Possenreißern  und  Seiltänzern  selbst  in  markschreie- 
rischer  Weise  ihr  Gewerbe  durch  die  Welt  zu  schleppen. 

Aehnlich  wie  der  Chirurgie  erging  es  der  Geburtshilfe  des 
18.  Jahrhunderts  in  mancher  Hinsicht.  Von  altersher  mit  jener  ver- 
knüpft, hatte  sie  fast  noch  mehr  unter  den  festeingewurzelten  Vor- 


390  Das  Aerztewesen  im   i8.  Jahrhundert. 

urteilen  zu  leiden.  So  wußten  noch  bis  über  die  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts hinaus  die  Pariser  Hebammen,  die  im  Hotel  Dieu  ihre 
eigene  Unterrichtsanstalt  besaßen,  diese  den  Aerzten  vollkommen  zu 
verschließen.  Mit  großer  Mühe  und  vielem  Aufwand  konnten  sich 
die  Aerzte  praktische  geburtshilfliche  Kenntnisse  verschaffen.  Zwar 
wurde  theoretischer  Unterricht  in  diesem  Fache  von  vielen  Lehrern 
der  Chirurgie  und  vereinzelt  der  Medizin  erteilt,  aber  im  übrigen 
blieben  die  Aerzte  auf  die  Benutzung  kleiner,  privater  Anstalten  an- 
gewiesen und  mußten  erst  in  der  eigenen  Praxis  sich  die  praktischen 
Fähigkeiten  aneignen.  In  Deutschland  wurde  die  erste  Lehranstalt, 
an  der  Aerzte  sich  in  der  Geburtshilfe  theoretisch  ausbilden  konnten, 
zu  Straßburg  1728  errichtet.  Ihr  folgten  erst  in  ziemlichen  Zwischen- 
räumen die  Anstalten  in  Dresden  (1751),  Kassel,  Jena,  Marburg  u.  a.  m. 
Von  großer  Bedeutung  für  den  geburtshilfhchen  Unterricht  wurde 
die  Berufung  Roederers  (s.  oben  S.  384)  nach  Göttingen,  der  dort 
die  erste  wirklich  wissenschaftlich  geleitete  geburtshilfliche  Klinik 
abhielt.  In  England  begann  man  ebenfalls  erst  1765  mit  wirklichem 
geburtshilflichen  Unterricht;  in  Dänemark  etwa  um  die  gleiche  Zeit. 
In  Holland  blieb  trotz  des  Wirkens  des  hervorragenden  Deventer 
die  Geburtshilfe  noch  zum  größten  Teile  in  den  Händen  der  Heb- 
ammen; soweit  aber  männliche  Geburtshelfer  vorhanden  waren,  er- 
freuten sie  sich  hoher  Achtung. 

Der  Stand  der  Hebammen  hob  sich  durch  den  verbesserten 
Unterricht  und  die  größere  öffentliche  Fürsorge  ganz  erheblich. 
Man  verlangte  von  ihnen  nicht  nur  eine  einfache  praktisch-mecha- 
nische Ausbildung,  sondern  in  fast  allen  europäischen  Hebammen- 
schulen hatte  man  einen  ziemlich  anspruchsvollen  Lehrplan  einge- 
richtet, und  das  vor  dem  ärztlichen  Oberkollegium  stattfindende 
Examen  stellte  ziemlich  weitgehende  Ansprüche  auch  an  das  theore- 
tische Wissen.  Hierdurch  wurden  ungebildete  Frauen  von  vorn- 
herein aus  dem  Berufe  ausgeschaltet. 

Das  Honorarwesen  der  Aerzte,  Geburtshelfer,  Chirurgen  und 
Hebammen  wurde  fast  überall  durch  besondere  Taxordnungen  ge- 
regelt. Im  allgemeinen  machte  sich  in  diesen  bereits  eine  gewisse 
Abnahme  der  Schätzung  ärztlicher  Leistungen  insofern  geltend,  als 
zwar,  absolut  betrachtet,  die  einzelnen  Leistungen  etwas  höher  be- 
wertet wurden  als  vorher,  im  Verhältnis  zum  gesunkenen  Geldwerte 
aber  hinter  früheren  Taxen  zurückblieben.  Da  aber,  wie  es  z,  B.  in 
der  preußischen  „Taxa  vor  denen  medicos"  von  1725  heißt,  „denen 
Vornehmen  und  Wohlbemittelten  ihre  Discretion  und  ihre  LiberaHtät 
nicht  gebunden"  wurde,  also  im  Grunde  nur  die  Mindestsätze  an- 
gegeben waren,  da  ferner  das  Hausarztwesen  in  vollster  Blüte  stand, 
so   kann    man    auch   die   materielle   Seite   des   ärztlichen  Berufes   in 


Entwicklung  der  pathol.  Anatomie.    Pinel.    Morgagni.    Bichat.     391 

dieser  Zeit  als  durchaus  dem  ideellen  Ansehen  entsprechend  gestaltet 
bezeichnen. 

Die  militärärztlichen  Einrichtungen,  die  noch  zu  Anfang  des 
18.  Jahrhunderts  außerordentlich  rückständig  waren,  entwickelten  sich 
nach  dem  Vorbilde  Preußens  entsprechend  den  Fortschritten  der 
Chirurgie  und  der  besseren  Ausbildung  der  Wundärzte  sowohl 
ihrem  Umfange  als  ihrer  Bedeutung  nach.  Dies  fand  vor  allem 
seinen  Ausdruck  darin,  daß  die  noch  17 10  den  Offizieren  unter- 
stellten Feldwundärzte  in  eine  eigene  Rangordnung  gebracht  wurden 
in  der  Weise,  daß  über  den  einfachen  Feldscherern  der  Kompanie- 
feldscherer  und  über  diesem  der  Regimentsfeldscherer  stand.  Bei 
der  Garde  führte  der  letztere  die  Rangbezeichnung  „Generalchirurgus", 
Die  Befugnisse  dieser  drei  Gruppen  waren  streng  voneinander  ge- 
schieden :  die  ersteren  hatten  nur  die  niederen  Hilfeleistungen,  waren 
also  mehr  eine  Art  von  Krankenwärtern;  den  zweiten  lag  neben 
dem  Rasieren  nur  die  Ueberwachung  der  Kranken  und  Verwun- 
deten ob.  Die  eigentliche  Behandlung  lag  ausschließlich  in  den 
Händen  der  Regimentsfeldscherer.  Da  nun  dieses  Personal  keines- 
wegs ausreichte,  so  trat  ihm  zur  Seite  ein  ausschließlich  aus  Aerzten 
gebildetes  Personal,  die  sämtlich  im  Range  von  Regimentsmedicis 
standen  und  zumeist  nur  eine  konsultierende  Tätigkeit  hatten.  Ihnen 
war  ein  Generalstabs-Medicus  übergeordnet.  Dort,  wo  in  den  Garni- 
sonen eigene  Militärspitäler  bestanden,  wurden  sie  von  Gamison- 
Medici  geleitet.  Also  Verhältnisse,  die  denen  der  römischen  Kaiser- 
zeit ganz  außerordentlich  ähnelten  (s.  oben  S.  146  ff.).  Auch  hinsicht- 
lich der  sozialen  Stellung  trifft  dies  zu;  unterlagen  die  Feldscherer 
doch  noch  der  Prügelstrafe.  In  anderen  Staaten,  wie  z.  B.  Frank- 
reich, blieb  die  Entwicklung  des  Militärsanitätswesens  noch  lange 
erheblich  hinter  demjenigen  Preußens  zurück. 


Die  Entwicklung  der  pathologischen  Anatomie. 
Pinel.     Morgagni.     Bichat. 

Die  Entwicklung,  welche  die  Medizin  in  der  Zeit  nach  HALI.ER 
genommen  hatte,  war,  wie  im  Vorhergehenden  gezeigt  wurde,  durch- 
aus nicht  eine  gleichmäßig  zu  einem  bestimmten  Ziele  aufsteigende. 
Die  Heilkunde  blieb,  was  sie  immer  gewesen  war,  das  Kampf feld 
auf-  und  abwogender  Meinungen.  Und  das,  was  in  dem  einen 
Augenblick  als  neue  und  feststehende  Tatsache  in  den  Vordergrund 
geschoben  war,  wurde  im  nächsten  oft  schon  wieder  verworfen,  um 
bald  darauf,  meist  in  etwas  veränderter  Form,  wieder  aufzutauchen. 
Wie  groß  und  mitbestimmend  immer  noch  der  Einfluß  der  Philo- 
sophie auf  viele  ärztliche  Forscher  war,  hatte  die  naturphilosophische 
Schule  wieder  deutlich  gezeigt.  Aber  ebenso  sichtbar  war  auf  der 
anderen  Seite  bei  einer  ganzen  Reihe  von  Aerzten  das  Bestreben, 
die  philosophische  Spekulation  endgültig  aus  der  ärztlichen  Forschung 
auszuschalten  und  an  ihre  Stelle  ein  nüchtern-naturwissenschaftliches 
Denken  zu  setzen. 

Die  bei  Barthez  zum  ersten  Male  deutlich  zutage  getretenen 
Ideen  hatten,  wie  oben  (s.  S.  362  f.)  bereits  kurz  angedeutet  wurde,  in 
Pinel  eine  Nachfolge  gefunden,  der  sie  seinerseits  weiter  ausgeführt 
und  —  in  gewissem  Sinne  —  modifiziert  hatte.  Sein  Bestreben  war 
vor  allem  darauf  gerichtet,  die  Krankheitserscheinungen  in  ihre 
Grundbestandteile  aufzulösen,  sie  unter  Zugrundelegung  anatomischer 
Kenntnisse  und  der  Annahme,  daß  einem  analogen  anatomischen 
Bau  auch  analoge  Lebenserscheinungen  entsprechen  müßten,  mit  der 
Beschaffenheit  und  dem  Verhalten  der  betreffenden  Körperteile  und 
Organe  in  Beziehungen  zu  bringen,  mit  anderen  Worten  eine  ana- 
tomische Lokalisation  der  Krankheitsvorgänge  zu  erreichen  und 
darauf  ein  natürliches  nosologisches  System  aufzubauen. 

Dieser  Gedanke  war  zweifellos  beeinflußt  von  den  Fortschritten, 
die  inzwischen  bereits  die  Kenntnis  von  den  anatomischen  Grund- 
lagen der  Krankheitsveränderungen  gemacht  hatte.  Sie  knüpfen  sich 
vor  allem  an  den  Namen  eines  Mannes,  dessen  Hauptverdienst  in 
der  erstmaligen  Selbständigmachung  der  pathologischen  Anatomie 
als  besonderen  Wissenszweiges  liegt:  GlOVANNi  Battista  MOR- 
GAGNI   (1682 — 177 1).      Aus    einer    Richtung    hervorgegangen,     die 


Entwicklung  der  pathol.  Anatomie.     Pixel.    Morgagni.    Bichat.     39^ 


von  dem  berühmten  Marcello  Malpighi  (1628 — 1694)  ihren 
Ausgang  nehmend,  über  dessen  Schüler  Antonio  Maria  Val- 
SALVA  (1666 — 1723)  führte,  den  wiederum  Morgagni  zum  Lehrer 
hatte,  beschäftigte  auch  er  sich  zunächst  eingehendst  mit  normaler  Ana- 
tomie, wobei  er,  wie  schon  manche  Anatomen  vor  ihm,  gleichzeitig  ge- 
legentliche seltenere  krankhafte  Strukturveränderungen  mit  regi- 
strierte. Allmählich  aber  ging  er  zu  einer  systematischen  Beobach- 
tung aller  pathologischen  Veränderungen  über,  die  er  dann  schließ- 
lich —  erst  im  hohen  Alter  —  im  Jahre  1761  in  einem  grundlegenden 
Werke  „De  sedibus  et  causis  morborum  per  anatomen  indagatis 
libri  quinque"  zusammenfaßte ;  einem  Werke,  das  in  der  Vielseitigkeit 
seiner  Anlage  freilich  erheb- 
lich über  ein  bloßes  patho- 
logisch -  anatomisches  Buch 
hinausging.  War  auch  der 
Hauptzweck,  den  Morgagni 
in  seinem  Werke  verfolgte, 
eine  zuverlässigere  Unterlage 
für  eine  sichere  Diagnostik 
und  damit  auch  für  die  Thera- 
pie zu  schaffen,  so  trat,  darüber 
hinausgehend,  doch  auch  der 
rein  wissenschaftliche  Ge- 
sichtspunkt, eine  festere  Ver- 
bindung der  normalen  Ana- 
tomie und  Physiologie  mit  der 
Pathologie  herzustellen,  stark 
hervor.  Trotz  der  großen 
Mängel,  die  dem  Werke  bei 
allen  seinen  bedeutenden  Vor- 
zügen anhafteten  und  —  bei 
dem    damaligen    Stande    der 

Forschung  —  anhaften  mußten,  trotzdem  Morgagni  beispielsweise  die 
Krankheitsprodukte  gleichzeitig  auch  als  die  Ursachen  der  Krankheit 
betrachtete,  lag  doch  hier  zum  ersten  Male  eine  Leistung  vor,  die, 
durch  das  Schaffen  anderer  Leute,  wie  Jos.  LlEUTAUD  (1703 — 1780), 
John  Hunter  (s.  oben  S.  381)  u.  a.  m.  ergänzt  und  er\veitert,  eine 
bis  dahin  nicht  erreichte  Unterlage  für  weitere  Fortschritte  abgab. 
So  steht  auch  der  Mann  auf  den  Schultern  seiner  Vorgänger, 
der  in  seiner  ganzen  Auffassung  uns  heute  als  der  erste  Vertreter 
„moderner"  Medizin  erscheint:  Fran(;ois  Xavier  Bichat.  Im 
Jahre  1771  als  Sohn  eines  Arztes  zu  Thoi rette  geboren,  erhielt 
er  in  Nantes,  Paris,  Lyon  und  Montpellier  seine  Ausbildung. 


Abb.  194.     Marc.  Mali'ighi. 


394     Entwicklung  der  pathol.  Anatomie.     Pinel.    Morgagni.    Bichat. 

In  Paris  wurde  er  Lieblingsschüler  und  Gehilfe  Desaults,  unter 
dem  er  sich  vor  allem  mit  Chirurgie  beschäftigte.  Nach  dem  Tode 
seines  Meisters  wandte  er  sich  hauptsächlich  der  Anatomie  und 
Physiologie  zu,  die  er.  in  Privatkursen  seit  1796  lehrte.  1801  wurde 
er  am  Hotel  Dieu  angestellt,  starb  aber  bereits  1 802  an  einer  Tuber- 
kulose, die  er  sich  durch  ungeheuere  Ueberarbeitung  zugezogen 
hatte.  Seine  wichtigsten  Werke,  die  sich  alle  durch  einen  ungewöhn- 
lichen Wirklichkeitssinn  und  Schärfe  der  Auffassung  auszeichnen, 
sind  „Anatomie  generale  appliquee  ä  la  physiologie  et  la  medecine" 
und  „Recherches  physiologiques  sur  la  vie  et  la  mort"  (beide  1801 
erschienen). 

Wie  bei  allen  großen  Neuerern,  so  ist  auch  bei  BiCHAT  eine 
gewisse  Einseitigkeit  in  der  Verfolgung  seiner  Ideen  nicht  zu  über- 
sehen. Sie  besteht  darin,  daß  bei  ihm  die  chemische  und  physi- 
kalische Seite  der  Lebensvorgänge  über  Gebühr  in  den  Hintergrund 
gedrängt  werden  zugunsten  einer  —  dadurch  freilich  um  so  ein- 
heitlicher —  geschlossenen  anatomischen  Betrachtungsweise.  Wie- 
weit er  hierin  ging,  ersieht  man  schon  allein  aus  einem  einzigen 
Ausspruch :  „Man  nehme  einige  fieberhafte  und  nervöse  Leiden  fort, 
und  alles  andere  gehört  in  den  Bereich  der  pathologischen  Ana- 
tomie". Mit  dieser  Anschauung  kam  er  zum  ersten  Male  wieder  in 
klar  ciusgesprochener  Weise  auf  Gedanken  zurück,  die  in  der  Lehre 
Galens  von  der  Bedeutung  der  gleichartigen  und  ungleichartigen 
Teile  bereits  angedeutet  waren.  Die  Grundlage  bildet  bei  ihm  die 
allgemein-anatomische  Betrachtung,  daß  der  Körper  zusammengesetzt 
sei  aus  „allgemeinen  Gewebssystemen",  d.  h.  solchen,  die  überall  im 
Körper  vorkommen  (wie  das  Zellgewebe,  Nervengewebe,  Ader-  und 
Lymphsystem),  und  „besonderen  Gewebssystemen",  d.  h.  solchen,  die 
gewissen  Teilen  des  Körpers  eigentümlich  sind  (wie  Muskeln, 
Knochen  und  Knochenmarksystem,  seröse  und  Schleimhäute,  Drüsen- 
system usw.).  Die  Gesamtheit  dieser  Gewebe  faßte  er  unter  der 
Bezeichnung  „einfache"  zusammen  und  stellte  ihnen  die  „zusammen- 
gesetzten" gegenüber,  unter  denen  er  die  aus  verschiedenen  ein- 
fachen Geweben  bestehenden  Häute  (fibromuköse,  fibroseröse)  sowie 
die  Organe  begreift.  Diese  Betrachtungsweise  gestattete  ihm,  als 
erstem,  die  Lokalisierung  der  Krankheitsprozesse  nicht  bloß  in  die 
einzelnen  Körperteile  und  Organe  zu  verlegen,  sondern  sie  weiter 
darüber  hinaus  bis  in  die  einzelnen  Gewebe  zu  verfolgen.  Auf 
diesem  Wege  gelangt  er  zu  einer  doppelten  wichtigen  Erkenntnis: 
einmal,  daß  jedes  Gewebe,  da  es,  gleichgültig  in  welchem  Körper- 
teile gelegen,  stets  die  gleiche  Struktur,  dieselben  Eigenschaften  und 
die  nämliche  Disposition  habe,  also  auch  überall  die  gleichen  Formen 
von  krankhaften  Veränderungen  aufweise;  sodann  aber,  daß  ein  Teil 


Entwicklung  der  pathol.  Anatomie.     Pixel.    Morgagni.   Bichat.     395 

oder  Organ  durchaus  nicht  immer  als  Ganzes  zu  erkranken  brauche, 
daß  vieknehr  auch  eine  einzelne  Gewebsart  von  krankhaften  Ver- 
änderungen befallen  sein  könne.  Diese  Ideen  haben  sich  in  der 
Folgezeit  als  ganz  außerordentlich  fruchtbar  erwiesen  vor  allem  da- 
durch, daß  sie  die  Krankheitslehre  wenigstens  nach  dieser  einen 
Seite  hin  von  den  mannigfachen  Spekulationen  abgezogen  haben 
und  auf  den  Boden  einer  reinen  Tatsachenbetrachtung  stellten. 

Auf  der  anderen  Seite  freilich  war  Bichat  nicht  anders  wie 
viele  seiner  Vorgänger  und  Zeitgenossen  vollkommen  von  vitaUstischen 
Gedanken  befangen;  er  verstand  es  eben  —  was  uns  heute  unmög- 
lich dünkt  —  den  Krankheitsvorgang  selbst  von  seinen  Ursachen 
gedanklich  so  weit  auseinanderzuhalten,  daß  er  an  die  Erklärung 
der  letzteren  von  einem  ganz  anderen  Standpunkte  heranzutreten 
vermochte.  So  erschien  ihm  das  Krankwerden  als  eine  Störung  der 
„vitalen  Eigentümlichkeiten",  nämlich  der  „Sensibilität"  und  „Kon- 
traktilität".  Da  nach  seiner  Annahme  das  Leben  in  zwei  Arten 
sich  äußert,  als  „organisches",  d.  h.  Tieren  und  Pflanzen  gemein- 
sames, und  „animalisches",  das  nur  den  Tieren  zukommt,  so  teilt  er 
auch  die  beiden  vitalen  Eigentümlichkeiten  in  organische  oder  un- 
bewußte und  animale  oder  bewußte  Sensibilität  bzw.  Kontraktilität. 
Jedes  Gewebe  aber  hat  seine  eigene  Art  von  Sensibilität  und  Kon- 
traktilität. Seinen  ganzen  Grundanschauungen  nach  erscheint  Bichat 
somit  als  ausgesprochener  Solidarpathologe.  Aber  diese  vollständige 
Einseitigkeit  vermied  er  dadurch,  daß  er  auch  den  Säften,  nament- 
lich dem  Blute,  eine  Rolle  in  der  Krankheitslehre  zuwies  und  ihr 
damit  einen  humoralpathologischen  Einschlag  gab.  Er  tat  dies,  in- 
dem er  —  in  etwas  dunkler  Weise  —  von  einer  besonderen  „Vitalität 
der  Säfte"  sprach. 

Alles  in  allem  genommen  lassen  die  Anschauungen  BiCHATs 
die  Gedankenarbeit  eines  bedeutenden  Arztes  erkennen,  der,  in  der 
vollen  Erkenntnis  des  wahren  Zieles  der  medizinischen  Forschung 
und  des  zu  ihm  hinführenden  richtigen  Weges,  doch  noch  durch 
mancherlei  Fäden  mit  dem  Geiste  der  Vergangenheit  verknüpft  er- 
scheint und  der  in  dem  Streben,  Einseitigkeit  zu  vermeiden,  die  Er- 
weiterung seiner  Gedankengänge  nicht  in  dem  uns  heute  selbstver- 
ständlich erscheinenden  Anschluß  an  die  Naturwissenschaften  (Physik 
und  Chemie),  sondern  gerade  in  dem  suchte,  was  er  eigentlich  und 
seiner  Natur  nach  verwarf:  in  der  Spekulation. 


3q6       Ausbau  der  naturwissenschaftlichen  Grundlagen  der  Medizin: 

Der  Ausbau   der   naturwissenschaftlichen   Grund- 
lagen der  Medizin:  Botanik,  Zoologie,  Physik, 
Chemie,  Anatomie  und  Physiologie.     Gall  und  die 
Phrenologie.     Der  Broussaisismus. 

Das  Bestreben,  die  Ergebnisse  ihrer  naturwissenschaftlichen 
P'orschungen  mit  ihrer  allgemeinen  Weltanschauung  in  einen  ge- 
wissen Einklang  zu  bringen,  machte  sich  begreiflicherweise  auch 
jetzt  wieder  bei  vielen  Aerzten  geltend.  Aber  die  Verhältnisse, 
unter  denen  dies  jetzt  geschah,  waren  ganz  andere  geworden.  Der 
Einfluß  der  Philosophie  war  in  demselben  Maße  zurückgedrängt,  in 
dem  die  Naturwissenschaften  in  den  Vordergrund  drangen.  Eine 
entschiedene  Unterstützung  fand  diese  Entwicklung  in  der  allgemein- 
realistischen Richtung,  die  sich  im  19.  Jahrhundert  als  eine  Reaktion 
auf  den  Idealismus  des  vergangenen  Jahrhunderts  auf  fast  allen  Ge- 
bieten des  kulturellen  Lebens  geltend  machte.  Die  ganze  Zeit- 
strömung bewirkte  mit,  daß  das  naturwissenschaftliche  Denken 
weniger  von  der  philosophischen  Spekulation  mehr  beeinflußt  wurde, 
als  umgekehrt  selbst  einen  Einfluß  auf  die  Geisteswissenschaften 
gewann.  Der  deutliche  Niederschlag  dieses  Vorganges  war  in  zwei 
philosophischen  Richtungen  erkennbar:  in  dem  von  August  Comte 
(1798 — 1857)  begründeten  „Positivismus",  der  unter  Verwerfung  aller 
Metaphysik  lediglich  aus  der  Beobachtung  der  tatsächlichen  Er- 
scheinungen und  ihrer  Bedingungen  seine  Schlüsse  zu  ziehen  suchte 
und  als  eigentliche  Wissenschaften  nur  Mathematik,  Astonomie, 
Chemie,  Physik,  Biologie  und  Soziologie  anerkannte.  Demgegenüber 
stand  der  vor  allem  von  deutschen  Forschern  vertretene  „Materialis- 
mus", wie  er  namentlich  von  dem  Physiologen  Carl  Vogt  (18 17  bis 
1895),  von  Ludwig  Büchner  u.  a.  vertreten  wurde. 

Was  die  einzelnen  Naturwissenschaften  und  ihre  Beziehungen 
zur  Medizin  anlangt,  so  war  bei  der  Botanik  ein  doppelter  Einfluß 
unverkennbar,  ein  mehr  äußerlicher,  indem  durch  die  verbesserten 
und  erweiterten  Kenntnisse  von  den  Arzneipflanzen  der  Arznei- 
schatz eine  entschiedene  Bereicherung  empfing.  Sodann  aber  —  und 
das  war  das  wichtigere  —  indem  die  Botanik  durch  ihre  biologischen 
Forschungen  unmittelbar  befruchtend  auf  die  Medizin  wirkte.  In 
einer  Hinsicht  freilich  war  dieser  Einfluß  ein  nicht  eben  segens- 
reicher; denn  die  durch  LiNNE  eingeführte  Klassifikation  der  Pflanzen 
nach  „natürlichen  Familien"  veranlaßte  einige  ärztliche  Forscher  zur 
Nachahmung  und  wurde  dadurch  eine  der  Hauptursachen  für  die 
Begründung  der  sogenannten  „naturhistorischen  Schule".  Auf  der 
anderen  Seite  aber  war  es  die  mikroskopische  Botanik,  welche  nach 


Botanik,  Zoologie,  Physik,  Chemie,  Anatomie  und  Physiologie.      397 

zwei  Richtungen  hin  der  Medizin  wichtige  Anregungen  gab:  sie 
wurde  durch  die  Auffindung  der  mikroskopischen  Pilzformen  die 
Unterlage  für  die  Parasitenlehre  und  durch  die  Entdeckung  der 
Bedeutung  der  Pflanzenzellen  das  Fundament  für  die  tierische  Zellen- 
lehre, die  in  Virchow  ihre  volle  Auswirkung  zu  einem  großen 
neuen  System  finden  sollte  (s.  unten  S.  399  ff).  Wenn  auch  schon  im 
17.  Jahrhundert  Hooke  und  Malpighi  (s.  S.  392)  u.  a.  die  Pflanzen- 
zelle als  solche  erkannt  und  Robert  Brown  (1773 — 1858)  dann  bei 
Orchideen    den    Zellkern    gesehen    hatten,    so    gelang    es    doch   erst 


Abb.  195.    Jakob  Matthias  Schleiden. 


Matthias  Jakob  ScHLEiDEN  (1804— 1864),  die  Bedeutung  der  Zelle 
als  eigentlichen  Formelementes  der  Pflanzen  und  deren  Entwicklung 
aus  der  Zelle  zu  erkennen. 

Auf  diesem  Fortschritte  baute  sich"  dann  eine  der  wichtigsten 
zoologischen  Neuerkenntnisse  auf,  die  THEODOR  SCHWANN  (18 10  bis 
1882)  in  seiner  Schrift  „Mikroskopische  Untersuchungen  über  die 
Uebereinstimmung  in  der  Struktur  und  dem  Wachstum  der  Tiere 
und  Pflanzen"  erstmalig  niederlegte;  eine  wissenschaftliche  Tat,  die 
durch  die  grundsätzliche  Hinwegräumung  der  bis  dahin  von  den  meisten 
Naturforschern  zwischen  Pflanze  und  Tier  aufgerichteten  Scheidewand 


398       Ausbau  der  naturwissenschaftlichen  Grundlagen  der  Medizin  : 


ungeahnten  Segen  gestiftet  hat.  Auch  sonst  waren  die  wohltätigen 
Wirkungen  in  der  Zoologie  deutlich  spürbar :  so  in  der  bahnbrechen- 
den Arbeit  Gottfried  Chr.  Ehrenbergs  (1795  — 1876)  über  „Die 
Infusionstierchen  als  vollkommene  Organismen",  die  in  unverkenn- 
barem Zusammenhang  mit  den  gegen  Ende  der  dreissiger  Jahre 
des  19.  Jahrhunderts  einsetzenden  Bestrebungen  steht,  über  die  Be- 
deutung der  Parasiten  für  den  tierischen  Organismus  Klarheit  zu 
schaffen.  Auch  die  von  Georges  Guvier  (1769 — 1832)  wissenschaft- 
lich begründete  vergleichende  Anatomie  und  ihre  Verschmelzung 
mit  der  Zoologie  wurde  von  großem  Einfluß  auf  die  medizinische 
Forschung. 

Das  Gleiche  gilt  in  fast  noch  höherem  Maße  von  der  von  Charles 

Darwin  (1809— 1882)  begrün- 
deten Deszendenztheorie,  die 
mit  der  alten  Anschauung  von 
der  Unveränderlichkeit  der 
Arten  ein  für  allemal  aufräumte. 
Zwar  hatten  Darwins  Ideen 
bereits  Vorgänger  gehabt,  wie 
den  Chevalier  de  Lamarck 
(1744— 1829),  Geoffroy  St. 
Hilaire(i772 — 1844), Goethe 
u.  a.,  die  alle  mehr  oder  minder 
den  Gedanken  einer  allmäh- 
lichen Veränderung  der  Arten 
ausgesprochen  hatten.  Doch 
war  Darwin  der  erste,  der 
ihn  bis  zu  der  Aufstellung  der 
These  durchführte,  daß  alle 
heute  lebenden  Arten  von 
früheren  weniger  entwickelten 
abstammten,  und  daß  bei  dem 
allmählichen  Umwandlungsprozeß  eine  natürliche  Auswahl  infolge  eines 
„Kampfes  ums  Dasein"  als  wichtigster  ursächlicher  Faktor  in  Betracht 
komme.  Diese  Theorie  hat  durch  zahllose  Anhänger  eine  weite 
Verbreitung  gefunden,  in  neuerer  Zeit  freilich  in  steigendem  Umfange 
auch  Gegner.  Eine  ihr^r  wichtigsten  Fortbildungen  ist  das  von 
Ernst  Haeckel  (1834 — 1919)  aufgestellte  „biogenetische  Grund- 
gesetz", nach  dem  die  höheren  Lebewesen  im  embryonischen  Zustande 
die  ganze  Entwicklung  ihrer  Stammesvorfahren  durchlaufen  sollen. 
Auch  die  Physik  hat  ihre  Verbindung  mit  der  Medizin  im 
19.  Jahrhundert  immer  fester  geknüpft.  Im  Anfange  allerdings  nur, 
um  gewisse  Spekulationen  —  wie  die  von  der  Polarität  —  mit  einer 


Abb.  196,     Theodor  Schwann. 


Botanik,  Zoologie,  Physik,  Chemie,  x\natomie  und  Physiologie.      399 

naturwissenschaftlichen  Einkleidung  zu  versehen.  Allmählich  aber 
hat  die  Physik  sich  vor  allem  in  der  Physiologie  als  der  Lehre  von 
den  Lebensfunktionen  die  Stellung  erobert,  die  ihr  ihrer  Bedeutung 
nach  zukommt.  Nicht  in  der  einseitigen  Weise  wie  bei  den  latro- 
physikern  (s.  oben  S.  320  ff.),  sondern  unter  Einräumung  des  gebührenden 
Platzes  für  ihre  Schwesterwissenschaft:  die  Chemie.  Alle  die  Ge- 
setze der  Ph}-sik,  welche  man  fand,  erkannte  man  als  anwendbar 
auf  die  Erscheinungen  auch  des  lebenden  Organismus.  Man  braucht 
nur  Namen  wie  Thomas  Young  (1773 — 1829),  John  Dalton  (1766 
bis  1844),  den  Schöpfer  der  Atomtheorie,  Gay-Lü'SSAC  (1778— 1850), 
den  Entdecker  des  Volumgesetzes,  ferner  Chladni  (1756  —  1827), 
Fpiaunhofer  (1787 — 1826),  Ampere  (1775— 1847)  und  viele  andere 
sich  ins  Gedächtnis  zu  rufen,  ohne  deren  Forschungen  man  sich  die 
heutige  Physiologie  überhaupt  nicht  mehr  vorstellen  kann.  Weit  be- 
deutsamer als  die  meisten  der  angeführten  Fortschritte  aber  war  die 
Aufstellung  des  „Gesetzes  von  der  Erhaltung  der  Kraft"  durch  Julius 
Robert  Mayer  (18 14— 1878);  eine  Tat,  die  am  meisten  dazu  bei- 
getragen hat,  den  Vitalismus,  der  immer  noch  in  der  Erklärung  der 
Lebens  Vorgänge  bei  vielen  Forschern  eine  wichtige  RoUe  spielte  und 
der  naturwissenschaftlichen  Betrachtung  den  Rang  streitig  machte, 
wenn  auch  nicht  ganz  zu  beseitigen,  so  doch  in  den  Hintergrund  zu 
bringen. 

Aber  auch  die  praktische  Medizin  zog  immer  mehr  ihren 
Nutzen  aus  den  physikalischen  Errungenschaften.  Die  Diagnostik 
sowohl  als  auch  die  Therapie  nahm  ihre  Hilfe  in  zunehmendem  Maße 
in  Anspruch.  Nicht  umsonst  sprechen  wir  seit  langem  von  einer 
„physikalischen  Diagnostik"  und  einer  „physikalischen  Therapie". 
Waren  beide,  besonders  die  letztere,  bis  dahin  fast  ausschließlich  auf 
Empirie  gestellt,  so  erhielten  sie  jetzt  einen  ständig  größer  und  fester 
werdenden  Unterbau.  Auskultation,  Perkussion  und  Mikroskopie, 
später  dann  Photographie,  Endoskopie  und  Ophthalmoskopie  u.  a.  m. 
legen  hiervon  ein  ebenso  beredtes  Zeugnis  ab  wie  die  elektrothera- 
peutischen,  hydrotherapeutischen  und  ähnliche  Maßnahmen. 

Aehnliches  gilt  für  die  Chemie.  Der  Einfluß  ihrer  Lehren  auf 
die  medizinische  Theorienbildung  war  ein  ungeheurer,  bot  freilich  bei 
der  Mannigfaltigkeit  und  der  raschen  Aufeinanderfolge  der  ver- 
schiedenen chemischen  Entdeckungen  ein  unruhiges  Bild,  von  dem 
hier  nur  einige  wenige  Züge  gebracht  werden  können.  So  die  Er- 
klärung der  Verseifungsprozesses  durch  Mich.  EUGifeNE  Chevreul, 
des  Harnstoffes  als  Umwandlnngsprodukt  des  cyansauren  Ammoniaks 
durch  Friedrich  Wühler  1828,  der  Nachweis  Claude  L.  Berthol- 
LETs  (1748 — 1822),  daß  nicht  nur  der  Sauerstoff  Säuren  bilden  könne, 
die  umfassenden  Forschungen  Johann  Jac.  Berzelius'  (1779— 1848) 


400       Ausbau  der  naturwissenschaftlichen  Grundlagen  der  Medizin: 

auf  dem  Gebiete  der  Tierchemie;  seine  Lehre  von  den  chemischen 
Proportionen,  seine  genauere  Bestimmung  der  Atomgewichte  usw., 
die  berühmten  Arbeiten  TUSTUS  LiEBiGs  (1803  — 1873)  und  seiner 
zahlreichen  Schüler.  Von  praktischer  Wichtigkeit  waren  unter 
anderem  die  Mineralwasser- Analysen  Karl  August  Hoffmanns 
(1760—1832)  und  Carl  Gustav  Bischoffs  (1792  — 1846),  die  toxi- 
kologischen Arbeiten  Leopold  Gmelins  (1789 — 1853),  die  Entdeckung 
der  ersten  organischen  Basis,  des  Morphiums  durch  Friedrich 
Wilhelm  Adam  Sertürner  (1783 — 1841)  und  vieler  mehr,  wie 
denn  überhaupt  in  der  Pharmakotherapie  das  chemische  Zeitalter 
außerordentlich  stark  zum  Ausdruck  kam. 


Die  Beziehungen  zwischen  den  Naturwissenschaften  und  der 
Medizin  gestalteten  sich  von  Jahrzehnt  zu  Jahrzehnt  enger.  Mit 
einer  —  man  möchte  fast  sagen  —  zwingenden  Gesetzmäßigkeit 
drängte  die  ganze  Entwicklung  auf  einen  Punkt  hin :  die  Zellular- 
pathologie. Die  bewußte  Ausschaltung  der  philosophischen  Spe- 
kulation aus  der  medizinischen  Forschung  und  deren  Begründung 
auf  naturwissenschaftliche  Methoden  hatten  der  einseitig  humoral- 
pathologischen  Betrachtungsweise  den  Boden  entzogen,  die  Lokali- 
sierung des  Krankheitsprozesses  in  die  einzelnen  Gewebe  war  dann 
die  erste  Etappe  zu  einer  s  o  1  i  d  a  r  pathologischen  Auffassung,  und 
die  Entdeckung  der  Bedeutung  der  tierischen  Zelle  für  alle  Vorgänge 
im  Organismus  war  der  Schlußstein  des  Unterbaues,  auf  dem  die 
neue  Lehre  entstehen  sollte. 

Eine  wichtige  Unterlage  war  naturgemäß  die  verfeinerte  mensch- 
liche und  tierische  Anatomie.  War  auch  der  Bau  des  Menschen- 
körpers im  allgemeinen  und  gröberen  der  Wissenschaft  erschlossen,  so 
gab  es  doch  noch  eine  Unmenge  von  feineren  Lücken  auszufüllen: 
einmal  in  bezug  auf  kompliziertere  Gebilde  wie  die  Sinnesorgane, 
das  Nervensystem,  Gehirn  usw.,  sodann  aber  ganz  generell  hinsicht- 
lich der  feineren  Struktur  der  Einzelteile.  Auch  die  Lage  der  ein- 
zelnen Teile  gewisser  mehr  oder  weniger  in  sich  abgeschlossener 
Bezirke  fand  eine  größere  Beachtung,  die  in  der  Begründung  einer 
„topographischen  Anatomie"  sich  ausdrückte.  Eine  unübersehbare 
Reihe  von  Forschern  war  an  dieser  Kleinarbeit  beteiligt.  Aber 
es  ragen  einzelne  durch  bedeutendere  Leistungen  aus  ihnen  hervor. 
Ein  Schüler  des  berühmten  MORGAGNI  war  ANTONIO  Scarpa  (1747 
— 1832),  der  sich  durch  seine  Untersuchungen  über  Nase  und  Ohr, 
Ganglien,  Nerven  usw.  auszeichnete.  Eines  großen  Rufes  erfreute  sich 
der  Holländer  Ed.  Sandifort  (1742 — 1819)  durch  seine  Studien  über 
Eingeweide   und  Muskeln;  ferner   der   Engländer  John  Bell  (1763 


Botanik,  Zoologie,  Physik,  Chemie,  Anatomie  und  Physiologie.       401 

— 1820)  durch  ein  vortreffliches  Lehrbuch  der  Anatomie.  Auf  dem 
Gebiete  der  vergleichenden  Anatomie  trat  der  aus  einer  deutschen 
GelehrtenfamiHe  stammende  Friedrich  Meckel  der  Jüngere  (i  781 

—  1833)   hervor.      Zu    nennen    sind   noch  JuST,   Chr.   Loder   (1753 

—  1832),  der  Russe  Peter  Zagorsky  (1764 — 1846),  Jules  Ger- 
main Claouet  (1790— 1883)  u.  a.  m. 

An  Bedeutung  übertroffen  wurden  die  meisten  der  genannten 
Anatomen  durch  Jacob  Henle  (1809 — 1865).  Seine  1871 — 1879  er- 
schienene „Allgemeine  Anatomie"  und  „Systematische  Anatomie" 
waren  grundlegende  Werke,  auf  denen  die  heutige  Forschung  noch 
ruht.  Die  zahlreichen  neuen  Entdeckungen,  die  er  machte,  be- 
schränkten sich  nicht  nur  auf  die  normale  Anatomie,  sondern  nicht 
minder  bedeutend  waren  seine  „Pathologischen  Untersuchungen" 
(1840).  Besonders  wichtig  für  die  Folgezeit  wurde  seine  Annahme 
eines  „Contagium  animatum";  bildete  sie  doch  den  ersten  deudichen 
Ansatz  zur  Erkenntnis  der  Rolle,  die  den  Mikroorganismen  bei  dem 
Zustandekommen  übertragbarer  Krankheiten  zukommt. 

Hatte  schon  die  Zeit  um  die  Wende  des  18.  Jahrhunderts  zum 
19.  Jahrhundert  eine  gewaltige  Zahl  von  Anatomen  hervorgebracht, 
so  nahm  diese  im  weiteren  Verlauf  des  letzteren  dauernd  zu.  Um 
nur  die  bedeutendsten  zu  erwähnen,  so  zeichnete  sich  Jos.  Hyrtl 
(181 1  — 1894)  aus  Wien  vor  allem  durch  ein  immer  wieder  neuauf- 
gelegtes „Lehrbuch  der  Anatomie"  und  ein  „Handbuch  der  topo- 
graphischen Anatomie  und  ihrer  praktisch  medizinisch-chirurgischen 
Anwendung"  aus.  Ein  wichtiger  Fortschritt  für  die  Anatomie  war 
die  Erfindung  der  Gefäßinjektion  mit  Karminammonium  und  Gelatine 
durch  Joseph  v.  Gerlach.  Hervorragendes  leisteten  ferner  Natha- 
nael  Lieberkühn  (1822—1887),  Hermann  Welcker  (1822— 1897), 
der  durch  die  Einführung  des  Mikrotoms  die  mikroskopische  Technik 
außerordentlich  förderte,  von  Franzosen  Marie  Philibert  C(^nstant 
Sappey  (1810— 1896)  als  Verfasser  einer  „Beschreibenden  Anatomie", 
Charles  Philippe  Robin  (1821  —  1885)  auf  dem  Gebiete  der  Histo- 
logie u.  a.  m.  Auch  England  hatte  eine  Reihe  namhafter  Anatomen 
aufzuweisen,  wie  George  Gulliver  (1814— 1882),  William  Bow- 
MAN  (18 16  — 1892),  der  neben  vortrefflichen  Leistungen  in  der  Ana- 
tomie auch  als  Physiologe  und  Augenarzt  bedeutend  war.  Zu  den 
Anatomen  ist  schließlich  in  gewissem  Sinne  auch  Franz  Jos.  Gall 
(1758  — 1828)  zu  rechnen,  obgleich  er  seinen  Ruf  einer  ganz  speziellen 
Lehre  verdankt:  der  Kranioskopie  oder  Phrenologie,  von 
ihm  selbst  zunächst  „Organologie"  benannt.  Ausgehend  von  sehr  ge- 
nauen Studien  über  das  Gehirn  und  seine  einzelnen  Teile,  kam  Gall 
zu  der  Auffassung,  daß  dieses  aus  einer  Mehrzahl  voneinander  unab- 
hängiger, nur  örtlich  vereinigter  Einzelorgane  bestehe,  die  hauptsächlich 

Meyer-Steineg  u.  Sudhoff,  Illustr.  Geschicbte  der  Medizin.  26 


402        Ausbau  der  naturwissenschaftlichen  Grundlagen  der  Medizin: 

die  Großhirnrinde  einnähmen.  Sie  seien  jedes  derart  ausgeprägt  in 
seiner  Form,  daß  sie  auch  außen  am  Schädel  an  entsprechenden 
Erhabenheiten  mit  dem  Gesichts-  und  Tastsinn  zu  erkennen  seien. 
Jedes  dieser  Organe  sei  für  eine  bestimmte  psychische  Funktion 
bestimmt,  so  daß  man  an  den  äußeren  Formen  des  Schädels  auf  die 
Zusammensetzung  der  Psyche  schließen  könne.  Diese  Lehre,  die  ja 
in  ihrem  Lokalisationsgedanken  sicherlich  einen  gesunden  Kern  ent- 
hielt, wurde  von  ihm  dann  zu  einem  schematischen  System  ausge- 
staltet, nach  dem  den  27  das  Gehirn  bildenden  Organen  ebenso  viele 


Abb.  197.     Franz  Josef  Gall. 

„Sinne"  entsprechen  sollten,  wie  z.B.  Freundschaftssinn,  Fortpflanzungs- 
sinn, Mordsinn,  Eitelkeitssinn,  Ortssinn,  Kunstsinn,  Nachahmungssinn 
usw.  Das  Neue  in  diesen  Anschauungen  eroberte  ihnen  schnell  einen 
gewaltigen  Anhängerkreis  unter  Laien  und  Aerzten.  Unter  den 
letzteren  gingen  manche  wie  JoH.  Caspar  Spurzheim  (1776 — 1832} 
noch  weit  über  ihren  Meister  hinaus,  wie  denn  überhaupt  die  Phreno- 
logie ähnlich  wie  der  Mesmerismus  zu  einer  wahren  Modekrankheit 
bald  ausartete. 

Auch  auf  dem  Gebiete  der  Physiologie  begegnen  uns  in 
dieser  Zeit  neben  den  zielbewußt  vorwärts  gehenden  Bestrebungen 
derartige  Abirrungen,     Eine   solche   ist   —   trotz   mancher  richtiger 


Botanik,  Zoologie,  Physik,  Chemie,  Anatomie  und  Physiologie.       403 

Gedanken  —  der  sogenannte  Broussaisismus.  Sein  Schöpfer, 
der  Pariser  Professor  Franc.  Jos.  Victor  Broussais  (1772 — 1838), 
hängt  offensichtlich  mit  den  Vitalisten  zusammen.  Wie  diese  nimmt 
auch  er  eine  besondere,  dem  Körper  eigentümliche  Kraft  an,  die 
ihrerseits  erst  in  dem  Organismus  gewisse  chemische  und  physi- 
kalische Vorgänge  auslöse.  Die  Lebenskraft  selbst  aber  bedürfe  zu 
ihrer  Betätigung  äußerer  Reize,  besonders  der  Wärme.  Wenn  diese 
Reize  in  einem  mittleren  Grade  einwirkten,  bestehe  Gesundheit. 
Krankheit  dagegen  beruhe  auf  abnormaler  Stärke  oder  Schwäche 
der  äußeren  Reize,  Und  zwar  treffe  die  Krankheitsreizung,  „Irri- 
tation", in  der  Regel  zunächst  einige  Teile  des  Körpers  und  wirke 
an  diesen  schädigend  auf  die  Empfindungssphäre  oder  rufe  Ver- 
änderungen in  der  Säfteströmung  oder  der  Ernährung  hervor.  Von 
dem  primär  betroffenen  Teile  aus  verbreite  sich  dann  der  krank- 
hafte Reiz  auf  die  Nervenbahnen  durch  eine  Art  „Sympathie".  Ganz 
besonders  bilde  den  weiteren  Ausgangspunkt  die  Schleimhaut  des 
Verdauungskanals  (Magen  und  Darm).  Von  hier  aus  werde  dann 
meist  das  Gehirn  in  Mitleidenschaft  gezogen  —  daher  Kopfschmerz 
und  Schwindel.  Oder  das  Herz  werde  betroffen,  dessen  Irritation 
dann  das  Fieber  erzeuge.  Auch  die  äußere  Haut  stehe  in  ähnlicher 
Weise  mit  der  Magendarm-Schleimhaut  in  Verbindung,  wodurch 
dann  die  Exantheme  (bei  Typhus,  Scharlach,  Masern  usw.)  hervor- 
gerufen würden.  Kurzum:  die  Gastroenteritis  ist  schließlich  letzten 
Grundes  immer  der  Ausgangspunkt  alles  Krankseins;  bei  akutem  in 
einer  akuten  Form,  bei  chronischen  Leiden  als  chronische  Magen- 
darmentzündung. „Die  Erkenntnis  der  krankhaften  Zustände  des 
Magens  ist  der  Schlüssel  der  Pathologie." 

Damit  war  ein  System  geschaffen,  das  in  seiner  Einfachheit  und 
Folgerichtigkeit  geradezu  verblüffend  wirkte.  Dem  entsprach  denn 
auch  die  Therapie,  die  fast  in  jedem  Falle  sich  gegen  die  als  Ur- 
sache angenommene  Gastroenteritis  zu  richten  hatte  und  vor  allem 
in  dem  Setzen  zahlreicher  Blutegel  auf  die  Magen-  und  Unterleibs- 
gegend bestand.  Solche  wurden  daneben  auch  oft  auf  die  sym- 
pathisch miterkrankten  Teile  gesetzt,  wie  z.  B.  auf  die  Gelenke  bei 
Rheuma  und  Gicht,  auf  den  Hals  bei  Krup,  auf  die  Brust  bei 
Phthisis  usw.  Außerdem  spielten  leichte  Diät,  ableitende  Mittel 
der  verschiedensten  Art,  wie  Diuretica,  Emetica  u.  ä.  eine  ge- 
wisse Rolle. 

So  bedeuten  Broussais'  Lehren  keinerlei  Fortschritt,  sie  haben 
im  Gegenteil  durch  das  Bestechende  ihrer  Einfachheit  und  die  be- 
queme praktische  Verwendbarkeit  entschieden  hemmend  gewirkt. 
Der  einzige  Dienst,  den  sie  der  Medizin  geleistet  haben,  bestand  in 
ihrem    ausgesprochenen   Gegensatz    zu  der   damals  in   den   Vorder- 

26* 


404  Begründung  der  Physiologie  als  Naturwissenschaft. 

grund  drängenden  ontologischen  Auffassung,  die  in  der  Krankheit 
ein  besonderes  Wesen  mit  eigenem,  nach  besonderen  Gesetzen  ab- 
laufenden Leben  sehen  wollte. 


Die  Begründung  der  Physiologie  als  Naturwissen- 
schaft.    Magendie,  Bernard,  Johannes  Müller  und 
seine  Schule.     Die  „chemische  Physiologie". 

Es  bedurfte  einer  energischen  Abkehr  von  beiden  Richtungen, 
sowohl  von  der  BROUSSAISschen,  die  im  Grunde  nicht  viel  anderes 
als  ein  modifizierter  Brownianismus  war,  als  von  den  auf  natur- 
philosophischem Boden  erwachsenen  Lehren,  um  die  Medizin  wieder 
auf  die  Bahn  der  naturwissenschaftlichen  Auffassung  zurückzubringen. 
Sehr  wichtig  war  in  dieser  Hinsicht  das  Auftreten  zweier  hervor- 
ragender französischer  Aerzte:  Fran^OIS  Magendie  (1783 — 1855) 
und  Claude  Bernard  (1813 — 1878).  Bei  beiden  ist  der  Einfluß 
BiCHATs  deutlich  erkennbar.  Aber  man  sieht  doch  auch,  daß  sie 
ständig  bemüht  waren,  die  von  diesem  begangenen  Fehler,  die  sie 
als  solche  erkannten,  zu  vermeiden.  Magendies  Grundstandpunkt, 
alle  Erscheinungen  des  Lebens  mit  Ausnahme  der  Nerventätigkeit 
auf  physiologisch-chemische  und  physikalische  Gesetze  zurückzuführen 
und  in  der  Medizin  ausschließlich  die  Erfahrung  unter  Ausschluß 
jedes  Raisonnements  gelten  zu  lassen,  war  ja  an  sich  durchaus  nicht 
neu.  Neu  war  nur  die  Konsequenz,  mit  der  er  ihn  durchführte,  und 
die  ihn  neben  dem  physiologischen  Experiment  und  der  Vivisektion 
auch  das  pathologische  Experiment  bei  seinen  Forschungen  ver- 
wenden ließ.  Dabei  aber  verkannte  er  nicht,  daß  die  Möglichkeit, 
auf  diesem  Wege  in  die  Geheimnisse  des  Lebens  einzudringen,  be- 
grenzt sei,  und  nahm  dort,  wo  diese  Grenzen  begannen,  z,  B.  bei 
der  Erklärung  der  mit  dem  Nervensystem  verknüpften  Vorgänge, 
seine  Zuflucht  zu  dem  im  übrigen  energisch  von  ihm  bekämpften 
Vitalismus. 

Nicht  minder  bedeutend,  wenn  auch  mehr  durch  eine  Reihe 
von  Einzelergebnissen  seiner  Forschung  als  durch  seine  grundsätz- 
liche Stellungnahme  war  Bernard.  Man  braucht  nur  an  die  von 
ihm  angegebene  „Piqure",  an  seine  Erklärung  der  Pankreas- 
funktion,  der  zuckerbildenden  Fähigkeit  der  Leber  u.  a.  m.  zu  er- 
innern. Neben  diesen  beiden  Hauptvertretern  der  Physiologie  gab 
es  in  Frankreich  noch  eine  Menge  Forscher,  von  denen  jeder  in 
seiner  Art  Bedeutendes  auf  diesem  Gebiete  geleistet  hat,  wie  z.  B. 
Brown-Sequard,  Flourens  u,  a.  Auch  England  hat  gleichzeitig 
einige    bedeutende    Physiologen    aufzuweisen,    wie    Charles    Bell 


Magendie,  Bernard,  Johannes  Müller  und  seine  Schule.       405 


(1774 — 1842),  dessen  Namen  in  dem  nach  ihm  genannten  Gesetz  fort- 
lebt. Marshall  Hall  u.  a. 

Der  eigentliche  Mittelpunkt  aber,  in  dem  sich  die  ganzen  Stre- 
bungen sammelten,  und  von  dem  aus  sie  dann  wieder  nach  allen  Rich- 
tungen hin  ausstrahlten, 
wurde  ein  deutscher 
Forscher,  Johannes 
Müller  (1801  — 1858). 
In  seinem  Werdegang 
spiegeln  sich  die  Schick- 
sale wider,  die  die  me- 
dizinische Forschung 
damals  auf  deutschem 
Boden  durchmachte.  Zu 
Beginn  seiner  Studien 
stand  er  noch,  wie  so 
viele  andere,  deutlich 
unter  dem  Einfluß  der 
Naturphilosophie,  ent- 
fernte sich  aber,  je  mehr 
er  sich  der  Hegel- 
schen  Philosophie  an- 
schloß, um  so  weiter 
von  seinen  ursprüng- 
lichen Anschauungen. 
Auf    dem    Höhepunkt 

seiner  Tätigkeit  —  als  Professor  in  Berlin  —  vertrat  er  den  Stand- 
punkt, Beobachtung  und  Versuch  einerseits  und  Philosophie  auf 
der  anderen  Seite  innig  zu  verbinden.  Bald  aber  kam  er  zu  der 
Einsicht,  daß  dies  ohne  Schaden  für  die  ärztliche  Forschung  unmög- 
lich sei  und  ging  dazu  über,  die  beiden  Wissensgebiete  immer 
schärfer  voneinander  zu  trennen  und  in  seinen  medizinischen  For- 
schungen ausschließlich  von  der  Erfahrung  und  Tatsachen  auszu- 
gehen, die  im  Bereiche  der  Natur  nur  durch  das  Experiment  fest- 
gestellt werden  können.  Dieser  Grundsatz  ist  in  seinem  klassischen 
Werke:  „Handbuch  der  Physiologie  des  Menschen"  (1833 — 1840 
erschienen)  in  konsequenter  Weise  mit  glänzendem  Erfolge  durch- 
geführt. Es  ist  eines  der  besten  Bücher  seiner  Art  für  alle  Zeiten 
und  behandelt  die  gesamten  Fragen  der  Physiologie  auf  Grund 
einer  umfassenden  Literaturkenntnis,  noch  mehr  aber  unter  Benutzung 
unzähliger  selbstgeschaffener  Versuchsergebnisse  in  einer  Vollständig- 
keit und  Vollkommenheit,  wie  sie  niemals  vorher  und  kaum  je  nach- 
her erreicht   worden   ist.     War  MÜLLER  auch   nicht  der  Begründer 


Johannes  Müli-er. 


4o6 


Begründung  der  Physiologie  als  Naturwissenschaft  usw. 


der  Experimentalphysiologie,  so  hat  er  ihr  doch  sicherlich  in  vorbild- 
licher Weise  die  Bahnen  gewiesen,  in  denen  sie  dann  unbeirrt  bis  auf 
die  heutige  Zeit  weitergeschritten  ist.  Sein  Wirken  beschränkte  sich 
aber  keineswegs  auf  die  Physiologie ;  seine  Arbeit  „Ueber  den  feineren 
Bau  und  Formen  der  krankhaften  Geschwülste"  war  das  erste  Werk, 
das  die  pathologische  Histologie  in  einer  den  erhöhten  Anforderungen 
entsprechenden  Weise  behandelte  und  damit  für  zahllose  weitere  Ar- 
beiten auf  diesem  Gebiete  zum  Vorbilde  wurde.  Auch  die  normale 
vergleichende  und  pathologische  Anatomie  hat  er  erheblich  gefördert. 
So  kommt  es,  daß  von  den  vielen  hervorragenden  medizinischen 
Forschern,  welche  die  Folgezeit  hervorgebracht  hat,  ein  großer  Teil 
zu  den  Schülern  JOH.  Müllers  zählt,  andere  auch  ohne  dieses  seinen 

Einfluß  sichtlich  erkennen  lassen. 
Bei  der  universalen  Begabung  und 
den  auf  den  verschiedensten  medi- 
zinischen Gebieten  betätigten  Lei- 
stungen ist  der  Kreis  und  das 
Arbeitsfeld  dieser  Leute  außer- 
ordentlich vielseitig.  So  rechnet  zu 
ihnen  beispielsweise  der  bereits  oben 
erwähnte  Entdecker  der  tierischen 
Zelle,  Theodor  Schwann  (s.  S.  397), 
ferner  der  durch  seine  bahnbrechen- 
den Forschungen  über  die  allge- 
meine Muskel-  und  Nervenphysio- 
logie bekannte  Eaiil  du  Bois- 
Reymond  (1818— 1896),  der  unge- 
wöhnlich erfolgreiche  Forscher 
Ernst  Wilhelm  v.  Brücke 
(1819 — 1892),  der  neben  seinen  in 
derselben  Richtung  wie  bei  den  vor- 
hergehenden liegenden  Arbeiten,  auch  in  der  Physiologie  der  Ver- 
dauung, des  Blutes,  ferner  der  physiologischen  Optik  u.  a.  m.  sich 
einen  dauernden  Namen  gemacht  hat.  Auch  W.  Pflüger  (1829 
— 19 10),  der  Begründer  des  „Archiv  für  die  gesamte  Physiologie" 
und  des  nach  ihm  benannten  „Zuckungsgesetzes"  war  ein  Schüler 
JoH.  Müllers.  Vor  allem  aber  war  es  Hermann  v.  Helmholtz 
(1821  — 1894),  der  das  Werk  seines  Lehrers  in  glänzendster  Weise 
dadurch  fortgesetzt  hat,  daß  er  in  Schrift,  Lehre  und  Forschung  bis 
zur  letzten  Konsequenz  die  Anwendung  chemisch -ph3^sikalischer 
Methoden  in  der  Physiologie  durchgeführt  und  diesen  damit  als  den 
einzigen  Grundlagen  ein  für  alle  Male  und  mehr  als  irgendein  an- 
derer zur   Anerkennung   verhelfen   hat.     Hierin  liegt    seine    größte 


Abb.  199.     Emil  du  Bois-Reymond. 


Der  Ausbau  der  Krankheitslehre  durch  Rokitansky  usw. 


40; 


Bedeutung,  wenn  auch  andere  Leistungen  seinen  Xamen  fast  noch 
mehr  bekannt  gemacht  haben.  So  vor  allem  seine  Entdeckung  des 
Augenspiegels,  durch  die  er  der  Ophthalmiatrie  mit  einem  Schlage 
ganz  neue  Bahnen  wies. 

Aber  auch  auf  solche  Forscher,  die  nicht  irgendwie  in  unmittel- 
barem Zusammenhange  mit  Müller  und  seiner  Schule  standen,  hat 
die  ganze  Richtung,  in  welche 
die  Physiologie  durch  jene  ge- 
bracht worden  war,  als  trei- 
bendes Ferment  gewirkt.  Zu 
ihnen  gehören  namentlich  Leute 
wie  Ernst  Heinrich  Weber 
(1785— 1878),  Karl  Ludwig 
(181 6 — 1895)  mit  seinen  bahn- 
brechenden Arbeiten  über  den 
Mechanismus  der  Harnsekre- 
tion, den  Blutdruck  u.  a.  m. 
Auch  das  Ausland  hat  in  dieser 
Epoche  zahlreiche  tüchtige 
Physiologen  hervorgebracht, 
aber  Deutschland  behielt  doch 
ein  entschiedenes  Ueberge- 
wicht.  Nicht  unerwähnt  darf 
bleiben,  daß  bei  einer  ganzen 
Reihe  von  Forschern  die  Nei- 
gung hervortrat,  die  chemi- 
sche Grundlage  der  Physio- 
logie besonders  stark  zu  betonen  und  ihre  Untersuchungen  dem- 
entsprechend in  erster  Linie  hierauf  einzustellen.  Man  kann  bei 
ihnen  geradezu  von  einer  „physiologischen  Chemie"  oder  besser 
„chemischen  Physiologie"  sprechen.  Das  gilt  beispielsweise  für  die 
Arbeiten  Leopold  Gmelins  (1788 — 1853),  den  man  sogar  als  den 
Begründer  der  physiologischen  Chemie  angesprochen  hat;  sodann 
von  Hermann  Fehling  (181  i  — 1885),  vor  allem  aber  von  Felix 
Hoppe-Seyler  (1825— 189.5),  von  dem  eine  ganze  Schule  chemisch 
gerichteter  Physiologen  ihren  Ausgangspunkt  genommen  hat 


Abb.  200.     Herm.  V.  Helmholtz. 


Der  Ausbau  der  Krankheitslehre  durch  Rokitansky. 
Vircho"w  und  die  Zellularpathologie. 

An  diesen  großartigen  Fortschritten  der  allgemein-naturwissen- 
schaftlichen Grundlagen  sowie  insbesondere  der  Anatomie  und  Physio- 
logie  konnte   auch   die  Krankheitslehre   nicht  unbeeinflußt  vorüber- 


4o8  Der  Ausbau  der  Krankheitslehre  durch  Rokitansky. 

gehen.  In  ihr  hatte  sich  —  besonders  seit  Bichat  —  eine  sicht- 
liche Umstellung  angebahnt,  nicht  unähnlich  jener,  die  in  römischer 
Zeit  von  der  alten  hippokratisch-dogmatischen  Humorallehre  zu  der 
solidarpathologischen  Betrachtung  der  Methodiker  geführt  hatte 
(s.  oben  S.  iioff.).  So  war  auch  jetzt  die  durch  Galen  verewigte 
und,  wenn  auch  seit  dem  i6.  Jahrhundert  vielfach  bekämpfte,  so 
doch  nicht  völlig  überwundene  Säftelehre  Schritt  für  Schritt  zurück- 
gedrängt worden.  An  ihrer  Stelle  wuchs  langsam  aber  stetig  eine 
neue  solidare  Anschauung  empor  und  festigte  sich  mit  der  zunehmen- 
den Kenntnis  von  der  Bedeutung  der  Gewebe  und  ihrer  Grund- 
bestandteile für  den  Krankheitsvorgang.  Die  beiden  wichtigsten 
Vorbedingungen  für  die  Begründung  einer  naturwissenschaftlich 
fundierten  Solidarpathologie  waren  gegeben :  Karl  v.  Rokitansky 
(1804— 1878),  ein  glänzender  Vertreter  der  später  noch  zu  behan- 
delnden jüngeren  Wiener  Schule  hatte  die  mit  bloßem  Auge  sicht- 
baren krankhaften  Veränderungen  nach  allen  Richtungen  hin  unter- 
sucht und  zum  ersten  Male  als  eine  der  wichtigsten  Forderungen 
der  Medizin  ausgesprochen,  daß,  grundsätzlich  zur  Beurteilung  der 
Bedeutung  der  klinischen  Erscheinungen  am  Lebenden  der  Sektions- 
befund herangezogen  werden  müsse.  So  waren  die  sichtbaren 
Strukturveränderungen  in  ihrem  Ablauf  und  ihren  Beziehungen  in 
einer  Weise  und  einem  Umfange  erforscht,  wie  nie  zuvor.  Zu  diesem 
großen  Fortschritte  trat  dann  die  Entdeckung  der  tierischen  Zelle 
hinzu;  und  so  ergab  sich  mit  Naturnotwendigkeit  das  Bestreben,  die 
makroskopischen  Befunde  an  der  Leiche  durch  mikroskopische  zu 
ergänzen,  den  Krankheitsvorgang  bis  in  die  kleinsten,  den  mensch- 
lichen Sinnen  zugänglichen  Teile  des  Organismus,  eben  die  Zellen, 
zu  verfolgen.  Diese  Aufgabe  in  glänzendster  Weise  in  Angriff  ge- 
nommen zu  haben,  ist  das  Hauptverdienst  Rudolf  Virchows. 

182 1  zu  Schivelbein  in  Pommern  geboren,  studierte  er  183g  bis 
1843  an  der  Berliner  Pepiniere,  war  Schüler  JOH.  Müllers,  wurde 
in  Berlin  Privatdozent,  siedelte  aber  aus  politischen  Gründen  184g 
als  Professor  nach  Würzburg  über.  1856  zurückgekehrt,  erhielt  er 
in  Berlin  eine  Professur  für  pathologische  Anatomie  und  entwickelte 
dort  fast  fünf  Jahrzehnte  eine  vielgestaltige  Tätigkeit  als  Forscher, 
Lehrer,  Schriftsteller  und  Politiker.     Er  starb  igo2. 

In  seinem  Entwicklungsgange  ist  die  Umwälzung,  die  in  jener 
Zeit  die  Medizin  durchmachte,  klar  erkennbar.  In  seinem  ersten  um- 
fassenderen Werke,  der  1858  erschienenen  „Cellularpathologie  in  ihrer 
Begründung  auf  physiologische  und  pathologische  Gewebelehre"  ist 
noch  deutlich  der  Einfluß  der  humoralpathologischen  Krasenlehre  auf 
der  einen  und  der  vitalistischen  Auffassung  auf  der  anderen  Seite  zu  ver- 
folgen.   Im  Gegensatz  zu  der  letzteren,  die  ja  eine  über  den  ganzen 


ViRCHOW  und  die  Zellularpathologie. 


409 


Körper  verteilte  oder  in  einige  wenige  Organe  verlegte  Lebens- 
kraft annahm,  betrachtet  ViRCHOW  „jedes  Tier  als  eine  Summe 
vitaler  Einheiten,  von  denen  jede  den  vollen  Charakter  des  Lebens 
in  sich  trägt.  Der  Charakter  und  die  Einheit  des  Lebens  kann 
nicht  in  einem  bestimmten  Punkte  einer  höheren  Organisation 
gefunden  werden,  z.  B.  im  Gehirn  der  Menschen,  sondern  nur  in 
der  bestimmten,  konstant  wiederkehrenden  Einrichtimg,  welche  jedes 
einzelne  Element  an  sich  trägt.  Daraus  geht  hervor,  daß  die  Zu- 
sammensetzung eines  größeren  Körpers  immer  auf  eine  Art  von  ge- 
sellschaftlicher Einrichtung  herauskommt;  einer  Einrichtung  sozialer 
Art,  wo  eine  Masse  einzelner  Existenzen  aufeinander  angewiesen 
ist,  aber  so,  daß  jedes  Element 
für  sich  eine  besondere  Tätig- 
keit hat,  und  daß  jedes,  wenn 
es  auch  die  Anregung  zu 
seiner  Tätigkeit  von  anderen 
Teilen  her  empfängt,  doch  die 
eigentliche  Leistung  von  sich 
ausgehen  läßt."  Die  Anwen- 
dung der  Histologie  auf  die 
Physiologie,  die  ihn  zu  dem 
Schluß  führten,  daß  die  „Zelle 
wirklich  das  letzte  eigentliche 
Formelement  aller  lebendigen 
Erscheinungen  sei,  und  daß 
wir  die  eigentliche  Aktion 
nicht  über  die  Zelle  hinaus 
verlegen  dürfen",  wurde  von 
ViRCHOW  nun  in  einer  denk- 
barkonsequenten Weisedurch- 
geführt. In  diesen  Anschau- 
ungen  ist   noch   deutlich  der 

Nachklang  vitalistischer  Ideen  spürbar.  Aber  zugleich  bemerkt 
man  deutlich  das  Bestreben,  sich  von  ihnen  frei  zu  machen  und 
auf  einen  rein  naturwissenschaftlichen  Boden  zu  gelangen.  Und 
dieses  führte  ihn  dann  immer  mehr  dahin,  systematisch  den  ganzen 
Organismus  in  seine  Zelleinheiten  aufzulösen,  die  Struktur  der  Zelle 
mit  ihren  Funktionen  in  Beziehungen  zu  bringen  und  zur  Erklärung 
der  letzteren  alle  physikalisch-chemischen  Kenntnisse  heranzuziehen. 
Wie  sehr  dabei  Virchow  noch  mit  den  Nachwirkungen  alter  Lehren 
zu  kämpfen  hatte,  sieht  man  aus  den  unverkennbaren  Anklängen 
an  humoralpathologische  Ideen  sowie  an  Gedankengänge  HalleRs 
und    Browns.     Aber   mit    dem    Fortschreiten    seiner    Forschungen 


Abb.  201.    Rudolf  Virchow. 


Aio  Der  Ausbau  der  Krankheitslehre  durch  Rokitansky  usw. 

treten  diese  Zusammenhänge  allmählich  in  den  Hintergrund  und 
sind  in  der  Krönung  seiner  Lebensarbeit  nur  noch  bei  genauem 
Hinsehen  aufzuspüren. 

Diese  Krönung  aber  ist  seine  „Zellularpathologie",  d.  h.  die  An- 
wendung seiner  Lehre  auf  die  Erklärung  des  Krankheitsvorgangs. 
Diesen  sieht  er  im  wesentlichen  als  nichts  anderes  an,  wie  als  „Zellen- 
tätigkeit unter  abnormalen  Umständen"  und  findet  seine  Hauptaufgabe 
darin,  die  Strukturveränderungen  in  den  einzelnen  Zellenarten  im 
kranken  Zustande  festzustellen  und  ihren  Ablauf  in  seinen  einzelnen 
Phasen  zu  verfolgen.  Die  Krankheit  erscheint  ihm  somit,  wie  er 
einmal  in  späteren  Jahren  (1895)  prägnant  gesagt  hat,  „als  ein  ver- 
änderter Körperteil  oder,  prinzipiell  ausgedrückt,  als  eine  veränderte 
Zelle  oder  ein  verändertes  Aggregat  von  Zellen  (Gewebe  oder 
Organ)".  Damit  aber  war  eine  ausgesprochen  solidarpathologische 
Theorie  geschaffen,  denn  neben  den  Geweben,  den  „solidae  partes", 
traten  die  Säfte  als  lebenswichtige  Bestandteile  des  Körpers  ganz  in 
den  Hintergrund.  Zweifellos  hat  diese  Betrachtungsweise  äußerst 
segensreich  gewirkt:  Lenkte  sie  doch  von  dem  Suchen  nach  irgend- 
welchen geheimnisvollen  „Kräften"  als  Ursachen  der  Krankheiten 
ab  und  zwang  zu  nüchtern-naturwissenschaftlicher  Beobachtung  mit 
Seziermesser  und  Mikroskop.  Aber  sie  blieb  im  Grunde  genommen 
doch  wieder  eine  einseitige  Theorie;  eine  Theorie  freilich,  die  von 
ihrem  Urheber  selbst  stets  als  solche  betrachtet  worden  ist.  Und 
die  Größe  Virchows  liegt  vielleicht  nicht  zum  kleinsten  Teile  darin, 
daß  er  für  seine  Person  es  mit  Bewußtsein  verschmäht  hat,  auf  seinen 
Lehren  ein  neues  System  im  eigentlichen  Sinne  aufzubauen  oder  auch 
nur  den  Versuch  zu  machen,  die  therapeutische  Entwicklung  zu  be- 
einflussen. 

Eine  ganze  Reihe  von  Schülern  und  Anhängern  ViRCHOWs 
haben  teils  zu  seinen  Lebzeiten  teils  bis  in  die  Gegenwart  hinein 
sein  Werk  in  seinem  Sinne  fortgesetzt  und  ausgebaut,  vor  allem 
sein  Assistent  JUL.  CoHNHEiM  (1839— 1884),  Edwin  Klebs,  Eried- 
RICH  v.  Recklinghausen  u.  a.  m.  Andere  dagegen  haben  die 
Grenzen  seiner  Lehre  verkannt  und  sind  in  ihrer  Einseitigkeit  weit 
über  ihren  Meister  hinausgegangen ;  so  weit,  daß  sie  wirklich  glaubten, 
nun  endlich  das  Wesen  der  Krankheit  durchschaut  zu  haben.  Das 
Krankheitsbild  wurde  völlig  in  die  Zellen  verlegt.  Das  hatte  aber 
einmal  eine  starke  Vernachlässigung  der  nicht  festen  Teile  des 
Körpers  zur  Folge,  andererseits  eine  mindere  Würdigung  der  kli- 
nischen Symptome,  d.  h.  der  bei  der  Beobachtung  bei  lebenden 
Kranken  sichtbaren  Erscheinungen,  Das  führte  weiter  dahin,  daß 
man  sämtliche  Krankheitserscheinungen  als  eine  Einheit  auffaßte  und 
ganz  ihre  verschiedene  Bedeutung  vergaß,  daß  man  die  unmittelbar 


Begründung  der  Bakteriologie.     Henle.    Robert  Koch. 


411 


durch  die  krankhafte  Schädigung  hervorgerufenen  S3^mptome  von 
den  auf  einer  Reaktion  des  Organismus  beruhenden  zu  unterscheiden 
verlernte.  Diese  Tatsache  bedeutete  aber  nicht  nur  einen  theore- 
tischen Fehler,  sondern  hatte  auch  schädliche  praktische  Folgen  da- 
durch, daß  man  vor  einer  Bekämpfung  gerade  der  Vorgänge  nicht 
zurückschreckte,  die,  wie  das  Fieber,  die  wichtigsten  natürlichsten 
Abwehrmaßregeln  des  Organismus  darstellen.     (Antipyretica!) 


Die  Begründung  der  Bakteriologie. 
Henle.     Robert  Koch. 

Die  Zellularpathologie  hatte  in  ihren  Auswirkungen  bei  einem 
großen  Teile  der  Aerzteschaft  das  stolze  Bewußtsein  hervorgebracht, 
daß  man  der  Erkenntnis  vom  Wesen  der  Krankheit  um  ein  gewaltiges 
Stück  näher  gekommen  sei. 
Sehr  bald  aber  tauchte  die 
Frage  auf,  wodurch  denn  die 
Zellenveränderungen,  in  denen 
man  den  Ausdruck  der  Krank- 
heit sah,  ihrerseits  wieder 
bedingt  seien,  mit  anderen 
Worten,  man  merkte,  daß  man 
mit  jener  Erkenntnis  wohl 
den  Krankheitsvorgang  selbst, 
nicht  aber  seine  Ursachen 
zu  erklären  vermochte.  Die 
Entdeckung  des  „contagium 
animatum"  durch  Henle 
{s.  S.  400)  war  ohne  jeden 
Zusammenhang  mit  den 
übrigen  medizinischen  Fort- 
schritten vor  sich  gegangen, 
dagegen      hatte     sie      selbst 

allerlei  Vorläufer  gehabt:  so  die  Erklärung  des  Gärungsprozesses 
durch  die  Auffindung  des  Hefepilzes  (durch  Cagniard  DE  LA  Tour), 
des  Soorpilzes  (durch  JUL.  Vogel),  des  Favus  -  Erregers  Achorion 
(durch  Lucas  Schünlein)  usw.  Hierher  gehören  auch  die  genialen 
Entdeckungen  Louis  Pasteurs  (1822  —  1895),  daß  eine  Entstehung 
von  Pilzen  nur  aus  deren  Keimen  möglich  sei,  und  daß  durch  deren 
Abtötung  mit  Hitze  „Keimfreiheit"  erzeugt  wird.  Aber  erst  die 
HENLEsche  Behauptung,  daß  zahlreiche  Krankheiten  durch  be- 
stimmte   mikroskopisch-kleine    Lebewesen    verursacht    würden,    gab 


Abb.  202.     Louis  Pasteur. 


412  Begründung  der  Bakteriologie.     Henle.     Robert  Koch. 


den  eigentlichen  Anlaß  zum  Ausbau  der  Krankheitsätiologie,  Ein 
Schritt  auf  diesem  Wege  war  die  Auffindung  stäbchenförmiger 
Körper  milzbrandkranker  Tiere  durch  die  Tierärzte  Füllender 
(1849)  und  Brauell  (1855). 

Davaine  gelang  es  sodann,  den  Milzbrand  durch  Ueberimpfung 
von  „Bazillen"  enthaltendem  Blute  auf  andere  Tiere  zu  übertragen. 
Damit  war  bewiesen,  daß  die  Bazillen  eine  ursächliche  Beziehung  zu  der 
genannten  Krankheit  haben  müßten.  Da  aber  Milzbrand  auch  bei 
solchen  Tieren  auftrat,  bei  denen  keine  Bazillen  gefunden  wurden,  da 

sogar  in  dem  Blute  mit  Ba- 
zillen geimpfter  und  an  offen- 
barem Milzbrand  eingegange- 
ner Tiere  oft  keine  Bazillen 
nachzuweisen  waren,  so  war 
der  Beweis  noch  keineswegs 
vollkommen  schlüssig.  Er 
wurde  es  erst  durch  die  Ar- 
beit des  Mannes,  den  man 
mit  Recht  als  den  Begründer 
der  modernen  Bakteriologie 
bezeichnet  hat,  Robert  KoCH. 
1843  in  Klausthal  geboren, 
genoß  er  seine  Ausbildung 
vor  allem  in  Göttingen.  Als 
Physikus  zu  Wollstein  beschäf- 
tigte er  sich  vielfach  mit  dem 
Studium  der  Milzbrand erkran- 
kung  und  kam  auf  Grund 
seiner  Beobachtungen  zu  der 
Ueberzeugung,  daß  in  den 
Fällen  von  Milzbrand,  in  denen 
der  Nachweis  von  Bazillen 
nicht  gelang,  diese  in  einer 
anderen  Form  doch  vorhanden 
sein  müßten.  Diese  Vermutung  bestätigte  sich  durch  die  Entdeckung 
der  „Sporen"  und  der  ihnen  zukommenden  besonderen  Widerstands- 
fähigkeit und  Eigenschaft,  zu  wirklichen  Bazillen  auszuwachsen.  Diese 
Entdeckung  veröffentlichte  er  1876  und  faßte  sie  in  drei  Thesen  zu- 
sammen, welche  eine  feste  Grundlage  für  die  ganze  weitere  Entwicklung 
der  Bakteriologie  bildeten.  Aeußerst  wichtig  war  ferner  die  von  ihm 
zunächst  nur  andeutungsweise  ausgesprochene  Annahme,  daß  die  zum 
Tode  führende  Schädigung  des  tierischen  Organismus  nicht  unmittelbar 
durch  die  Mikroorganismen  selbst,  sondern  durch  die  von  ihnen  aus 


Abb.  203.    Robert  Koch. 


Begründung  der  Bakteriologie.     Henle.    Robert  Koch.  413 

Eiweißkörpern  erzeugten  giftigen  Stoffwechselprodukte  herv^orge- 
rufen  werde.  Ein  weiterer  bedeutsamer  Fund  war  sodann  die  Er- 
kenntnis, daß  nicht  —  wie  man  bisher  angenommen  hatte  —  alle 
Bakterien  gleichwertig  seien  und  eines  in  das  andere  übergehen 
könnte;  daß  es  vielmehr  eine  Menge  biologisch  gänzlich  voneinander 
verschiedener  ^Mikroorganismen  gebe,  daß  jeder  von  ihnen  besondere 
Erscheinungen  im  tierischen  Körper  hervorrufe,  und  daß  jede  auf 
„Infektion"  beruhende  Krankheit  auch  eine  eigene  Art  von  Bakterien 
zur  Ursache  habe.  Dies  alles  legte  er  1878  in  seiner  berühmten 
Schrift  „Untersuchungen  über  die  Aetiologie  der  Wundinfektionskrank- 
heiten" nieder.  1882  glückte  ihm  dann  auf  Grund  der  verbesserten 
mikroskopischen  Hilfsmittel  (Oelimmersion  und  ÄBBEscher  Konden- 
sor) die  Entdeckung  des  Tuberkelbazillus  und  ein  Jahr  später  die  des 
Cholerabazillus.  Auch  andere  Forscher  nahmen  an  diesen  Fort- 
schritten teil;  so  gelang  in  den  Jahren  1879 — 1886  die  Auffindung 
des  Erregers  der  Gonorrhoe  (durch  Xeisser),  der  Lepra  (durch 
Hansen)  u.  a.  m.  Nicht  wenig  trug  hierzu  die  Veröffentlichung 
einer  Schrift  „Zur  Untersuchung  von  pathogenen  ^Mikroorganismen" 
durch  Koch  (1881)  bei,  in  der  die  ganze  Technik  des  bakteriologischen 
Verfahrens  angegeben  war. 

Die  Tragweite  dieser  Neuerungen  beschränkte  sich  keineswegs 
auf  die  Beurteilung  der  Krankheitsursachen  im  engeren  Sinne.  Viel- 
mehr erhielt  die  Krankheitslehre  überhaupt  einen  ganz  neuen  Antrieb, 
der  sie  von  der  allzu  einseitigen  solidaren  Auffassung,  in  die  sie  die 
Vorherrschaft  der  Zellularpathologie  gebracht  hatte,  befreite.  Die 
von  Koch  begründete  Ansicht  von  der  Bedeutung  der  Bakterien- 
Stoffwechselprodukte,  der  sogenannten  Toxine  für  die  Krankheits- 
entstehung wurde  von  anderen  Forschern  erweitert,  indem  sie  fanden, 
daß  als  Ausfluß  eines  dem  Organismus  innewohnenden  natürlichen 
Abwehrbestrebens  sich  nach  stattgehabter  „Infektion"  „Gegengifte" 
im  Körper  bilden.  Diese  vor  allem  von  Behring  (1890)  und  Ehrlich 
(1891)  als  „Antitoxine",  von  Pfeiffer  als  „Bakteriolysine",  von 
Deutsch  als  „Antigene"  bezeichneten  Stoffe  suchte  man  vor  allem 
im  Blutserum  festzustellen.  Dadurch  aber  wurde  unversehens  wieder 
die  Aufmerksamkeit  auf  die  seit  Virchow  stark  vernachlässigten 
Körpersäfte  gelenkt  und  damit  eine  mehr  humorale  Betrachtungs- 
weise von  neuem  eingeleitet.  Gleichzeitig  aber  eröffneten  sich  damit 
ganz  neue  Aussichten  auf  die  vorbeugende  Bekämpfung  und  auf  die 
Therapie  vieler  Krankheiten.  Aussichten,  deren  volle  Erfüllung  zwar 
noch  in  weitem  Felde  steht 


414     Entwicklung  der  praktischen  Medizin.    „Jüngere  Wiener  Schule", 

Die  Entwicklung  der  praktischen  Medizin.  Die 
„Jüngere  Wiener  Schule",  die  Berliner  Kliniker. 
Die  Entwicklung   der  Therapie.     Die  Serumlehre. 

Die  praktische  Medizin  war  inzwischen  einen  Weg  gegangen, 
der  durchaus  nicht  immer  dem  Wechsel  der  Systeme  gefolgt  war. 
Im  Gegenteil  hatte  sich  bei  vielen  Aerzten,  bei  den  einen  bewußt, 
bei  den  meisten  unbewußt,  das  Bestreben  herausgebildet,  in  der  Praxis 
unabhängig  von  den  jeweiligen  theoretischen  Anschauungen  auf  die 
altbewährten  Grundsätze  zurückzugreifen.  Namentlich  ließ  die  un- 
geheuerliche Polypragmasie,  die  vor  allem  infolge  der  fortwährend 
sich  ändernden  theoretischen  Unterlagen  eingerissen  war,  die  Not- 
wendigkeit von  Reformen  dringlich  erscheinen.  An  diesen  nahmen 
auf  der  einen  Seite  eine  Anzahl  von  bedeutenden  Aerzten  teil,  deren 
Bestrebungen  im  übrigen  auf  wissenschaftliche  Forschungen,  nament- 
lich auf  dem  Gebiete  der  pathologischen  Anatomie  gerichtet  waren, 
auf  der  anderen  Seite  solche,  deren  ganze  Neigung  auf  eine  vor- 
wiegende Betonung  der  praktischen  Ziele  der  Heilkunde  gerichtet 
war.  Zu  den  ersteren  gehörten  vor  allem  außer  manchen  bereits 
erwähnten  Männern  die  Franzosen  Gaspard  Laurent  Bayle  (1774 
bis  18 16),  Leon  Jean  Baptiste  Cruveilhier  (1791— 1874),  dann 
der  Wiener  Karl  v,  Rokitansky  (1804— 1878)  u.  a.  m.  Zu  den 
letzteren  Armand  Trousseau  (1801  — 1867),  ein  vortrefflicher  Kli- 
niker und  Diagnostiker,  Jean  Martin  Charcot  (1825 — 1893),  die 
Engländer  Richard  Bricht  (1789— 1858),  Thomas  Addison  (1793 
bis  1860),  William  Stokes  und  manche  andere,  von  denen  eine 
ganze  Reihe  neuer  medizinischer  Tatsachen  erschlossen  wurde. 

Zu  der  zweiten  Gruppe  zählten  in  erster  Linie  eine  Reihe  von 
Anhängern  der  sogenannnten  „jüngerenWiener  Schul  e".  Diese 
war  keineswegs  an  innerer  Geschlossenheit  der  „älteren  Wiener 
Schule"  (s.  S.  350  ff.)  gleich.  Ihre  Entstehung  verdankte  sie  vielmehr 
vorwiegend  dem  mehr  zufälligen  örtlichen  Zusammentreffen  einer 
größeren  Anzahl  hervorragender  Mediziner  in  der  Kaiserstadt  an  der 
Donau,  durch  die  sie  von  neuem  für  einige  Zeit  ein  Mittel-  und  An- 
ziehungspunkt für  die  Aerzte  aus  allen  Teilen  des  In-  und  Auslandes 
wurde.  In  ihr  fanden  sich  deshalb  auch  als  Lehrende  und  Lernende 
Mediziner  mit  den  verschiedenartigsten  Standpunkten  zusammen. 
Aber  doch  erhielt  die  klinische  Seite  der  Heilkunde  allmählich  eine 
vorwiegende  Bedeutung.  Insbesondere  wurde  die  Diagnostik,  die 
sich  bis  dahin  im  wesentlichen  auf  die  von  alters  her  benutzten  Me- 
thoden beschränkt  hatte,  auf  eine  neue  Grundlage  gestellt.  Die 
Wiener  Kliniker  konnten  sich  dabei  auf  einige  wichtige  bereits  vor- 


die  Berliner  Kliniker.     Entwicklung  der  Therapie.     Serumlehre.       415 

handene  Neuerungen  stützen.  So  vor  allem  auf  die  von  AuEN- 
BRUGGER,  Laennec  u.  a.  angegebenen  Verbesserungen  der  physi- 
kalischen Diagnostik  (s.  oben).  An  sie  knüpfte  einer  der  hervor- 
ragendsten Wiener  Aerzte  Joseph  Skoda  (1805  — 188  i)  an  und  er- 
weiterte sie  vor  allem  durch  den  Hinweis,  daß  nicht,  wie  man  bisher 
angenommen  hatte,  die  physikalischen  Erscheinungen  am  kranken 
Organismus   die  Krankheit  selbst  ausmachten,   daß  sie  vielmehr  nur 


^Ļtt.-^ 


Abb.  204.    Jos.  Skoda. 


der  Ausdruck  bestimmter  physikalischer  Zustände  seien,  die  ihrerseits 
erst  wieder  durch  die  krankhaften  Veränderungen  bedingt  seien. 
Dadurch  erhielten  die  Symptome  erst  wieder  die  ihnen  zukommende 
Stellung  in  der  Krankheitslehre,  die  dadurch  gleichzeitig  viel  stärker 
von  der  praktisch-klinischen  als  von  der  theoretisch-naturwissen- 
schaftlichen Seite  betrachtet  würde.  Ueberhaupt  war  die  Stellung 
Skodas  und  mit  ihm  anderer  Wiener  Kliniker  gegenüber  allem  Theo- 
retischen  außerordentlich   skeptisch.     Namentlich   hatte  sie  die   Er- 


4i6     Entwicklung  der  praktischen  Medizin.    „Jüngere  Wiener  Schule", 

fahrung,  daß  auch  schwere  Krankheiten,  deren  Selbstheilung  man 
damals  für  ausgeschlossen  hielt,  ohne  Zutun  des  Arztes  günstig  ver- 
laufen können,  zu  einer  Verwerfung  der  für  unerläßlich  gehaltenen 
und  im  Ueberfluß  angewandten  Aderlässe,  Schröpfungen  und  Arz- 
neien geführt.  Und,  wie  es  dann  zumeist  geht,  verfiel  man  in  das 
andere  Extrem :  in  einen  ausgesprochenen  therapeutischen  Nihilismus. 
So  konnte  Skoda  sagen :  „Wir  können  eine  Krankheit  diagnostizieren, 
beschreiben  und  begreifen,  aber  wir  sollen  nicht  wähnen,  sie  durch 
irgendwelche  Mittel  beeinflussen  zu  können."  Ein  Standpunkt,  den 
auch  viele  andere  Wiener  Kliniker  einnahmen,  wie  z.  B.  Joseph 
DiETL,  dem  das  „abwartende  Verfahren"  als  Inbegriff  aller  klinischen 
Weisheit  erschien.  So  kam  es,  daß  die  zahlreichen  Schüler  und  An- 
hänger, die  insbesondere  Skoda  nach  Wien  zog,  die  ärztliche  Be- 
tätigung mit  der  Stellung  einer  möglichst  exakten,  mit  allen  physi- 
kalischen Mitteln  herbeigeführten  Diagnose  für  im  wesentlichen  be- 
endet ansahen.  Andere  tüchtige  Wiener  Kliniker  versuchten  hin- 
gegen zwischen  den  beiden  schroff  entgegengesetzten  Standpunkten 
—  der  Polypragmasie  und  dem  Nihilismus  —  zu  vermitteln.  Johann 
Oppolzer  (1808  — 1871)  z.B.  und  Adalbert  Duchek  (1824  — 1882), 
letzterer  Skodas  Nachfolger,  verstanden  es,  ihre  wissenschaftliche 
Auffassung  auch  in  ihrer  klinischen  Betätigung  zur  Geltung  zu 
bringen.  Wie  denn  überhaupt  die  späteren  Abkömmlinge  der 
Wiener  Schule,  z.  B.  Otto  Kahler  (1849 — 1895),  Hermann  Noth- 
nagel (1841  -1905)  u.  a.  m.  mehr  zu  den  Traditionen  der  älteren 
Wiener  Zeit  zurückkehrten. 

Ein  zweites  medizinisches  Zentrum  auf  deutschem  Boden  war 
ziemlich  gleichzeitig  in  Berlin  entstanden.  Nicht  in  eigentlichem 
Sinne  eine  Schule  —  wenn  man  auch  der  Einfachheit  halber  von 
einer  solchen  redet.  Viel  mehr  waren  es  die  äußeren  Umstände 
wie  das  allmähliche  Aufblühen  Berlins  zu  einem  politischen  und 
kulturellen  Mittelpunkt,  das  Vorhandensein  der  materiellen  Vor- 
bedingungen für  Forschung  und  Lehre,  die  dort  eine  ständig 
wachsende  Zahl  tüchtiger  Aerzte  teils  heranwachsen  ließen,  teils 
von  überall  her  herbeizogen.  Es  waren  denn  auch  Männer  der 
verschiedensten  wissenschaftlichen  Provenienz  und  ärztlichen  An- 
schauung, die  sich  in  der  preußischen  Hauptstadt  zusammenfanden. 
Gleich  am  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  steht  der  vielgenannte  Name 
Chr.  Wilh.  Hufelands  (1762  — 1836).  seit  1800  königlicher  Leib- 
arzt und  18 10  einer  der  ersten  Professoren  an  der  Universität. 
Sein  Leben  und  Wirken  war  —  ihm  selbst  wohl  wenig  bewußt  — 
ein  deutlicher  Protest  gegen  die  zahllosen  Versuche,  die  Medizin  in 
ein  „System"  zu  pressen.  Seine  umfassende  Bildung,  die  er  nicht 
nur  auf  medizinischem  Gebiete  besaß,  ließen  ihn  klar  die  Unsicherheit 


die  Berliner  Kliniker.     Entwicklung  der  Therapie.     Serumlehre.      417 

der  theoretischen  Grundlegung  der  Heilkunde  erkennen  und  ver- 
anlaßten  ihn  zu  einem  deutlichen  Eklektizismus,  der  nicht  nur  in  den 
in  seinen  eigenen  Schriften  niedergelegten  Anschauungen  zum  Aus- 
druck kam,  sondern  ebenso  in  der  Vorurteilslosigkeit,  mit  der  er 
in  dem  von  ihm  1795  begründeten  „Journal  der  praktischen  Arznei- 
kunde"' Vertretern  der  verschiedensten  Richtungen  einen  Platz  ein- 
räumte. Im  übrigen  lag  seine  Bedeutung  nicht  auf  literarischem 
Gebiete,  obgleich  er  ein  äußerst  fruchtbarer  Schriftsteller  war,  und 
einige  seiner  Schriften,  wie  die  „Makrobiotik",  einen  großen  Leser- 
kreis fanden.  Er  wirkte  vielmehr  vor  allem  durch  seine  praktische 
Tätigkeit  als  Arzt  und  Organisator  und  erfreute  sich  einer  unge- 
wöhnlichen Beliebtheit.  Das  Gleiche  gilt  von  einem  anderen  Berliner 
Praktiker,  dem  unter  dem  Namen  des  „alten  Heim"  weitbekannten 
Ernst  Ludwig  Heim  (1747—1834),  in  dem  sich  ein  gut  Teil  des 
alten  Berlin  verkörperte.  Während  aber  der  Einfluß  dieser  beiden 
Männer  in  erster  Linie  auf  ihrer  praktisch-ärzthchen  Tätigkeit  und 
ihrer  ganzen  Persönlichkeit  beruhte  und  damit  den  Entwicklungsgang 
der  Medizin  selbst  ziemlich  unberührt  ließ,  entfalteten  andere  eine 
vorwiegend  wissenschaftliche  Tätigkeit,  die  nicht  ohne  Wirkung  auf 
den  Gang  der  Heilkunde  blieb.  Zu  ihnen  gehörte  der  schon  er- 
wähnte JOH.  Lucas  Schöxlein  (s.  oben  S.  370)  sowie  eine  Reihe 
seiner  Schüler.  Unter  ihnen  vor  allem  Friedr.  Theodor  Frerichs 
{1809 — 1885),  der  als  Nachfolger  seines  Lehrers  eine  in  jeder  Hinsicht 
wirkungsvolle  Tätigkeit  entfaltete.  Ferner  Ludwig  Traube  (18 18 
bis  1876),  dessen  Werk  „Gesammelte  Beiträge  zur  Pathologie  und 
Physiologie"  einen  bedeutenden  Einfluß  in  der  medizinischen  Literatur 
gewonnen  hat,  und  zahlreiche  andere. 

Aber  auch  außerhalb  dieser  großen  Mittelpunkte  wuchsen  be- 
deutende Kliniker  heran:  so  die  beiden  Schwaben  Karl  Aug. 
Wunderlich  (181 5  1878)  und  Wilh.  Griesinger  (1817  —  1868), 
von  denen  besonders  der  erstere  ein  glänzendes  Lehrtalent  mit  be- 
deutenden Forscheranlagen  vereinigte.  Das  Ausland  nahm  ebenfalls 
an  dieser  Entwicklung  teil  und  brachte  manchen  tüchtigen  Kliniker 
hervor.  Aber  im  weiteren  Verlaufe  des  19.  Jahrhunderts,  namentlich 
in  seiner  zweiten  Hälfte,  übernahm  Deutschland  unstreitbar  die 
Führung. 

Die  selbstverständliche  Folge  des  Ausbaus  der  klinischen  Fächer 
war  auch  eine  Neubelebung  der  therapeutischen  Bestrebungen.  Ob- 
gleich auf  diesem  (jebiete.  auf  das  viele  Forscher  ihr  Augenmerk 
richteten,  eine  Menge  Neues  hervorgebracht  wurde,  so  litt  es  doch 
sichtlich  unter  zweierlei  Tatsachen :  einmal  unter  dem  fortwährenden 
und  schnellen  Wechsel  der  theoretischen  Anschauungen  an  sich, 
sodann   aber        in   fast   noch  höherem  Maße  —  unter  der  von  den 

Meyer-Steineg  n.  Sudhoff,  lllusU.  Geschichte  der  Medizin.  27 


41 8     Entwicklung  der  praktischen  Medizin.    „Jüngere  Wiener  Schule"  usw. 

meisten  modernen  Forschern  immer  wieder  aufgestellten  Forderung, 
daß  jede  Therapie  unbedingt  auf  der  Kj-ankheitslehre  fußen  müsse; 
eine  Forderung,  die  der  Natur  der  Dinge  nach  niemals  erfüllt 
werden  konnte  und,,  wo  sie  einmal  im  einzelnen  erfüllt  wurde,  zu 
solchen  Abirrungen  führte  wie  die  durch  die  einseitige  zellular- 
pathologische Einstellung  veranlaßte  Bekämpfung  des  Fiebers  als 
einer  selbständigen  Krankheitserscheinung. 

Die  zweifellose  Bereicherung,  die  der  Heilschatz  in  der  jüngsten 
Epoche  der  Medizin  erfahren  hat,  beruht  also  weniger  auf  einem 
planmäßigen  Vorgehen  in  enger  Verbindung  mit  der  fortschreitenden 
Krankheitslehre,  als  auf  den  von  verschiedensten  Seiten  herantretenden 
Anregungen,  bei  denen  die  Entwicklung  der  chemischen  Industrie 
keine  geringe  Rolle  gespielt  hat.  Die  neu  eingeführten  Medikamente, 
wie  das  Chinin,  Morphin,  Cocain,  Atropin  und  zahllose  andere  che- 
mische Mittel  haben  sich  das  Feld  der  ärztlichen  Betätigung  erobert 
und  gehalten;  eine  weit  größere  Menge  ist  schneller  als  sie  aufge- 
taucht war,  wieder  außer  Gebrauch  und  in  Vergessenheit  geraten. 
Die  Heilmittellehre  dagegen  ist  in  wissenschaftlichem  Sinne  immer 
weiter  ausgestaltet  worden  und  heute  zu  einem  besonderen  Wissens- 
zweig geworden,  der  sein  eigenes  Leben  innerhalb  der  medizinischen 
Gesamtdisziplin  führt  —  vielleicht  in  höherem  Maße,  als  dies  in  deren 
Interesse  wünschenswert  ist. 

Bemerkenswert  ist,  daß  die  neueste  Zeit  manche  uralte  Be- 
handlungsmethoden wiederaufgenommen  hat,  die,  von  der  wissen- 
schaftlichen Medizin  in  Acht  und  Bann  getan,  nur  noch  in  der  Volks- 
medizin ein  zähes  Leben  fristeten,  und  daß  manche  andere  Maß- 
nahmen, die  heute  einen  wichtigen  Bestandteil  unserer  Therapie  aus- 
machen, zunächst  durch  Laien  verwandt  wurden.  Man  denke  an 
den  Aderlaß,  das  Schröpfen,  an  die  Organotherapie,  die  Wasser- 
anwendung u.  a.  m.  Historisch  interessant  ist  auch  die  Beobachtung, 
daß  heute  —  genau  so  wie  in  ältester  Zeit  —  neben  der  eigentlichen 
Medizin  noch  eine  üppige  Aftermedizin  und  Kurpfuscherei  blüht, 
noch  mehr  aber,  daß  auch  heute  noch  eine  „Tempelmedizin"  besteht, 
und  wie  im  alten  Griechenland  die  Kranken  zu  den  Kultstätten  des 
ASKLEPIOS  strömten,  um  durch  einen  Wunderakt  des  Gottes  Heilung 
zu  finden,  in  unserer  Zeit  zahlreiche  Wallfahrtsorte  durch  verschiedene 
Heilige  den  gläubigen  Wallfahrern  Heilung  spenden  (Lourdes,  Ke- 
velaar  usw.). 

Unter  den  rationellen  nicht  arzneilichen  Maßnahmen,  welche  die 
neueste  Medizin  hervorgebracht  hat,  nimmt  die  Balneo-  und  Klimato- 
therapie  einen  wichtigen  Platz  ein.  Auch  sie  sind  zwar  an  sich 
nicht  etwas  vollkommen  Neues;  denn  auch  die  alte  Medizin  hat  diese 
beide  Faktoren  mit  vollem  Bewußtsein  angewandt  (s.  oben  S.  65  ff.). 


Chirurgie,  Augenheilkunde,  Geburtshilfe  u.  Gynäkologie  im  19.  Jahrh.     41g 

Aber  erst  durch  die  fortgeschrittenen  Kenntnisse  in  der  Chemie 
und  Physik  haben  diese  Behandlungsarten  eine  Unterlage  erhalten, 
die  einen  Ausbau  nach  wissenschaftlichen  Grundsätzen  ermöglichte. 
Selbst  die  modernste  Errungenschaft  der  Heilkunde,  die  Serum- 
therapie, ist  nur  die  Fortsetzung  älterer  Gedanken  (Jenner)  mit 
vervollkommnetem  wissenschaftlichen  Rüstzeug.  Sie  hat  sich  in  den 
letzten  Jahrzehnten  zu  einer  wirklichen  Lehre  entwickelt;  nament- 
lich was  ihre  theoretische  Begründung  anlangt,  wie  sie  etwa  in 
der  EHRLiCHschen  „Seitenkettentheorie"  einen  Ausdruck  fand.  Ist 
auch  noch  unser  Verständnis  des  Vorgangs  der  Immunisierung 
keineswegs  ein  vollständiges,  und  haben  sich  auch  bei  weitem  nicht 
alle  Hoffnungen,  die  man  auf  die  vorbeugende  und  heilende  Wirkung 
der  „Sera"  setzte,  erfüllt,  so  ist  doch  sicher  ein  wichtiger  thera- 
peutischer Weg  angebahnt,  dessen  fernerer  Verlauf  noch  mancherlei 
Wertvolles  für  die  Heilkunde  bringen  kann.  Gleichsam  als  Neben- 
resultat hat  uns  die  Serologie  ein  heute  bereits  unentbehrliches  Hilfs- 
mittel beschert  in  der  Serodiagnostik,  die  durch  Gruber  und  Widal 
angebahnt,  in  der  „WASSERMAXNschen  Reaktion"  einstweilen  einen 
Höhepunkt  erreicht  hat 


Die  Chirurgie,  Augenheilkunde,   Geburtshilfe   und 
Gynäkologie  im  19.  Jahrhundert. 

An  den  mannigfachen  Fortschritten  der  Medizin  hatte  die 
Chirurgie  bis  an  die  Wende  des  18.  zum  19.  Jahrhundert  noch 
immer  in  verhältnismäßig  geringem  Grade  unmittelbar  teilgenommen. 
Erst  mit  der  ständig  inniger  werdenden  Verbindung  beider  trat 
hierin  ein  Wandel  ein.  Dadurch,  daß  von  den  Aerzten  im  all- 
gemeinen auch  eine  möglichst  vollständige  chirurgische  Ausbildung 
verlangt  wurde,  und  die  chirurgischen  Bildungsanstalten  mit  den 
medizinischen  vereinigt  wurden,  fiel  die  letzte  Scheidewand.  Trotz- 
dem blieb  in  der  ersten  Hälfte  des  vergangenen  Jahrhunderts  die 
Chirurgie,  wenn  sie  auch  bedeutende  Vertreter  und  eine  ganze  Menge 
nennenswerter  Einzelergebnisse  zu  verzeichnen  hatte,  ohne  grund- 
sätzliche Fortschritte,  um  dann  freilich  in  der  zweiten  Hälfte  einen  Auf- 
schwung zu  nehmen,  wie  sie  ihn  nicht  seit  der  alexandrinischen  Zeit 
—  selbst  nicht  unter  Par6  und  seinen  Nachfolgern  —  gehabt  hatte. 
Der  Grund  zu  dieser  Entwicklung  lag  in  der  Einführung  oder,  ge- 
nauer gesagt,  Wiedereinführung  dreier  wichtiger  Faktoren:  der  Nar- 
kose, der  Antisepsis  und  der  künstlichen  Blutleere.  Wenn 
man   sich  vor  Augen   hält,  daß  schon   im  Altertum  (s.  oben  S.  94) 

27* 


420     Chirurgie,  Augenheilkunde,  Geburtshilfe  u.  Gynäkologie  im  ig.  Jahrh. 

das  Bedürfnis,  größere  chirurgische  Eingriffe  unter  Betäubung  aus- 
zuführen, zu  dem  Gebrauch  der  Mandragoras  geführt  hatte  und  daß 
sogar  manche  Naturvölker  eine  Art  von  Rauschnarkose  anwenden,  so 
erscheint  es  kaum  faßlich,  daß  man  dieses  wertvolle  Hilfsmittel  in 
der  ganzen  Neuzeit  bis  um  die  Mitte  des  ig.  Jahrhunderts  gänzlich 
entbehren  konnte.  Ein  Zufall  war  es  dann,  der  den  Bostoner  Arzt 
Charles  T.  Jackson  (1805— 1880)  veranlaßte,  die  Einatmung  von 
Schwefeläther  zur  Erzeugung  von  Empfindungslosigkeit  zu  be- 
nutzen. Die  Veröffentlichung  seiner  Versuche  stieß  auf  Unver- 
ständnis, bis  1846  der  Bostoner  Zahnarzt  William  Morton 
und  kurz  darauf  der  Chirurg  John  Collins  Warren  (1778— 1856) 
von  der  „Aetherisation"  Gebrauch  machten  und  damit  ihrer  Ein- 
führung in  die  chirurgische  Praxis  den  Weg  bahnten.  Die  Ersetzung 
des  Aethers  durch  das  1832  von  Liebig  dargestellte  Chloroform  vor- 
genommen zu  haben,  ist  das  Verdienst  des  berühmten  Edinburger 
Gynäkologen  SiR  James  Jüung  Simpson  (181  i- 1870).  Die  Ein- 
führung des  Scopolamins  als  Narkotikums  in  neuester  Zeit  zeigt 
schließlich  deutlich,  wie  oft  in  der  Medizin  das  Neueste  gleichzeitig 
das  Aelteste  ist:  denn  die  wirksame  Substanz  der  Mandragoras- 
pflanze ist  chemisch  dem  Scopolamin  nahe  verwandt. 

An  die  Seite  der  Allgemein- Narkose  ist  seit  der  Entdeckung 
der  empfindungslosmachenden  Wirkung  des  Cocains  die  „Lokal- 
anästhesie" getreten  und  hat  sich  ein  immer  größeres  Gebiet  erobert. 
Auch  diese  Methode  hat  ihre  Vorläufer  gehabt :  so  soll  nach  Plinius 
von  den  Aegyptern  durch  Einreiben  der  Haut  mit  Lapis  memphiticus 
und  Essig  Empfindungslosigkeit  erzeugt  worden  sein.  Sie  beruhte 
auf  der  Wirkung  der  sich  bildenden  Kohlensäure  und  dadurch  her- 
vorgerufenen Kälte.  Auch  heute  wird  ja  eine  derartige  Kälte- 
anästhesie wieder  oft  benutzt.  Die  weitere  Geschichte  der  lokalen 
Betäubung  und  der  sogenannten  „Leitungsanästhesie"  gehört  der 
Gegenwart  an. 

Eine  der  unbegreiflichsten  Rückständigkeiten  ist  die  mangelnde 
Erkenntnis,  daß  bei  der  Heilung  von  Wunden  nichts  so  wichtig  ist, 
als  die  Fernhaltung  aller  Unreinlichkeiten.  Diese  Erkenntnis,  die 
das  Altertum  bereits  in  der  hippokratischen  Chirurgie  durch  ein- 
gehende Vorschriften  über  Reinigung  der  Hände,  des  Operations- 
gebietes usw.,  dann  aber  auch  durch  die  zweckmäßige  Form  der 
leicht  zu  reinigenden  Instrumente  und  schließlich  durch  die  Angabe 
antiseptisch  wirkender  Mittel  betätigt  hat  (s.  oben  S.  6g  f.),  mußte  im 
19.  Jahrhundert  erst  mühsam  wiedererrungen  werden.  Wenn  man 
sieht,  wie  die  Aerzte  noch  in  den  vierziger  Jahren  unbedenklich  von 
einer  Leichenöffnung  sofort  zu  einer  Entbindung  gingen,  wie  infolge- 
dessen   das   Kindbettfieber   zu   einer  ständigen  Einrichtung  aller  ge- 


Chirurgie,  Augenheilkunde,  Geburtshilfe  u.  Gynäkologie  im  19.  Jahrh.     421 


1 


burtshilflichen  Anstalten  gehörte,  wenn  man  ferner  weiß,  mit  welchen 
gehässigen  Widerständen  der  Wiener  Arzt  Igxaz  Philipp  Semmel- 
weis   (18 18 — 1865)   zu   kämpfen   hatte,   der   als  erster  in  der  Ueber- 
tragung   infektiöser   Stoffe   durch   die   Hände   und    Instrumente   der 
Geburtshelfer     die    wahre    Ursache     des    Kindbettfiebers     erkannte, 
so    steht    man     immer    wieder     vor    einem    Rätsel.     Verwunderlich 
bleibt  es  auch,  daß  die  Entdeckung  Pasteurs  (s.  S.  411)  erst  so  spät 
von  der  Medizin  praktisch  fruchtbar  gemacht  worden  ist.    Denn  erst 
im  Jahre  1867   veröffentlichte  der   englische  Chirurg  Joseph  Lister 
(1827 — 191 2)  seine  auf  Pasteurs  Lehren  aufgebaute  Schrift  „On  the 
antiseptic  principle  in  the  practice  of  surgery",  in  der  er  zum  ersten 
Male,  ausgehend  von  dem  Ge- 
danken,   daß    die   in    der   Luft 
enthaltenen   niederen    Organis- 
men  die    eigentlichen  Erreger 
der    Eiterung    seien,    „antisep- 
tische" ^Maßnahmen  zur  Wund- 
behandlung angab.    Schoß  man 
zunächst    auch    mit    der    Ein- 
führung    des     „Karbolsprays", 
durch  den  man  die  ganze  Luft 
im  Operationsraum  mit  Karbol 
schwängerte,      über     das     Ziel 
hinaus,     so     führte     doch     die 
„LiSTERsche         Wundbehand- 
lung" mit  ihren  Desinfektions- 
vorschriften und  dem  „Okklusiv- 
verband"  zum   Ausbau   der  so 
segensreichen  allgemeinen  „An- 
tisepsis".   Wie  diese  dann  zum 
großen  Teile   allmählich  durch 
die,.  Aseptische  Methode"  ersetzt 
wurde,    ist  allgemein   bekannt. 

Die  dritte  wichtige  Errungenschaft  der  modernen  Chirurgie  ver- 
danken wir  Friedrich  v.  Esmarch  (1823  —  1908).  Es  ist  die  so- 
genannte „künstliche  Blutleere",  die  er  durch  Abschnüren  des  zu 
operierenden  Gliedes  oberhalb  des  Operationsgebietes  bewerkstelligte. 
Sie  hat  vor  allem  dadurch  segensreich  gewirkt,  daß  nicht  nur  Ein- 
griffe, die  bis  dahin  wegen  des  hohen  Blutverlustes  mit  mehr  oder 
minder  hoher  Lebensgefahr  verbunden  waren,  ganz  gefahrlos  wurden, 
sondern  daß  sie  auch  in  viel  größerer  Ruhe  und  mit  größerer 
Sicherheit  ausgeführt  werden  können. 

Was  die  Chirurgie  selbst  betrifft,   so   behielt  Frankreich   in 


Abb.  205.     IGNAZ  Phil.  Semmki.wei.- 


42  2     Chirurgie,  Augenheilkunde,  Geburtshilfe  u.  Gynäkologie  im  19.  Jahrh. 


der  ersten  Hälfte  des  verflossenen  Jahrhunderts  entschieden  noch 
seine  beherrschende  Stellung,  und  Paris  die  Stadt,  von  der  die  meisten 
Anregungen  und  Neuerungen  ausgingen,  und  die  auch  die  größte 
Anziehungskraft  auf  die  Chirurgen  der  ganzen  Welt  ausübte.  Um 
nur  die  bedeutendsten  französischen  Chirurgen  zu  erwähnen,  so 
wurde  der  Chefchirurg  Napoleons  I.  Jean  Dominique  Larrey  (1768 
bis  1842)  der  Schöpfer  der  neuen  Kriegschirurgie  und  hat  dieses 
seit  Pare   ins  Stocken   geratene  Gebiet  von  Grund  auf  umgebildet. 

Ein  durch  wissenschaft- 
liche Leistungen  sowie 
durch  praktisches  Können 
ausgezeichneter  Chirurg 
war  ferner  GuiLLAUME 
Dupuytren  (1778  bis 
1835).  Bedeutend,  wenn 
auch  nur  auf  einzelnen 
Sondergebieten,  waren 
ferner  Jaques  Delpech, 
Charles  Gabriel  Pra- 
VAZ,  Auguste  Nelaton 
u.  a.  m. 

In  Deutschland  ist 
zwischen  der  ersten  und 
zweiten  Hälfte  des  1 9.  Jahr- 
hunderts eine  deutliche 
Scheidung  vorhanden.  In 
der  ersten  war  der  Ein- 
fluß Frankreichs  noch 
stark,  und  viele  deutsche 
Chirurgen  haben  einen 
großen  Teil  ihrer  Ausbil- 
dung in  diesem  Lande  ge- 
nossen. Neben  zahlreichen 
Männern  von  mittlerer  Bedeutung  ragen  drei  durch  besondere 
Leistungen  hervor:  Carl  Ferdinand  Graefe  (1787 — 1840),  Johann 
Friedrich  Dieffenbach  (1794— 1847)  "nd  Louis  Stromeyer 
(1804 — 1876).  Der  erste  von  ihnen  vor  allem  bekannt  durch  Wieder- 
aufnahme der  stark  vernachlässigten  plastischen  Operationen,  der  zweite 
durch  Leistungen  auf  dem  gleichen  Gebiete  und  durch  die  von  ihm 
angegebene  subkutane  Tenotomie,  die  ihn  zur  Erfindung  der  Schiel- 
operation hinführte.  Auch  war  er  der  Verfasser  einer  sehr  brauch- 
baren „Operativen  Chirurgie".  Der  dritte,  Stromeyer,  hat  sich  be- 
sondere Verdienste  um  das  Kriegssanitätswesen  erworben. 


Abb.  206.    Joseph  Lister. 


Chirurgie,  Augenheilkunde,  Geburtshilfe  u.  Gynäkologie  im  19.  Jahrh.     423 


Die  zweite  Periode  der  neuen  deutschen  Chirurgie  wird  von 
dem  hervorragenden  Bernhard  Langexbeck  (18 ig  — 1887)  ein- 
geleitet, einem  Manne  von  ausgezeichneter  allgemeiner  Bildung 
und  eingehendsten  Kenntnissen  auf  allen  Gebieten  der  Medizin. 
Er  war  ein  Vertreter  der  mehr  konservativ^  gerichteten  chirurgischen 
Methoden  und  hat  eine  ganze  Reihe  neuer  Operationsmethoden  ange- 
geben. Adolf  Bardelebex  (  i  8  i  9  —  i  895)  machte  sich  vor  allem  durch 
sein  Eintreten  für  die  LiSTERsche  Wundbehandlung  verdient ;  Karl 
Thiersch  (1822 — 1895)  durch  seine  Untersuchungen  über  Wund- 
heilung per  primam  und  über  Transplantationen,  Gustav  Simon 
(1824 — 1876)  durch  seine  Arbeiten  zur  gjmäkologischen  Plastik  und 
zur  Nierenchirurgie.  Theodor  Billroth  in  Wien  (1829  — 1894), 
einer  der  glänzendsten  mo- 
dernen Operateure.  Ver- 
fasser der  „Allgemeinen 
chirurgischen  Pathologie  und 
Therapie",  war  der  Neu- 
schöpfer der  ganzen  Chir- 
urgie des  Kehlkopfes,  des 
Oesophagus  und  der  Bauch- 
eingeweide. Richard  Volk- 
mann (1830— 1889)  schließ- 
lich, einer  der  erfolgreichsten 
neueren  Chirurgen,  kann  den 
Ruhm  für  sich  in  Anspruch 
nehmen,  die  Antiseptik  bis 
zur  Vollkommenheit  ausge- 
staltet zu  haben. 

Auch  England  blieb 
in  der  Chirurgie  nicht  zurück. 
Von  den  zahlreichen  be- 
deutenden Vertretern  dieses 
Faches      sollen      hier      nur 

ASTLEY  Paston  Cooper  (1768 — 1841),  ein  ebenso  vortrefflicher 
Lehrer  wie  Operateur  und  Schriftsteller,  dann  James  Syme  (1799 
—1870),  James  Miller  (1812— 1864),  Jonathan  Hutchinson 
(1828 — 1913)  genannt  werden. 

Zum  ersten  Male  tritt  sodann  Amerika  in  die  Reihe  der 
Staaten,  welche  am  Ausbau  der  Medizin  hervorragend  mitgearbeitet 
haben.  Die  Chirurgen,  die  dort  wirkten,  zeigen  zu  einem  gfroßen 
Teil  einen  besonderen  Wagemut  als  chirurgische  Operateure. 

Die  übrigen  europäischen  Staaten  haben  zwar  auch  an  dem 
Aufschwung   der  Chirurgie  teilgenommen,  jedoch  nur  einzelne  ganz 


Abb.  207.    Bernh.  V.  Langenbkck. 


424     Chirurgie,  Augenheilkunde,  Geburtshilfe  u.  Gynäkologie  im  ig.  Jahrh. 


bedeutende  CHirurgen  hervorgebracht  So  Rußland  vor  allem  Nicolai 
IWANOWITSCH  PiROGOFF  (1810 — 1881)  einen  in  jeder  Weise  eben- 
bürtigen Mediziner  und  glänzenden  Operateur.  Die  skandinavischen 
Länder  haben  das  Verdienst,  die  Orthopädie  zu  einem  besonderen 
Fach  ausgebildet  zu  haben. 

Die  Augenheilkunde  erhielt,  wie  bereits  oben  (S.  407)  kurz 
erwähnt  wurde,  einen  gewaltigen  neuen  Antrieb  durch  die  Er- 
findung des  Augen- 
spiegels. Mit  seiner 
Hilfe  gelang  es,  mit 
einem  Schlage  statt 
der  vagen  Begriffe 
des  „schwarzen  Stars", 
der  „Amblyopie"  usw. 
Diagnosen  von  einer 
Sicherheit  zu  stellen, 
wie  sie  auf  anderen 
Gebieten  der  Medizin 
nicht  immer  zu  er- 
reichen ist.  Auch  er- 
wies er  sich  als  ein 
geeignetes  Mittel  zur 
objektiven  Bestim- 
mung der  Refraktion. 
Bereits  einige  Jahr- 
zehnte vorher  hatte 
die  Augenheilkunde 
begonnen,  sich  immer 
mehr  als  Sonderfach 
von  der  Chirurgie  ab- 
zuzweigen. Das  Haupt- 
interesse wandte  sich 
der  Behandlung  des  „grauen  Stars"  zu,  die,  seitdem  die  von  Antyllos  im 
Altertum  versuchte  Linsen extraktion  vergessen  war,  in  immer  wieder- 
kehrenden Versuchen  medikamentöser  Beeinflussung  und  dem  „Star- 
stich" bestand.  Dem  ersten  Versuche  einer  Zerstückelung  der  Linse 
durch  Hornhautstich  (W.  H.  JUL.  Buchhorn  181  i),  „Keratonyxis" 
genannt,  folgte  durch  den  Wiener  Friedr.  Jaeger  (1784— 187  i)  die 
Ausziehung  des  Stars  mittels  oberen  Hornhautschnittes  und  schließ- 
lich die  „lineare  Extraktion"  durch  den  bedeutendsten  Augenarzt  der 
Neuzeit  überhaupt:  Albrecht  v.  Graefe  (1827  — 1870).  In  ihm 
spiegelt   sich   der  Aufschwang  der  Augenheilkunde  am  deutlichsten 


Abb.    208.      ASTLEY    COOPER. 


Chirurgie,  Augenheilkunde,  Geburtshilfe  u.  Gynäkologie  im  19.  Jahrh.     425 

wider.  Die  erste  Anregung  zu  ihr  erhielt  er  durch  Ferdinand 
V.  Arlt  in  Prag,  dann  weiter  von  Louis  Auguste  Desmarres  in 
Paris,  George  Critchett  in  London  und  Frans  Cornelis  Don- 
ders  in  Utrecht,  von  denen  ein  jeder  in  seinem  Heimatlande  ein 
Hauptvertreter  des  neu  aufstrebenden  Faches  war.  1850  nach  Berlin 
zurückgekehrt,  benutzte  er  mit  Eifer  die  Erfindung  des  Augen- 
spiegels zu  einer  völligen  Umgestaltung  der  ganzen  Ophthalmologie, 
begründete  1854  das  „Archiv  für  Ophthalmologie"  und  wurde  1866 
ordentlicher  Professor.  Im  Alter  von  42  Jahren  erlag  er  1870  der 
Phthise.  Eine  außerordentliche  Zahl  von  Schülern  Graefes  haben 
dann  die  neuen  Errungenschaften  ihres  Faches  in  alle  Welt  getragen, 
und  der  Einfluß  seines  Schaffens  reicht  bis  in  die  heutige  Zeit  hinein. 
Die  Erfindung  des  Ophthalmoskops  hat  dann  erheblich  dazu 
beigetragen,  daß  auch  andere  Teile  der  Medizin  sich  als  Sonder- 
fächer ausbildeten,  indem  die  Prinzipien  desselben  verwandt  wurden, 
um  auch  für  andere  Organe  optische  Untersuchungsinstrumerite  zu 
schaffen.  Jedenfalls  verdanken  die  Ohren-,  Nasen-  und  Kehlkopf- 
heilkunde mittelbar  der  HELMHOLTZschen  Erfindung  eine  entschiedene 
Förderung.  Nicht  weniger  auch  die  Untersuchung  der  Körperhöhlen 
Blase,  Magen  usw.)   durch   besondere  Instrumente  (K3'stoskop  u.  a.). 


In  der  Geburtshilfe  und  Frauenheilkunde  nahm  die  Ent- 
wicklung einen  im  ganzen  gleichmäßigeren  Verlauf,  als  in  den 
übrigen  Fächern  der  Medizin.  Zu  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  ge- 
wann der  der  Wiener  Schule  entstammende  Lucas  Johann  Boer 
(175 1 — 1835)  durch  Uebertragung  der  Grundsätze  dieser  Schule  auf 
die  Geburtshilfe  und  Frauenheilhunde  große  Bedeutung,  indem  er 
vor  allem  dem  gar  zu  draufgängerischen  Verfahren  einen  mehr 
exspektativen  Standpunkt  entgegensetzte.  In  dieser  Hinsicht  ähnlich 
verfuhr  Franz  Karl  Naegele  (1778— 185  i),  der  die  Lehre  vom 
schräg  verengten  Becken  wesentlich  verbessert  hat.  Als  eigentlicher 
Begründer  der  modernen  Geburtskunde  g^ilt  vielen  der  durch  seine 
pathologisch  -  anatomischen  Arbeiten  bekannte  Franz  Kl  wisch 
V.  Rotterau  (18 14— 1852),  während  C.vRL  Siegm.  Fr.vnz  Crede 
(18 19 — 1892)  in  Leipzig  besonders  durch  sein  Verfahren  zur  Pla- 
centar-Entfernung  bekannt  wurde.  Der  weitere  Gang  der  Gynä- 
kologie und  Geburtshilfe  verkörpert  sich  namentlich  in  fünf  Namen : 
Semmelweis,  Simpson,  Wells,  Sims  und  Schröder.  Die  Trag- 
weite der  Entdeckung  Se.\lmelweis'  wurde  bereits  besprochen  (oben 
S.  421).  Mit  ihrer  allgemeinen  Anerkennung  war  mit  einem  Schlage 
eines  der  Haupthindernisse  der  Geburtshilfe  beseitigt  Eine  zweite 
Etappe    war    die   Einführung    der   Narkose    durch    James    Youxg 


^^26  Das  Aerztewesen  in  der  neuesten  Zeit. 

Simpson  im  Jahre  1847,  die  die  Anwendung  auch  solcher  Eingriffe 
ermöglichte,  welche  man  ohne  sie  kaum  vornehmen  konnte.  Von 
dieser  Möglichkeit  machte  ein  Landsmann  Simpsons,  der  Londoner 
Thomas  Spencer  Wells  (18 18 — 1897)  in  weitestem  Umfange  Ge- 
brauch, indem  er  die  ganze  Bauchchirurgie  in  modernem  Sinne  aus- 
baute und  unter  anderem  zum  ersten  Male  die  Ovariotomie  ausführte. 
Der  New  Yorker  Arzt  Marion  Sims  {1813— 1883)  hat  durch  seine 
Erfindung  des  nach  ihm  benannten  Rinnenspekulums,  ganz  besonders 
aber  durch  seine  Vaginaloperationen  und  Anwendung  von  Silber- 
drahtnähten die  Gynäkologie  bedeutend  gefördert.  Karl  Schröder 
(1838  —  1887)  schließlich  hat  als  Operateur,  Schriftsteller  und  besonders 
als  Lehrer  außerordentlich  segensreich  gewirkt. 

Was  die  Abgrenzung  und  Entwicklung  der  weiteren  Spezial- 
fächer anlangt,  so  erinnert  die  ganze  Entwicklung  außerordentlich 
an  diejenige  der  römischen  Kaiserzeit  (s.  oben  S.  148).  Der  Sonder- 
behandlung einzelner  Organe,  wie  der  Ohren,  der  Nase,  des  Kehl- 
kopfes, der  Lungen,  der  Geschlechts-  und  Harnorgane  sind  im  Laufe 
der  letzten  Jahrzehnte  in  immer  zunehmendem  Umfange  auch  be- 
sondere spezialistische  Heilverfahren  gefolgt.  Doch  ist  der  Verlauf 
dieser  Entwicklung  einstweilen  noch  so  wenig  abgeschlossen,  daß 
eine  historische  Darstellung  über  das  Ziel  dieses  Buches  hinaus- 
gehen würde. 


Das  Aerzte"wesen  in  der  neuesten  Zeit. 

Das  durch  die  ganze  Neuzeit  in  immer  gesteigertem  Maße  hin- 
durchgehende Streben,  die  Medizin  zu  einer  wirklichen  Wissenschaft 
auszubauen,  ist  nicht  ohne  Rückwirkung  auf  die  Gestaltung  des 
Aerztewesens  geblieben;  allerdings  hat  auch  umgekehrt  die  Regelung 
der  ärztlichen  Verhältnisse,  insbesondere  des  medizinischen  Unter- 
richts, einen  gewissen  Einfluß  auf  jene  Tendenz  ausgeübt.  Die 
Medizin  sollte  auf  der  einen  Seite  eine  erlernbare  Wissenschaft  sein, 
die  jedem,  der  ihre  Grundsätze  beherrschte,  deren  praktische  An- 
wendung beim  Kranken  ermöglichte;  aber  auf  der  anderen  Seite 
mußte  auch  das  Aerztewesen,  wenn  es  diese  Aufgabe  lösen  sollte, 
dementsprechend  gestaltet,  der  Unterricht  mußte  auf  dieses  Ziel  ein- 
gestellt und  die  ganze  Organisation  so  eingerichtet  werden,  daß  der 
Arzt,  der  einmal  seinen  vorgeschriebenen  Ausbildungsgang  hinter 
sich  hatte,  möglichst  ungestört  und  mit  möglichst  befriedigendem 
Erfolge  seinem  Berufe  obliegen  konnte. 

Der  medizinische  Unterricht  —  der  eigentliche  Angelpunkt  alles 
ärztlichen  Seins  und  Handelns  —  wurde  entsprechend  und  im  Sinne 


Das  Aerztewesen  in  der  neuesten  Zeit.  427 

der  Auffassung  der  Heilkunde  als  Wissenschaft  weitergebildet ;  aber 
durchaus  nicht  in  allen  Ländern  in  gleicher  Weise.  Am  kon- 
servativ^sten  erwies  sich  in  dieser  Hinsicht  England.  Dort  hielt 
sich  mangels  staatlicher  Regelung  die  Gepflogenheit,  daß  die  meisten 
jungen  Leute,  die  Aerzte  werden  wollten,  sich  zunächst  für  ein  Jahr 
einem  praktischen  Arzte  anschlössen,  um  von  ihm  in  die  Grundlagen 
der  Krankenbehandlung  eingeführt  zu  werden.  Andere  benutzten 
hierzu  ein  Krankenhaus.  Erst  dann  gingen  sie  zu  einer  medizinischen 
Fachschule  über.  Solche  hatten  sich  ohne  alles  Zutun  des  Staates 
lediglich  aus  dem  Bedürfnis  heraus  an  vielen  Orten  entwickelt,  an 
denen  ein  größeres  Krankenhaus  Gelegenheit  zum  Lernen  bot.  Die 
verschiedenen  an  einer  solchen  Anstalt  tätigen  Aerzte  hatten  sich 
dann  in  der  Weise  zusammengeschlossen,  daß  ein  jeder  einen  be- 
stimmten Teil  der  Heilkunde  lehrte.  Soweit  ein  Fach  von  keinem 
unter  ihnen  vertreten  werden  konnte,  zogen  sie  Hilfskräfte  herbei, 
die  namentlich  für  den  theoretischen  Teil  des  Unterrichts  zu  sorgen 
hatten.  So  wuchsen  sich  diese  Einrichtungen  zu  ärztlichen  Lehr- 
anstalten mit  bestimmten  Lehrplänen  aus,  wobei  aber  die  einzelnen 
Schulen  ganz  und  gar  individuell  verfuhren  und  somit  die  größten 
Abweichungen  voneinander  zeigten.  Die  Alehrzahl  der  jungen  Aerzte 
schloß  ihren  ganzen  Lehrgang  an  einer  derartigen  Fachschule  ab, 
die  dann  in  der  Regel  durch  ein  Diplom  die  ihnen  zuteil  gewordene 
Ausbildung  bestätigte.  Nur  wenige  von  den  werdenden  Aerzten 
wandten  sich  einer  Universität  zu,  und  auch  diese  weniger  zum 
Zwecke  einer  besseren  Vorbereitung  für  ihren  Beruf,  als  vielmehr 
des  äußeren  Ansehens  wegen,  das  ihnen  dadurch  verliehen  wurde. 
Es  fehlte  auch  an  fast  allen  Universitäten,  mit  Ausnahme  der 
schottischen,  an  geeigneten  Instituten  für  den  medizinischen  L'^nter- 
richt  und  ebenso  an  einer  besonderen  Aerztefakultät,  die  sich  dessen 
hätte  annehmen  können.  Die  Folge  war,  daß  die  Ausbildung  der 
Aerzte  außerordentlich  ungleichartig,  und  daß  persönliche  Anlage 
zum  Beruf  das  Entscheidende  war.  Natürlich  blieb  es,  da  der  Staat 
sich  in  keiner  Weise  um  diese  Dinge  kümmerte,  nicht  aus,  daß  viele 
gänzlich  ungeeignete  Leute  als  Aerzte  auftraten. 

Die  hierdurch  hervorgerufenen  Mißstände  veranlaßten  aber  erst 
im  Jahre  1858  das  englische  Parlament,  auf  gesetzgeberischem  Wege 
ein  „Medical  act"  zu  erlassen,  in  dem  die  Zulassung  zur  ärztlichen 
Praxis  zwar  nicht  von  bestimmten  Voraussetzungen  abhängig  ge- 
macht, sondern  nur  bestimmt  wurde,  welche  Körperschaften  das 
Recht  haben  sollten,  über  die  von  ihnen  abgehaltenen  ärztlichen 
Prüfungen  gültige  Zeugnisse  auszustellen.  Diese  Zeugnisse  be- 
rechtigten ihren  Inhaber  zur  Erlangung  ärztlicher  Beamtenstellen 
und  ermöglichten  ihnen  die  Einklagung  von  Honoraransprüchen,  die 


428  Das  Aerztewesen  in  der  neuesten  Zeit. 

allen  nicht  legitimierten  Heilkundigen  versagt  war.  Ueber  die  auf 
diese  Weise  anerkannten  Aerzte  wurde  ein  Register  vom  „General 
Council  of  medical  education  and  registration  of  the  United  Kingdom" 
geführt,  das  gleichzeitig  über  das  ganze  medizinische  Unterrichts- 
und Prüfungswesen  eine  Aufsicht  ausübte. 

Aber  auch  diese  Einrichtung  bewährte  sich  auf  die  Dauer  nicht. 
Trotzdem  dauerte  es  über  zwanzig  Jahre,  bis  der  Staat  sich  zu  weiteren 
Maßnahmen  entschloß.  Im  Jahre  1881  berief  man  eine  Kommission 
zur  Neuordnung  des  medizinischen  Unterrichts.  Das  Ergebnis  ihrer 
Beratungen  war  jedoch  im  wesentlichen  ein  negatives.  Man  ver- 
kannte zwar  nicht  den  Nutzen  einer  nach  festen  Grundsätzen  ge- 
regelten ärztlichen  Ausbildung  und  Prüfungsordnung,  stellte  dem- 
gegenüber aber  die  Vorzüge  einer  gewissen  Freiheit  der  einzelnen 
in  Betracht  kommenden  Instanzen  so  in  den  Vordergrund,  daß  so 
ziemlich  alles  beim  alten  blieb. 

Im  allgemeinen  sind  somit  die  englischen  Verhältnisse  auch  heute 
noch  denen  des  verflossenen  Jahrhunderts  sehr  ähnlich,  wenn  sich 
auch  die  früher  teilweise  über  jedes  zuträgliche  Maß  hinausgehenden 
Verschiedenheiten  zwischen  den  Ausbildungsanstalten  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  ausgeglichen  haben.  Aber  das  wichtigste  Moment 
ist  unverändert  bestehen  geblieben:  die  medizinischen  Schulen  Eng- 
lands sind  nach  wie  vor  private  Unternehmungen,  die  zwar  die  Be- 
rechtigung haben,  den  ganzen  ärztlichen  Unterricht  durchzuführen, 
aber  nicht  die  Befugnis  besitzen,  Prüfungen  abzuhalten  und  Berech- 
tigungszeugnisse zur  Ausübung  des  ärztlichen  Berufes  auszustellen. 
Dieses  Recht  steht  vielmehr  ausschließlich  den  oben  genannten 
Korporationen  zu.  Im  übrigen  ist  der  ganze  Unterricht  in  diesen 
Schulen  vorwiegend  auf  das  Endziel,  das  Bestehen  der  Prüfung, 
abgestellt  und  läßt  nur  einen  bescheidenen  Raum  für  wissenschaft- 
liche Bestrebungen  um  ihrer  selbst  willen. 

Diese  finden  ihre  Pflege  ausschließlich  an  den  Universitäten,  die 
ja  übrigens  ebenfalls  keine  staatlichen,  sondern  private  Einrichtungen 
sind  und  nicht  bloß  dem  Unterricht,  sondern  ebenso  sehr  der  all- 
gemeinen Erziehung  dienen.  Die  Zahl  der  medizinischen  Dozenturen 
ist  verhältnismäßig  gering  und  umfaßt  vor  allem  die  theoretischen 
Fächer,  von  denen  besonders  der  Anatomie  und  Physiologie  viel 
Aufmerksamkeit  zugewandt  wird. 

Die  Voraussetzung  für  das  medizinische  Studium  ist  eine  gewisse 
allgemeine  Vorbildung,  über  die  sich  der  Studierende  durch  eine 
Prüfung  zuvor  auszuweisen  hat,  die  in  mancher  Hinsicht  mit  dem 
deutschen  Maturitätsexamen  zu  vergleichen  ist.  Der  ärztliche  Unter- 
richt selbst  ist  auch  auf  den  Universitäten  trotz  deren  wissenschaft- 
lichen  Stellung    sehr    stark    auf    das    praktische   Endziel   abgestellt. 


Das  Aerztewesen  in  der  neuesten  Zeit. 


429 


Die  ärztlichen  Prüfungen  werden  von  den  verschiedenen  vom  Staate 
bezeichneten  Korporationen  abgehalten,  in  deren  Auswahl  der  Prüf- 
ling unbeschränkt  ist.  Die  verschiedenen  Examin ationsbehörden 
stellen  aber  verschiedene  Zeugnisse  aus.  So  verleiht  z.  B.  das 
Londoner  „R.  College  of  Physicians"  das  Prädikat  eines  „Member 
of  the  R.  C.  of  Ph."  oder  eines  „Fellow  of  the  R.  C.  of  Ph."  Diese 
Titel  können  auch  ohne  Prüfung  an  geeignete  Persönlichkeiten  ver- 
liehen werden.  Die  Universitäten  sind  allein  befugt,  akademische 
Grade  zu  verleihen.  Deren  Voraussetzung  ist  vielfach  die  vorherige 
Erlangung  einer  akademischen  Würde  in  der  philosophischen  Fakultät. 
So  wird  z.  B.  in  Oxford  nur  nach  Erfüllung  dieser  Bedingung  der 
Grad  eines  „Bachelors  of  medicine"  verliehen,  der  zur  Ausübung  der 
ärztlichen  Praxis  berechtigt.  Der  Doktor-  sowie  andere  Titel  werden 
zumeist  erst  nach  mehrjähriger  praktischer  Berufstätigkeit  auf  Grund 
einer  neuen  Prüfung  verliehen. 

In  Schottland  und  ganz  besonders  in  Edinburg  sind  die  Ver- 
hältnisse etwas  anders.  Namentlich  ist  dort  die  Verbindung  zwischen 
den  medizinischen  Fakultäten  und  den  Universitäten  eine  engere. 

In  ganz  anderer  Weise  hat  sich  in  Frankreich  das  Aerzte- 
wesen entwickelt.  Zur  Zeit  der  großen  Revolution  gab  es  im 
Grunde  genommen  nur  zwei  bedeutende  ärztliche  Zentralen:  Paris 
und  Montpellier,  die  beide  auf  eine  Jahrhunderte  alte  glänzende 
Tradition  zurückblicken  konnten.  Daneben  bestanden  noch  eine 
ganze  Reihe  medizinischer  Schulen  ohne  jede  wissenschaftliche  und 
praktische  Bedeutung.  Im  Jahre  1790  befaßte  sich  das  Parlament 
mit  der  Frage  einer  Neuordnung  des  Aerztewesens,  insbesondere 
des  medizinischen  Unterrichts,  kam  aber  über  Vorschläge  nicht 
hinaus.  Das  Gesetz  vom  18.  August  1792,  das  alle  Universitäten, 
medizinischen  Schulen  usw.  aufhob,  brachte  einen  gewaltigen  Rück- 
schritt mit  sich,  der  sich  sehr  bald  in  der  mangelhaften  Versorgung 
des  Landes  mit  brauchbaren  Aerzten  äußerte.  Dieser  machte  sich 
besonders  fühlbar  bei  der  Armee  und  gab  zu  einem  Gesetz  vom 
4.  Dezember  1794  Veranlassung,  durch  das  in  Paris,  Montpellier  und 
Straßburg  je  eine  medizinische  Schule  (Ecole  de  sante)  neuerrichtet 
wurde,  in  denen  vor  allem  Militär-  und  Marineärzte  ausgebildet 
werden  sollten.  1796  wurde  die  Pariser  Schule  dann  weiter  aus- 
gebaut und  erhielt  12  Lehrkanzeln;  1798  wurden  ihr  eine  Ecole  pra- 
tique  angegliedert,  und  die  Kliniken  neu  ausgestattet.  So  hob  sich 
dann  die  Zahl  der  Studierenden  schnell.  Der  Unterricht  war  unent- 
geltlich, der  Studiengang  geregelt  und  erhielt  seinen  Abschluß 
mit  einer  Prüfung,  zu  der  aber  eine  Verpflichtung  nicht  bestand. 
Erst  1803  machte  man  die  Ausübung  der  Praxis  von  dem  Bestehen 
eines  Examens  abhängig,  in  dem  Anatomie,  Physiologie,  Pathologfie, 


^30  Das  Aerztewesen  in  der  neuesten  Zeit. 

Nosologie,  Materia  medica,  Pharmazie,  Hygiene,  Geburtshilfe,  Chirurgie 
und  innere  Medizin  geprüft  wurden.  Die  in  dieser  Weise  vorgebil- 
deten Mediziner  bildeten  die  eigentlichen  Aerzte,  die  außerdem  noch 
das  Doktordiplom  erwerben  konnten.  Daneben  wurde  eine  Kate- 
gorie niederer  Heilkundiger,  der  „Officiers  de  sante"  geschaffen,  die 
hauptsächlich  an  den  praktischen  Schulen  vorgebildet  wurden  und 
in  erster  Linie  für  die  Landbevölkerung  sowie  zur  Hilfeleistung 
für  die  richtigen  Aerzte  bestimmt  waren.  Die  Fakultäten  konnten 
außer  dem  Doktortitel  noch  das  Baccalaureat  und  das  Lizentiat  ver- 
leihen. 

Im  Jahre  1823  wurde  die  Pariser  medizinische  Fakultät  neu 
organisiert,  erhielt  23  ordentliche  Professuren  und  36  Agreges.  Bis 
in  die  siebziger  Jahre  blieb  dann  der  Zustand  ziemlich  im  verändert. 
Seit  1877  gab  es  in  Frankreich  7  medizinische  Fakultäten.  Da- 
neben bestanden  18  Ecoles  preparatoires,  die  teilweise  die  gleichen 
Funktionen  wie  die  Fakultäten  haben,  aber  im  Gegensatz  zu  diesen 
keine  Staats-,  sondern  munizipale  Anstalten  sind.  Das  medizinische 
Stadium  hat  zur  Voraussetzung  ein  Zeugnis  über  eine  Ausbildung, 
die  ungefähr  derjenigen  auf  deutschen  Gymnasien  entspricht.  Die 
Studienzeit  wurde  auf  4  Jahre  festgesetzt,  war  aber  nicht  in  Semester, 
sondern  in  Kurse  von  je  2 — 3  Monaten  geteilt,  die  sich  auf  alle 
Teile  der  Medizin  und  Naturwissenschaften  erstrecken  und  sowohl 
theoretische  wie  praktische  Fächer  umfassen.  Seit  1878  wurden 
5  Prüfungen  eingeführt:  die  erste  über  Physik,  Chemie  und  Natur- 
geschichte fand  am  ersten  Jahresschluß  statt,  die  zweite  über  Ana- 
tomie, Histologie  und  Physiologie  im  dritten  Jahre,  die  dritte  Prüfung 
betraf  allgemeine,  spezielle  und  chirurgische  Pathologie,  Geburtshilfe 
und  Chirurgie.  Das  vierte  Examen  fand  über  Hygiene,  gerichtliche 
Medizin,  Therapeutik,  Pharmakologie  statt,  und  das  letzte  bestand  in 
der  Untersuchung  und  Behandlung  von  Krankheitsfällen  in  den  ver- 
schiedenen Kliniken  und  in  der  Ausführung  einer  Sektion.  Durch 
die  Einreichung  einer  Dissertation  wurde  dann  schließlich  der  Doktor- 
titel erworben. 

Die  straffe  Ausgestaltung  des  medizinischen  Unterrichts  sowie 
des  gesamten  übrigen  Aerztewesens  hat  in  Frankreich  im  letzten 
Viertel  des  vergangenen  Jahrhunderts  die  soziale  und  gesellschaft- 
liche Stellung  der  Aerzte  außerordentlich  gehoben  und  in  mancher 
Hinsicht  vorbildliche  Verhältnisse  geschaffen.  Freilich  sind  auch 
dem  französischen  Aerztestande  Kämpfe  nicht  erspart  geblieben. 
Sie  richteten  sich  auf  der  einen  Seite  vor  allem  gegen  die  Officiers 
de  sante,  die  bis  in  die  neueste  Zeit  sich  als  eine  niedere,  aber  in 
mancher  Hinsicht  gleichberechtigte  Klasse  von  Aerzten  erhielten, 
auf  der  anderen  Seite   gegen   das   üppig   blühende  Kurpfuschertum. 


Das  Aerztewesen  in  der  neuesten  Zeit. 


431 


In  Oesterreich-Ungarn  hat  sich  die  Entwicklung  des 
Aerztewesens,  die  mit  der  Berufung  VAX  Swietens  nach  Wien 
ihren  Anfang  genommen  hatte,  auch  im  19.  Jahrhundert  fortgesetzt, 
wenn  auch  nicht  ohne  Unterbrechungen.  Auf  die  durch  Josef  11. 
in  sehr  freiheitlichem  Sinne  durchgeführten  Reformen  folgte  im 
Jahre  1786  eine  Reaktion,  durch  die  man  versuchte,  die  eben  über- 
wundene Scheidung  zwischen  der  Medi2in  und  Chirurgie  von  neuem 
herzustellen.  Mit  dem  Beginn  des  19.  Jahrhunderts  beschäftigte  sich 
der  Staat  wieder  eingehender  mit  ärztlichen  Fragen.  Die  Studien- 
zeit wurde  1804  auf  5  Jahre  festgesetzt,  von  denen  die  drei  ersten 
der  theoretischen,  die  letzten  der  praktisch-klinischen  Ausbildung 
dienen  sollten.  Der  Studienplan  wurde  18 10  erweitert  und  insofern  fes- 
tgelegt, als  für  die  einzelnen  Semester  bestimmte  Vorlesungen  vorge- 
schrieben wurden.  Die  Bedingungen  für  die  Abschlußprüfung,  auf 
Grund  deren  die  Approbation  erteilt  wurde,  wurden  verschärft  Der 
Doktortitel  mußte  durch  eine  Dissertation,  Anfertigung  zweier  Kranken- 
geschichten und  eine  besondere  Prüfung  erworben  werden.  Die  An- 
forderungen an  diejenigen,  welche  den  Titel  eines  Magisters  der  Chir- 
urgie erwerben  wollten,  waren  geringer.  Im  Jahre  1845  folgten  neue 
Reformen,  die  vor  allem  den  Lehrkörper  betrafen,  und  1849  kam  ein 
Gesetz,  nach  dem  die  ärztlichen  Unterrichtsangelegenheiten  in  die 
Hände  der  Professorenkollegien  der  einzelnen  Fakultäten  gelegt 
wurden.  Die  im  Verhältnis  zur  Einwohnerzahl  geringe  Anzahl  von 
medizinischen  Fakultäten  —  nicht  alle  Universitäten  besaßen  eine 
solche  —  brachten  eine  starke  Ueberfüllung,  namentlich  der  Wiener, 
mit  sich.  Seit  1872,  wo  nochmals  die  Prüfungsvorschriften  revidiert 
wurden,  gab  es  in  Oesterreich-Ungarn  nur  noch  eine  einzige  Klasse 
von  Aerzten. 


In  Deutschland,  d.  h.  in  den  deutschen  Kleinstaaten  vor  der 
Gründung  des  Reiches,  waren  die  Verhältnisse  der  Aerzte,  entsprechend 
dem  Partikularismus,  in  mancher  Hinsicht  verschieden,  trotzdem  die 
meisten  sich  an  das  Vorbild  der  beiden  deutschen  Großmächte, 
Preußen  und  Oesterreich,  anschlössen.  Medizinische  Fakultäten  be- 
standen in  Bayern  an  den  Universitäten  zu  Würzburg,  Erlangen  und 
Landshut,  an  dessen  letzteren  Stelle  1826  München  trat;  in  Württem- 
berg zu  Tübingen,  in  Sachsen  zu  Leipzig,  in  Hannover  zu  Göttingen, 
in  Baden  zu  Heidelberg  und  Freiburg,  in  Mecklenburg  zu  Rostock, 
in  Hessen  zu  Gießen  und  Marburg,  in  den  sächsichen  Herzogtümern 
zu  Jena.  In  Bayern  wurde  durch  einen  Erlaß  vom  Jahre  1808 
angeordnet,  daß  ärztliche  Praxis  nur  auf  Grund  bestimmter  Prüfungen 
ausgeübt  werden  dürfe.    Das  Studium  dauerte  3  Jahre,  danach  folgten 


432 


Das  Aerztewesen  in  der  neuesten  Zeit. 


2  Jahre  praktischer  Ausbildung;  dann  mußte  das  Examen  abgelegt 
werden,  das  erst  zur  Ausübung  des  Berufes  berechtigte.  1843  wurde 
<jine  Neuordnung  vorgenommen.  Nach  dieser  ging  dem  eigentlichen 
medizinischen  Studium  ein  zweijähriges  über  Naturwissenschaften 
voraus.  Eine  weitere  Veränderung  fand  durch  die  Prüfungsordnung 
von  1858  statt.  Sie  bestimmte,  daß  nach  dem  ersten  Studienjahre 
eine  Prüfung  über  die  naturwissenschaftlichen  Fächer  abgehalten 
wurde,  nach  weiterem  vierjährigen  Fachstudium  dann  eine  zweite 
Prüfung.  Darauf  folgte  ein  praktisches  Jahr  und  nach  diesem  erst 
die  Staatsprüfung. 

In  Preußen  wurde  1825  eine  vollständige  Neuorganisation  des 
Aerztewesens  vorgenommen,  die  allerdings  in  den  wesentlichen 
Punkten  den  Zusammenhang  mit  der  Medizinalordnung  von  1725 
noch  erkennen  ließ.  Man  unterschied  mehrere  Arten  Heilkundiger: 
promovierte  Aerzte,  Wundärzte  i.  Klasse  und  Wundärzte  2.  Klasse, 
Das  Studium  der  ersteren,  das  nur  an  einer  Universität  erfolgen 
konnte,  hatte  das  Bestehen  des  Abiturientenexamens  eines  Gymnasiums 
zur  Voraussetzung  und  dauerte  4  Jahre.  Seit  1826  bestanden  folgende 
Prüfungen:  das  Tentamen  philosophicum  über  Logik,  Psychologie 
und  Naturwissenschaften,  das  Tentamen  medicum  und  Examen 
rigorosum  über  alle  medizinischen  Unterrichtsgegenstände  (es  be- 
rechtigte zur  Promotion)  und  die  Staatsprüfung,  deren  Bestehen  die 
Befugnis  zur  Praxis  gab.  Für  die  Wundärzte  wurden  geringere 
Anforderungen  gestellt;  namentlich  konnten  sie  einen  Teil  ihrer  Aus- 
bildung an  besonderen  medizinisch-chirurgischen  Lehranstalten,  in 
Krankenhäusern  usw.  erwerben.  Für  den  öffentlichen  Sanitätsdienst 
—  als  Physikus  oder  forensicher  Wundarzt  —  wurden  besondere 
Prüfungen  vorgeschrieben.  Nach  dem  Gesetz  von  1852  fielen  dann 
die  Unterschiede  zwischen  den  verschiedenen  Aerztekategorien  fort, 
1861  trat  an  die  Stelle  des  Tentamen  philosophicum  das  Tentamen 
physicum ;  eine  Tatsache,  die  auch  äußerlich  zu  erkennen  gab,  daß 
man  die  naturwissenschaftliche  Fundierung  der  Medizin  ein  für  allemal 
als  die  einzig  richtige  anerkannte.  Ein  wichtiges  Ereignis  für  das 
preußische  und  später  deutsche  Aerztewesen  war  die  Gründung  der 
Berliner  Universität  18 10,  bei  der  sich  dann  aus  dem  Collegium 
medico-chirurgicum  eine  medizinische  Fakultät  entwickelte.  Die 
Verbindung  der  1795  geschaffenen  militärärztlichen  Bildungsanstalt 
mit  der  Universität  war  von  großer  Bedeutung  für  das  Militär- 
sanitätswesen. Das  Jahr  1871  brachte  dann  endlich  die  lange  er- 
sehnte Einheitlichkeit  auch  für  die  Organisation  des  Aerztewesens 
in  allen  deutschen  Staaten.  Die  Approbation  wurde  zur  alleinigen, 
aber  unumgänglichen  Voraussetzung  der  ärztlichen  Berufsausübung 
gemacht,   der   ganze   Studiengang   und   das  Prüfungswesen   in    dem 


Das  Aerztewesen  in  der  neuesten  Zeit.  433 

Sinne  geregelt,  wie  sie  —  mit  wenigen  Ausnahmen,  wie  z.  B.  Ein- 
führung des  „praktischen  Jahres"  —  noch  heute  Gültigkeit  haben. 
Inzwischen  aber  haben  gerade  die  letzten  Jahrzehnte  so  erhebliche 
Veränderungen  in  der  Medizin  und  den  äußeren  Verhältnissen  des 
Aerztestandes  mit  sich  gebracht,  daß  die  Notwendigkeit  einer  gründ- 
lichen Neuregelung  von  allen  Seiten  anerkannt  wird. 

Das  gilt  in  besonderem  Maße  von  den  ärztlichen  Standes- 
verhältnisseq  im  engeren  Sinne.  Diese  haben  vorzugsweise  in 
Deutschland  im  Verlaufe  des  letzten  halben  Jahrhunderts  eine  Ent- 
wicklung genommen,  ganz  ähnlich  wie  sie  die  Aerzte  vom  Ende 
der  römischen  Republik  bis  zu  den  Erlassen  der  oströmischen  Kaiser 
durchgemacht  haben.  Die  Gewerbeordnung  von  i86q  nimmt  zwar 
noch  ausdrücklich  den  ärztlichen  Beruf  von  denjenigen  Betätigungen 
aus,  die  als  Gewerbe  zu  betrachten  sind,  und  rechnet  ihn  unter  die 
freien  Berufe,  eine  Auffassung,  die  ganz  und  gar  derjenigen  der 
römischen  Zeit  entspricht.  Nichtsdestoweniger  hat  sich  die  Tätigkeit 
des  Arztes  immer  mehr  zu  einem  „Brotberufe'"  ausgebildet,  der  sie 
in  zunehmender  Weise  einem  wirklichen  Gewerbe  annähert.  In  viel 
stärkerer  Weise  ist  dies  seit  dem  Indieerscheinungtreten  der  Sozial- 
gesetzgebung der  Fall  gewesen»  die  das  ganze  Aerztewesen  in  seiner 
äußeren  Gestaltung  wie  in  seiner  inneren  Verfassung  stark  beeinflußt 
hat  und  immer  noch  beinflußt.  Die  an  sich  ganz  richtige  Voraus- 
setzung des  Staates,  daß  eine  ausreichende  ärztliche  Versorgung  der 
unbemittelten  Bevölkerungsteile  zu  seinen  wichtigsten  sozialen  Auf- 
gaben gehöre,  hat  ganz  ähnlich  wie  in  der  römischen  Kaiserzeit 
auch  in  der  Neuzeit  die  Aerzte  zu  Objekten  dieser  Bestrebungen 
gemacht  und  für  sie  Verhältnisse  geschaffen,  die  mit  der  ursprüng- 
lichen Auffassung  des  ärztlichen  Berufes  zum  Teil  in  heftigem  Wider- 
streit stehen.  Bis  dahin  galt  der  Arzt  allgemein  als  eine  Person,  zu 
der  man  auf  Grund  persönlichen  Vertrauens  in  Beziehungen  trat; 
eine  Tatsache,  die  in  der  Einrichtung  des  „Hausarztes"  ihren  Aus- 
druck fand,  der  nicht  nur  im  Krankheitsfalle  auf  besonderes  Ansuchen 
zu  seinen  Patienten  kam,  sondern  diesen  aus  freien  Stücken  dauernd 
unter  gesundheitlicher  Beobachtung  hielt  und  seine  Aufgabe  in  mög- 
lichster Verhütung  von  Krankheiten  sah.  Diese  Einrichtung  ist  in 
den  letzten  Jahrzehnten  fast  völlig  ausgestorben.  Die  Hauptursache 
liegt  zweifellos  darin,  daß  mit  der  immer  wachsenden  Anzahl  der 
in  Krankenkassen  zusammengeschlossenen  Personen  und  der  da- 
durch —  auch  bei  sogenannter  freier  Arztwahl  —  bedingten  ständig 
zunehmenden  Mechanisienmg  der  ärztlichen  Tätigkeit  für  ein  derartiges 
Vertrauensverhältnis  kein  Platz  mehr  geblieben  ist;  ferner  darin,  daß 
die  ärztliche  Tätigkeit  immer  mehr  zu  einer  vertraglichen  und  entgelt- 
lichen Leistung  geworden,  und  die  einzelne  Leistimg  durch  die  ge- 

M  eyer- Steincg  u.  Sudhoff,   Illu<:tr.  Clcnchichtc  der   Medizin.  2JJ 


434  ^^^  Aerztewesen  in  der  neuesten  Zeit. 

ringe  Bezahlung  in  ihrem  Werte  herabgedrückt  worden  ist.  Ob 
diese  ganze  Entwicklung  schließlich  zu  einer  vollkommenen  Ver- 
beamtung  des  Aerztestan des .  führen  wird,  ist  nicht  vorauszusagen. 
Doch  möge  darauf  hingewiesen  sein,  daß  es  in  der  der  unserigen  so 
ähnlichen  römischen  Epoche  zu  dieser  äußersten  Konsequenz  nicht 
gekommen  ist,  trotz  der  Schaffung  von  außerordentlich  vielen  ärzt- 
lichen Beamtenstellen, 

Eine  andere,  ebenfalls  zum  Vergleiche  mit  der  Vergangenheit 
herausfordernde  Entwicklung  ist  die  stets  zunehmende  Spezialisierung 
des  ärztlichen  Berufes.  Auch  diese  Erscheinung  scheint  ganz  zwangs- 
läufig mit  dem  Gange  der  Medizin  verknüpft  zu  sein.  Ihre  Ursachen 
liegen  zu  einem  großen  Teil  in  dem  bei  zunehmender  medizinischer 
Kultur  sich  ständig  mehr  aufsammelnden  Stoffe.  Man  vergleiche 
auf  der  einen  Seite  nur  die  Hippokratischen  mit  den  Galenischen 
Schriften,  auf  der  anderen  die  Literatur  des  18.  Jahrhunderts  mit  der 
modernen,  um  den  gewaltigen  Unterschied  zu  erkennen.  Das  Un- 
vermögen des  einzelnen,  dies  gesamte  Gebiet  der  Heilkunde  mit 
seinem  fortwährend  wechselnden  und  sich  vermehrenden  Wissensstoff 
zu  umfassen,  hat  nicht  nur  einzelne  Forscher  zu  einer  spezialistischen 
Beschäftigung  mit  einzelnen  Teilen  der  Medizin  getrieben,  sondern 
veranlaßt  auch  mehr  und  mehr  die  Aerzte,  ihre  Berufsausübung  auf 
ein  umgrenztes  Gebiet  zu  beschränken.  Und  so  hat  sich,  ebenso 
wie  im  kaiserlichen  Rom,  ein  Spezialistentum  ausgebildet,  das  bei 
weiterem  Umsichgreifen  dieser  Tendenz  schließlich  zu  einer  voll- 
kommenen Auflösung  der  Medizin  führen  muß.  Man  muß  nur  ein- 
mal die  beweglichen  Klagen  einiger  einsichtiger  Aerzte  und  die 
Spottverse  mancher  Dichter  der  römischen  Kaiserzeit  mit  den  Aeuße- 
rungen  der  Jetztzeit  vergleichen,  um  zu  sehen,  daß  offenbar  mit 
einer  gewissen  Gesetzmäßigkeit  auch  in  der  Medizin  unter  ähnlichen 
Bedingungen  ähnliche  Erscheinungen  auftreten;  wie  denn  ja  über- 
haupt die  Geschichte  der  Medizin  uns  zeigt,  daß  auch  im  Bereiche 
dieses  Wissenszweiges  die  Entwicklung  nicht  in  stetig  aufsteigender 
Linie  vor  sich  geht,  sondern  in  einer  sich  langsam  erhebenden 
Spirale,  deren  einzelne  Punkte  oft  wieder  nahe  an  vorherige  zurück- 
kehren. 


Register. 


Absonderungshaus  267, 
Absperrungshäuser  233. 
Abstammungslehre  398. 
Abwehrsystem   234. 
Abu'l  Qäsim    159,    162,   201, 

209,  218,   224,  271. 
Academia    Hippocratica    155, 

181. 
Accorso  247. 

Achillini,  Alessandro  238. 
Acquapendente,     Fabrici     ab 

290,  313- 
Adamatus    178. 
Addison,  Thomas  413. 
Aderlaß  246,  253,  270. 
Aderlaß-Instrumente    10. 
Aderlaßmann  246. 
Aderlaßtafel  254. 
Aegidius     Corboliensis      193. 

212,  213,  214,  220,  259. 
de  aegritudinum  curatione  190. 
Aegj^ptische  Tage  176. 
Aetios   153,   182,  269,  296. 
Aerzte,  deutsche  251. 

—  babylonische  20. 

—  geistliche  386. 
Aerztegilde   179. 
Aerzteschulen  30,  57  ff. 

—  babylonische  21. 
Aerztesklaven   100  ff. 
Aerztestand  103  f.,  155,  165  f., 

174,    178,    204,    208,    235, 
337  ff.,  385  ff.,  42b  ff. 

Aerztesteuer  51. 

Aerztetaxe,    babylonische   2 1 . 

Aerztezunft  49  f. 

Afflacius   189. 

Agathinos    1 29. 

Aggretator  Brixiensis  228. 

—  Paduanus  230. 
Agilon,  W.  213. 
Akademie  in  Florenz  268,  270. 
Academia   nova  Hetruscorum 

270. 
Alanus  von  Lille   194. 
Albert    Graf    von     Bollstädt 

(A.   der   Große)    221,   222, 

227. 
Alchvine  176. 

Aldebrandino  von  Siena  234. 
Alessandro  Achillini  238. 


Alexander  Severus   146. 

—  de  observationediaetae  206. 
„Alexander  Yatros"  153,  174. 
Alexandreia    151,    153,     154, 

237,  251. 
Alexandros  Philalethes  170. 

—  von    Tralleis     153,     173, 
185,  251. 

Alfanus   185. 
"^Ali  ben  'Isä   158. 
'Ali  ibn  al  'Abbäs   156,   160, 
187. 

—  ibn  Ridhwän   207. 
Alkmaion  von  Kroton  48. 
Alkoholverband  208. 
Allgemeintherapie   127. 
Alpago,  Andrea  270. 
Alraunwurzel  94,   131. 
'Ammär   158. 
Ammonios  94. 
Amulettkranz   17. 
Analytische  Methode  362. 
Anatomia    194,    224,  237.  — 

Nicolai   196.  —  parva  194. 
—  Richardi    196.  —  vivo- 
rum   195. 
Anatomie,     menschliche     92, 
196,  236  ff. 

—  tierische  92,  196  ff. 

—  topographische  401. 

—  Reformation  der  280-  291. 
Anatomische  Forschung    142, 

143,  280  ff. 
Anatomisches    Theater     236, 

340. 
Anatomische         Zeichnungen 

238  ff. 
Anaxagoras  49. 
Andreas  von  Karystos   94. 
Aneurysmen-Operation   131. 
Anima  343. 
Animismus  361. 
Antidotarien   181,    195,  231. 
Antidotarium  Nicolai  (Salerni- 

tanum)   182,   192,  255. 
Antigene  413. 
Antisepsis  419  f- 
Antitoxine  413. 
Antoniterhaus  267. 
Antoninus  Pius  146. 
„Antrorarium"   181,  182. 


Anthimus  172,  175. 
Antyllos    130,   152,   154. 
ApoUonios  von  Kition   94. 
Apotheke  163. 
Approbation,    ärztliche     146, 

204,  337.  432- 

Apuleius  (Pseudo-),  Lucius, 
Platonicus  169,  171,  259, 
262. 

Arabismus  250. 

Arabistik,  Auswüchse  249. 

Arabische  Kultur  in  Sizilien 
186. 

Aranzio  300. 

Archagathos  loi. 

Archäus   275,  318. 

Archiater   82,   148. 

Archigenes   129,   152. 

Archimatthaeus  182,  190,  201. 

Archipoeia   179. 

Areopagita,  Dionysios  268. 

Areiaios   132,  251. 

Ai^ellata,  Pietro  d'  291. 

Argenterio,  Giovanni  302. 

Aristippus,  Henricus  247. 

Aristoteles  77  f.,  138,  151, 
i6o,  162,  164,  207,  221, 
222,  226,  234,  247,  251, 
259,  268,  274,  302,  306. 

Aristotelesbrief  (an  Alexander 
d.  Gr.)  206,  227,  234. 

Armengaud,  Sohn  des  Blaise 

214. 

'  Amald    von    Villanova,    der 

Katalane      (,^mold      von 

i      Montpellier")      205,      214, 

I      215.    216,    256,    258,   266, 

308. 

Articella   187,  158. 

Arzneimittelbcreitung,  chemi- 
sche 208. 

Arzneimittelkunde  97. 
I  Arznei  Wirkung  141. 

Afaf,  der  Jude  156. 
I  Aselli  314. 
1  Asepsis    14,   131,  384. 
;  Asklcpiaden  49,  55. 

Asklepiades     von     Bitbynien 

107,  359. 
I  Asklepieion  44,  48,  53  f.,  105. 
I  Asklepios  43,  49,  152,  155. 

28' 


436 


Register. 


Astronomie  22. 

Athen  151. 

Athenaios  129,   152,  185. 

Attalos  von  Pergamon  98. 

Auenbrugger  351,  415. 

Augenheilkunde  300. 

—  der  Aegypter  37. 

—  in  Salerno  203,  204. 
Augenspiegel,  Entdeckung  des 

407. 

Augustinus   169,  247. 

Auguxtus   102. 

Aurelius-Escolapius    1 74. 

Aurispä   249. 

Ausbildung  von  Operateuren 
201. 

Auscultatio  65,    133,  399. 

Ausdünstungen,  giftige  62. 

Autoritäten-Verehrung  252. 

Autoritätenstreit  271. 

Autoritas  252. 

Avendehut  206. 

Averroes  226. 

Averroismus  251. 

Avenzoar   162,  215,  259. 

Avicenna  158,  159,  162,  163, 
164,  186,  195,  209,  218, 
222,  227,  228,  231,  256, 
258,  261,  269,  270,  271, 
278,    280,    283,    300,    303, 

304- 
Avicennista  insignis  270. 

Bacon,  Francis  {of  Verulam) 
305.  306,  307.  308.  312. 

—  Roger  221,  222,  248,  308. 
Bäder,  Dampf-  und  Schwitz- 

II. 
Bagdad   156. 
Bafiellardi,  Paolo  255. 
Baglivi,  Giorgio  324. 
Bale^con  de  Tharanle  217. 
Bamberger  Chirurgie  200. 
Barbiere  389. 

Barthez,  Paul  Jos.    361,  392. 
Basileios  der  Große   155. 
Basiliäs  155. 
Bartholomaeus,  Magister  183, 

189. 
Bartisch,  Georg  301. 
Battista  da  Rapollo  291. 
Baudelocque,  Jean  Louis  383. 
Bauchhernie  in  der  Narbe  211. 
Bauchmuskelzeichnung  246. 
Baverio  230. 

Bayle,  Gaspard  Laurent  413. 
Beamtete  Aerzte   »47  f.,  208. 
Becken  298. 
Beda  176. 

Beer,  Georg  Josef  382. 
Behorchung  33,  65. 
Behring  413. 
Bell,  Charles  404. 

—  John  400. 


Bellini  290. 

Bencio  Ugo  230,  248. 

Benedetti  da  Legnano,    Ales- 

sandro  238. 
Benediktinerorden   172. 
Benedictus  Crispus  174. 
Benevent  173,  180. 
Benevenuto  Graffeo  203,  204. 
Benivieni  268,  269,  270. 

—  Antonio  238,    296. 
Benvengut  de  Salem  204. 
Berengario    da  Carpi,   Jacopo 

238. 
von  Beris,  Johann  292. 
Bernardus  Alberti  217. 
Bernard,  Claude  403. 
Bernhard,  der  Proveneale  212. 

—  (von)  Gordon  (de  Gordonio) 
211,  214,'  215,  216,  259. 

—  aus  der  Provence  193,  202. 
Bernhardus  211. 
Bernouilli  342. 

Bertalia  226. 
Bertuccio  237. 
Besichtigung  33,  65,   127. 
Betastung  33,  65,   127. 
Bewegung,  passive  109. 
Bibliotheken  der  Araber  164. 
Bichat,  Fran9.  Xavier  393. 
Bildungstrieb,  Lehre  vom  356. 
Billroth,  Theodor  423. 
Biogenetisches       Grundgesetz 

368. 
de  Biterris,  Wilhelm   216. 
„Blatternhaus"  267. 
Blumenbach,    Joh.    Friedrich 

356. 
Blutkreislauf,  Entdeckung  des 

313.  322,  331- 
Blutleere,  künstliche  421. 
Blutstillung  70,  73,  134. 

—  durch  TTorsion  und  Ligatur 
21 1. 

Bluttransfusion  331. 

Bobbio   176. 

Bock,  Hieronymus  263,  265. 

Boerhaave  304,  347  f. 

Boethius  247. 

Bocthus  136. 

Du  Bois-Reymond,  Emil  406. 

Bologna  220,  224. 

Bonet,  Theophile  330. 

Bonetus  211. 

Bombast  s.  Hohenheim. 

Borden,  Theophile  361. 

Borgognoni  208,  218. 

Botallo,    Leonardo    290,  292, 

303- 
Bottoni,  A.   303,  304. 
Bourgeois,  Louise  334. 
Bowman,  William  401. 
Boyle,  Rob.  345. 
Braid,  James  366. 
Branca  294. 


Brennstellenbilder  197. 
Breslauer  Codex  Salernitanus 

184,   190. 
Brief  an  Alexander  206,  227, 

234- 
Briefformularien   175. 
Bright,  Rieh.   414. 
Brissot,  Pierre  270. 
Broussais,  Franc.  Jos.  Victor 

402  ff. 
Broussaisismus  402  ff. 
Brown,  John  357,  409. 

—  Robert  397. 
Brownianismus357,397f.,403. 
Bruchoperateure  339. 

v.  Brücke,  Wilh.  Ernst    406. 
Brunfels,  Otho  263,  264. 
Bruno  (von  Longoburgo)  208, 

209. 
Brunschwig,  Hieronymus  292. 
Buchdruck  252  ff. 
Büchner,  Ludwig  396. 
Buchrolle   151,  252. 
Buono  di  Garbo  210,  228. 
Burgundio  247. 

j  Caelius  Aurelianus   170,   174, 

I      177- 

1  Caesar  102. 

I  Camper,  Pieter  384. 

I  Canstatt,  Carl  371. 

i  Cardano,  Girolamo  302. 

j  Cardmalis,  Mag.  214. 

I  Carnificis  236. 

Cassiodor  172,  173,  174,   176, 
l8[. 

Cassius,  P^lix  170. 

Castello  256. 

Cato   loi,   107. 

Cellularpathologie  408  ff.,  413. 

Celsus,  A.  Com.   112  ff.,   167, 
231,  251,  258. 

Cermisone,  Antonio  230,  258. 

Chalcidius   247. 

Chammurapi,    Codex  des  20. 

Champier  271. 

Charcot  278. 

—  Jean  Martin  413, 
Chartres   177. 
Chemie  307. 

Chemische  Physiologie  403  f., 

407. 
Cheselden,  William  381. 
Chinarinde  372. 

—  Einführung  der  330. 
Chirurgia  Rogeri    et  Rolandi 

201. 
Chirargie  154,  162,  196,  207, 
291. 

—  bei  den  Arabern  162. 
Chirurgische  Eingriffe  35  f. 

der  Naturvölker  11. 

Chloroformnarkose  420. 
Cholera   234. 


Register. 


437 


„Chronia"     eines    Escolapiiis 

174. 
Chrysippos  78,  85. 
Circa  instans   191,  222. 
Civitas  Hippocralica  180,  181, 

194    200,  204. 
Clairvoyance  366. 
Claudios  Philoxenos  94,   121. 
Clavis  sanationis  231,  259. 
Clement,  Jules   334. 
Cohnheim,  Jul.  410. 
CoUectio  Salemitana  190. 
CoUectiones  Chirurgicae   214. 
College  de  St.  Cörne  220. 
Comte,  Auguste  395. 
Conciliator  differentiarum  229. 
Conciliatores   controversiarum 

227. 
Conclusiones  227. 
Concordanciae   177,  227. 

—  ia    Ippocratis,    Galieni    et 
Suriani  177. 

Concoreggio,  Giovanni  da  237. 
Condillac  362. 
Conflentia,  Jacobus  de   234. 
de  Congenis  217. 
Conring,  Herrn    335. 
Consilien,    medizinische    193, 

227,  230,  258,  303,  304.     ; 
Contagium  animatum  401;   s. 

auch  Kontagium.  j 

Cooper,  Astley  423. 
Copho  190,  202. 
Cordus,  Valerius   265.  [ 

Cornarius  269. 
Cornelius  Celsus  1 1 2  ff . 
Corvi    da    Brescia,    Gulielmo , 

228. 
Corvisart  351. 
Crato  von  Krafftheini,  Johann  ; 

304,  306. 
Cruveilhier,  L.  J.  Baptiste  414. 
CuUen,  William  356,  372. 
Cuvier,  Georges  397. 

Dalechamps,  Jaques  265. 
Dalton,  John  398. 
Daniel  von  Morley  207,  229. 
Dammschutz  202,  296. 
Dämonenbeschwörer   17. 
Däinonismus   15. 
Daremberg,  Charles  187,  190. 
Darwin,  Charles  398. 
Daviel,  Jacques  382. 
Deductiones  227. 
Demetrios   von  Apameia   94, 

121. 
Demokritos  49,  60. 
Demonstratio  anatomiai    195. 
Demosthenes   152,   158. 

—  Philalethes  94. 
Denis,  Jean  331. 

Denken,  philosophisches  268. 
Denman,  Thomas  384. 


Deoprepio,  Nicolo  di  248. 

Descartes  312. 

Desault,  Pierre  Jos.  378. 

Despars,  Jaques  230,  248,  283. 

Deutschland  266. 

van  Deventer,   Hendrik   382, 

390. 
Diagnose  65. 
Diagnostik  58,  65. 

—  physikalische  399,  415. 
Dias,  Bartolomeu  261. 
Diätetik  113. 

—  der  Araber   164. 
Diät-Therapie  68. 
Dieffenbach,  Joh.  Friedr.  422. 
Dietl,  Joseph  416. 

Dino  (Aldebrandino)  di  Garbo 

228. 
Diodor  39. 
Diokles   151,  152. 

—  von  Karystos  78  ff. 
Dionis,  Pierre  333. 
Dionysios  Areopagita  268. 
Dioskurides     94,     132,     152, 

160,  166,  169,  173,  174, 
223,  231,  259,  262,  265. 

Diphtherie  266. 

Disposition,  hereditäre  62, 
360. 

—  Krankhelts-  88,   140. 
Disputationes  de  quolibet  227. 
Dodoens,  Rembert  265,  304. 
Dogmatiker  78. 
Dogmatische  Schule  7  7  ff. 
Dogmatismus  129. 
Döllinger,  Tgnaz  368. 

dei  Dondi  (Giovanni,  Giacomo) 

230. 
„Donnolo"   180. 
Drebbel  316. 
Dreitagekuren   112. 
Drogen,  heimische  271, 
ibn  al-Dschazzär  159. 
Dschibral  (Gabriel)   156. 
Duchek,  Adaibert  416. 
Duddel,  Benedictus  382. 
Dudith,  Andreas   302. 
Dupuytren,  Guillaume  422. 
Dürer,  Albrecht  263,  281. 
Du  Tertre,  Marguerite  333. 
Duvernoy  354. 
Dynameron  (Aovajispöv)    182. 
üynamidia   191. 
Dynamis  374. 

Kcluse  de'l  Charles  265. 

Edessa  155. 

Ehrenberg,    Gottfr.    Christian 

397- 
Ehrlich  413. 

Eid,  hippokratischer  49  f. 
Einzelbilder  der  Schwangeren 

246. 
Einzelorgane  (Bilder)  242. 


I  Eklektizismus   129,  417. 

Elektrizität  367. 
I  Eller,  Joh.  Theod.  380. 

Embryologie,    Vorläufer    der 
356. 

Embrj'otomie  122. 

Empiriker  96  ff. 
\  Entdeckungsreisen  261. 

Entwicklungsgedanke  368. 

Entzündimg,     Erklärung    der 

357- 

Enzyklopädismus  151. 
:  Enzyklopädisten      des      Ost- 
reiches 153. 

Epidauros  44,  54. 

Epigenese,   Theorie  der   356. 

Epileptikerheim  267. 

Epistola  Aristotelis  206. 

—  de  Flebotomia    192,    200. 

Erasistratos  83  ff.,  91,   151. 

Erfahrung    am    Krankenbette 
270. 

Erfahrungsheillehre  375. 

Erkrankungen,  tartarische  277. 

Ernst  von  Bayern  2  9. 
!  Emiolao  Barbaro  261. 

Esniarch,  Friedrich  von  421. 
I  Estienne,  Charles  281. 
I  Eudoxos  78. 

Euler  342. 
!  Eurj'phon  58. 

i  Eustacchi,  Bartolommeo  288, 
I      289,  290. 
:  Eustathios   152. 

Experiment  194,  252. 
j  —  ac  ratio  307. 
i  experientia  252. 
I  Experimentalpbysiologie  405. 
I  Experiment,     phvsiologisches 

62. 
j  Extraktion  an  beiden  Füßen 
299. 

Pabricius   ab  Acquapendente 

290,  313. 
Fachärzte  29. 
Facies  hippocratica  65. 
Falcucci,  Niccolö  231. 
Palioppia,  Gabriele  286,  287, 

290. 
Familientradition    in    Italien, 

medizinische   196. 
Faradsch  ben  Sälim   207. 
Fasciculus     medicinae     (Ke- 

tham)  244. 
Fehling,  Hermann  407. 
Feldscher  208. 
Feldwundilrzte  391. 
Fermentation,  Begriff  der  320. 
Fernel,  Jean  302. 
Ferrari     da    Grado,     Matteo 

230,  255- 
I'"errario.  Matteo  230. 
Ferrari,  Giamatteo  238. 


43« 


Register. 


Ferrarius  183,  189,  190,  201. 
Ferri,  Alfonso  292. 
Ficino,  Marsilio  269,  276. 
Fieber,  Bekämpfung  des  418. 
Florentiner     Akademie     26.8, 

269; 

,  neue    270. 

Florilegia  227. 
„Flos  medicihae"   205. 
Fluktuation  33. 
Fontana  387. 
Foreest,  Piter  302. 
Foroliviensis,  Jacobus  230. 
Fracastoro,  Girolamo  267. 
Frakturen,  komplizierte  211. 
Franco,  Pierre  293,  301,  383. 
Franz  von  Piemont  225. 
Frank,  Joh.  Peter  352. 
Franklin  342. 

Frauenheilkunde  75,  165,  202. 
Frerichs,  Friedr.  Theodor  416. 
Friedrich    IL,     Kaiser,     173, 

204,  237. 
Fries,  Lorenz  270,  302. 
Frühsalerno     181,    183,    185, 

194  202. 
Fuchs,    Leonhard    263,    265, 

269,  271,  285. 
Fulda  176. 

„Fünfbilderserie"  238. 
Furno,  Vitale  da  234. 
Fürstenhöfe,  Germanische  1 70. 

Galenos  (Galienus)  79, 95, 132, 
i3Sff.,  151,  152,  153,  154, 
155.  156,  157.  160,  163, 
170,  173,  174,  177,  183, 
187,  189,  194,  207,  216, 
227,  228,  229,  230,  231, 
247,  248,  250,  251,  259, 
268,  269,  270,  271,  272, 
278,  280,  283,  284,  286, 
290,    291,   300,   302,   311, 

320,  323.  353,  354.  407. 
Galenische  Akademie  270. 
Galilei  304. 

Gall,  Franz  Joseph  401. 
St.  Gallen   176. 
Galvani  342. 

Garbo,  Brnno  di  210,  228; 
—  Dino  di  228. 
Garcia  d'Orta  261. 
Gargilius  Martialis   177. 
Garipotus  174. 
Gariopontus   174,   182. 
„Gart  der  Gesundheit"  259. 
Gase,  Begriff  der  318. 
Gaub,  Hieronymus  David  359. 
Gaukler  99. 
Gay-Lussac  398. 
Gaza,  Theodor  259,  261,  272. 
Gebäranstalt  334. 
Gebärstuhl  121. 
Geburtshilfe  38,  75,  202,  296. 


Geburtshilfe,     Lehrerin      der 

334- 

—  und      Gynäkologie      der 
Araber  165. 

Geburtsorganismus  335. 
Geburtszange,    Erfindung  der 

383. 
Gefäßligatui    129,  211. 
Gelehrsamkeit  194. 
Gemeindeärzte    51,   148,  208. 
Gentile  dei  Gentili  da  P'oligno 

230,  231,  238,  256,  258. 
Geraldus  de  Solo  217. 
Gerauld  aus  Bourges  220. 
Gerhard    aus    Cremona     (der 

Lombarde)  207,  251. 
von  Gersdorf,  Hans  292. 
Gesner,     Konrad     265,     266, 
^  306. 

Gesundheitsregimina    für    be- 
sondere Fälle  234. 
Gewebskrankheiten  359. 
Gherardo  s.  Gerhard. 
Giacomo    Alberti     di      Mon- 

calieri  234. 
Giacomo  de'  Dondi  230,  259. 
Giacomo  della  Torre  230. 
Giamatteo  Ferrari  238. 
Giftpflanzen  98. 
Gi  denübung,  alte  chiurgische 

208. 
Gilles    de    Corbeil    193,    212, 

220. 
Gillibertus  214. 
Giovanni  d'Arcole  291. 

—  de'  Dondi  230. 

—  Noto  Siciliano  250. 

—  Plateario  202. 

—  Pico  della  Mirandola  269. 

—  da  Romanis  291,  292. 

—  Vigo  2q2. 

Girardus  Bituricensis  220. 

Glaukias  von  Taras  97. 

Glossen  zum  Roger  200  ff. 

Glossulae  quattuor  magistro- 
rum  super  Chirurgiam  Ro- 
geri  et  Rolandi  201. 

Gmelin,  Leopold  407. 

Gondeschäpür  155,   156,  181. 

Gonzalo  Hernandez  de 
Oviedo  y  Valdez  261. 

Gordon  Bernhard,  s.  Bernhard. 

Grabadin    des   Pseudo-Mesue 

259- 
V,  Graefe,  Albrecht  424. 
Graefe,  Carl  Ferd.  422. 
Graffeo  202. 
Gravida,  Bild  der  246. 
Gregor  der  Große   153,   176. 
Griechenmedizin  250. 
Grimoald  183. 
Große    Chirurgie    des    Bruno 

208,    —  Hohenheims   277. 
Grosseteste,  Robert  247. 


Guainierio  256. 
Guido   von  Arezzo  200,  201. 
Guido  de  Vigevano  246. 
Guillaume  de  Beziers  (de  Bi- 
terris)  216. 

—  Boucher  (Carnificis)  236. 

—  Firmat  177. 
Guillemeau,  Jacques  299,  301. 
Gulielmo    da   Saliceto    210  f., 

218. 
Günther  von  Andernach  283. 
Guy    de    Chauliac    201,    218, 

219,    224,    237,  248,    258, 

291,  296. 
Gynäkologie  38. 

Hadrian,  Erlaß  des   146. 

Haeckel,  Ernst  398. 

de  Haen,  Anton  350. 

Hahnemann,  Samuel  372. 

al-Haitam   139. 

Halaf  at  Tütüni  158. 

Hali   Abbas    156,    158,    163, 

195,   196. 
Halifa  ben  Abi'l-Mahäsin  159. 
von  Haller,  Albrecht   353  ff., 

409. 
von  Hammen,  Ludwig  314. 
Hämorrhoiden  197. 

Entfernung  198. 

Harmonisierungsbestrebuugen 

der  Scholastik  227. 
Hartmann  von  Aue  212. 
Harvey  300,  313  ff. 
Harun  ar  Raschid  156. 
Hausarzt  386,  390. 
Haynpul,    Joh.    (Janus    Cor- 

narus)  269. 
Hebammen  75. 
Hebammenkatechismus       des 

Soranos-Mustio  170. 
Hebammenschulen  390. 
Heilbetrieb      in      Asklepios- 

tempeln  43  f. 
Heilkraft,  natürliche  67. 
Heilmittel,  psychische  363. 
Heilpersonal,  niederes  21. 
Heilungsbestreben,  natürliches 

357- 

Heim,  Ernst  Ludwig  416. 

Heister,  Lorenz  379  f. 

Heliodoros  130,   152. 

v.  Helmholtz,  Hermann  406. 

van  Helmont  318. 

Henle,  Jakob  400. 

Henri  d'  Hermondeville  (Mon- 
deville)  217,  218,  219,  221, 
238,  239,  241,  246,  281. 

Henschel  185,  190,  194. 

Herakleides  60. 

—  von  Taras  97. 
Heribrand  177. 
Hernienoperation   196. 
Herodotos  39,  129,  152. 


Register. 


439 


Herophileer  91. 

Herophilos  83  ff.,   151. 

Hesiod  42. 

van  Heume,  Jean  304. 

Hikesios  94. 

Hildegard   (von  Bingen)    177, 

178. 
V.  Hilden,  "Wilh.  Fahr)-  333, 

379- 

Hippokrates    55,    59  ff.,  156, 

173,    174,    187,    188,  192, 

214,    216,    227,    228,  230, 

247,    248,    249,    251,  259, 

266,  269,  270,  276,  278, 
302,  303,  307,  326. 

Hippokratismus  250, 326, 329. 

351.  361. 
Hirschberg,  Julius   159. 
Hochsalemo    180,    185,    192, 

194,   196,  202. 

—  und  Spätsalemo  204. 
Hockbilder,  anatomische 

240  ff. 

—  persische  anatomische  242. 

—  einer  Schwargeren  245. 
Hofärzte    82,   178,  338,  386. 

—  babylonische  21. 
Hoffmann,  Friedrich  345. 

—  Richard  371. 
Hofphilosoph  Magister  Theo- 

dorus  206. 
Hohenheim     271,     293,    303, 

307.  308. 
Hohlsonde  211. 
Holzschnitt    nach    der    Natur 

263. 
Homer  41  ff. 
Homöopathie  371  ff. 
Honein  ( Johannitius)  217. 
Honorar,    ärztliches    51,   338, 

387. 
Honorarsvesen,  ärztliches  146. 

—  babylonisches  21. 
Hoppe-Seyler,  Felix  407. 
Horaz  179. 

Hortulus   176. 
Hörsäle,  öffentliche   146. 
ijospital    267    (s.    Kranken- 
baus). 
Hospitalbrand  385. 

—  -Fieber  388. 
Hospitäler   erhielten  ihre  an- 
gestellten Aerzte  268. 

Hotel   Dieu   334,    341,    388, 

390- 
Hraban  176. 
Hubais    158. 
Hufeland,  Christian  Wilhelm 

378,  4«7- 
Hugo  von  Tours   177. 
Hugo  v.  St.  Viktor   178. 

—  von  Lucca  (dei  Boi^t^oni) 
208  ff. 

—  und  Theoderich  218. 


Hunain   158,  218,    227. 

—  Ibn  Ischäq   156. 
Hundt,  Magnus  244. 
Humanismus  247 — 271. 
Humoralpathologie      32,     62, 

272,  399.  409- 
Hunter,  William  381,  384. 

—  John  381. 
Huser,  Joh.  279. 
Hygrometer  323. 

I  Hyrtl,  Josef  400. 

latreien  53,  104. 
latrochemiker  320  ff.,  343. 
latromathematik  154, 207, 230. 
latromathematiker  324. 
latrophysiker  320  ff.,  343. 
Ibn  al-Baitär   164. 

—  al  Dschazzar  187. 
Ilias,  Medizin  in  der  41. 
Indikationen   119,   125. 
Infektion  232f.,  4i2f. 
Infusorien  370. 
Inkunabeln  252 — 260. 
Induktion  227,  306. 

—  methodische  275. 
Infirmarien    der  Klöster  174. 
Ingrassia,  Filippo  Giov.    290. 
Inspectio  6^,   127. 
Instrumentailum  74,  131,  161, 

333- 

Instrumentarium,  geburtshilf- 
liches  122. 

Irland   175. 

Irritabilität  355,  359,  367. 

Irritation  402.  1 

Isaac  Judaeus   158,   164,   187,  i 
191,  259. 

Isagogae  Johannitii   187. 

Ischäq  ibn  Sulaiman  al-Isrä'ili 
158,   164,   191. 

Isidor  von  Sevilla   175,   176. 

Isolierhäuser   155,  233. 

Isopathie  375. 

Italien  274. 

Jachia  (Jahja)  ibn  Serafiiin 
(ben  Saräbi,  Serapion)  158, 
207. 

Jackson,  Charles  T.  420. 

Jacob  von  Forli  256,  258. 

Jacobus  de  Conflentia  234. 

Jacobus  (in  der  Reichenau) 
.76. 

Jacopo  da  Norcia  291. 

Jahreszeiten  176. 

Jan,  Antoine  Maitre  381. 

Januensis,  Simon  231,  262. 

Jamatus  (Jamerius)  201. 

Jamblichos  268. 

Jeanne  de  Borgogne  246. 

Jean  de  Passavant  211. 

—  Pitard  21 1,  220. 

—  de  Tnumemire  217. 


Jenner,  Edward  377  ff. 
Johann  XXI.,  Papst  220. 

—  von  Aquila  213. 

—  von  Bens  292. 

—  von  Toledo  206,  234. 

—  von  Tomamira  217. 
Johannes  Hispanus  206. 

—  Jacobi  217. 

—  de  Piscis  217. 

—  a  Platea   182,   189,   190. 

—  de  Sancto  Paulo  192,  213. 
Johannitius   156. 

John  of  Gaddesden  216. 
Jordanus,  Thomas  304. 

—  de  Turre  216. 
Jühannä  ibn  Mäsawaihi  156. 
Julianos,  Kaiser  152,   155. 
Jung-Stilling,  Heinr.  382. 
Jungius,  Joachim  307. 
Justinian,  Kaiser  232. 
Joubert,  I^iurent  302. 

Kaiserschnitt  299. 
Kalabrien  196. 
Kaltschmidt,  Karl  Friedr.  380. 
Karl  der  Große  176. 
Karl  III.,  der  Einfältige  178. 
Karolingerzeiten   153. 
Kassenärzte   148. 
Kassineser  Chroniken   186. 
Kauterisation  73. 
Kepler,  Johannes  300. 
Ketham,  Johann    de    (Kirch- 
heim?) 244. 
Kielmeyer  368. 
Kieser,  Dietrich  Georg  366. 
Kinderkrankheiten  202. 
al  Kindi   157. 
Kindslagen  75. 

—  abnorme   122. 
Kindslagenbildcr   170. 
Kleombrotos  85. 
Klerikerärzte   180. 
Klerikermedizin   178. 
Klinik  55. 

Klinische  Cbinxrgie  211. 
Klostemeubau    in    St.  Gallen 

«75- 

Klosterschulen   1 76. 

Knidos  49,  57,  77. 

Knocheabrüche,  Behandlung 
72. 

Koch,  Robert  411. 

Kodex  132,  252. 

Kollegienhefte  189. 

Kölreuter,  Siegmund  302. 

Kommunität   III,   125. 

Königsbrück,  Bartisch  von  301 . 

Konsilien  227. 

Konstantin,  von  Afrika  163, 
177,  178.  180,  181,  182, 
185,  186,  187,  189,  192, 
»93.  »94.  »95.  '96.  206. 
207,  213,  2as,  248,  »58- 


440 


Register. 


Konstantinos   152. 
Konstantinischer    Früliarabis- 

miis   224. 
Konstitution  374. 

—  epidemische  328. 
Kontagium  360,  369. 
Kontaktinfektion  232. 
Kos  48,  49,  54,  Ti. 
Kranioskopie  401. 
Krankenanstalten  52. 
Krankenhaus  155,   174,  267. 
Krankenhäuser  103,   112. 
Krankenhäuser,    Verhältnisse 

der  388. 
Krankenhauswesen  155. 

—  in  Byzanz  267. 
Krankenpflege  der  Araber  1 64. 
Krankenpflegewesen  155. 
Krankenräume  53. 
Krankheiten, ansteckende  233. 

—  chronische  328. 

—  neue  266. 
Krankheitsbarometer  358. 
Krankheitsbilder  33. 
Krankheitslehre  144,  328. 
„Krankheitsmann"   246. 
Krankheitsstadien  63,   140. 
Krankheitssymptome  328. 
Krankhei  tsverlauf   140. 
Krateuas  223. 
Kräutergarten     des    Klosters 

174- 
Kräuterkammer  des  Klosters 

175- 
Kreislauf  des  Stoffes  275. 
Kreuzzüge  180,   181,   200. 
Krisis  63. 
Kritik  erwacht  261. 
Kritische  Tage   176. 
Ktesias  58. 

Kuh  Pockenimpfung  376. 
Kultstätten  43. 
Kuren,  metasynkritische  120. 
Kunst,  ärztliche  181. 
Kurpfuscherei  418. 
Kurpfuscherwesen  388. 

Laennec,  Rene  352,  415. 
de  Laguna,  Andr.  304. 
Laienärzte  180. 
Laienschulen   173,   176. 
de  Lamarck,  Chevalin  398. 
Lampsakos  94. 
Lancisi,  Giovanni  Maria  330. 
Lanfranco  210,  211,  219,  221. 

—  Boneto  217. 
Lange,  Joh.  302. 
Langenbeck,  Bernhard  423. 
Larrey,  Jean  Dominique  422. 
Laskaris,  Janos  250. 
Laßtafelkunst   253. 
Lavater  366. 

Lavoisier  343. 
Laxierkalender  253. 


Lebensgeister  321,  355. 
Lebenskraft  359,  362,  402. 

—  Umstimmung  der  374. 

— ^  Verstümmelung   der    373. 
Lectio  227. 
Leeuwenhoek  315  f. 
Lehranatomie  in  Bologna  236. 
Lehrgänge  dei  Heilkunde  230. 
Lehrmonopol  für  Medizin  204. 
Lehrvortrag  226. 
Lehrzeichnungen  aus  Alexan- 

dreia  238. 
Leibarzt  338,  386. 
Leibniz  342. 
Leiiungsanästhesie  420. 
Leonardo  da  Bertapaglia  291. 

—  da  Vinci  263,  280,  281, 
282,  308. 

Leoniceno  261,  262,  266,  272. 
Leonides  129. 
Lepra  232. 

Leprabekämpfung  233. 
Libri  simplicium  231. 
Lieberkühn,  Joh  Nathan  356. 

—  Nathanael  401. 
Lieutaud,  Jos.  393. 
Lilium  medicinae  215. 
Linn^  396. 

Lister,  Joseph  421. 
Lodcr,  Just.  Chr.  400. 
Lokalanästhesie  420. 
Lokalisa tionsgedanke  402. 
Lokalisierung   der  Krankheit 

394- 
Lokal  therapie    127. 
van  Lomm,  Jean  304. 
Lopez,  Francisco  304. 
Ludwig,  Carl   406. 
Luxeuil  176. 
Lyon  270. 

Macer,  Aemiiius  aus  Verona 
177. 

—  ,,floridus"  177,  220,  258, 
259,  276. 

Machenschaften  zwischen 

Aerzten  und  Apothekern 
204. 

Macrobius  247. 

Magati,  Cesare  333. 

Magendie,  Fran^ois  403. 

Maggi,  Bartolommeo  292. 

Magna  Graecia   181. 

Magnetextraktion  333. 

Magnetisieren  365. 

Magnetismus,    tierischer    365. 

Magnos  185. 

Maimonides  164,  214. 

Makrokosmos  275. 

Malpighi,  Marcello  392,  397. 

Manardi,  Giovanni    263,  272. 

Manfred!  256. 

Marcantonio  della  Torre  238, 
280. 


Marcellus  von  Bordeaux   171. 

Marco  Polo  261. 

Mariano    Santo    da    Barletta 

292. 
Marmoutier  177. 
Marsilio  Ficino  268,  274. 
Martianus   196.3 
Masawaihi   158,   166. 
Massaria,  Aless.  304. 
Mastdarmfistel  211. 
Matteo   da    Grado    255,   256, 

259- 
Matthaeus    de    Archiepiscopo 
191. 

—  Platearius  191. 

—  Salomon  213. 

—  Sylvalicus    231,  256,  262. 
Matlioli,  Pierandrea  265. 
Maurus    192,    194,   206,  212, 

220. 
Mayer,  Julius  Robert  398. 
Meckel,  Joh.  Friedr.  356,  400. 
Medical  Act  427. 
Medici,    Cosimo,   und   Ficino 

270. 
Medizinalkollegien  386. 
Medizinalordnungen  338,  386. 
Medizmmann  17. 
Medicus,  Johannes   189. 
Medicina  Plinii   167. 
Medizinschulen,     französische 

177. 
Megategni   187. 
„Meister  Bartholomäus"  258. 
Menandros   121. 
Meningitis  epidemica  266. 
Merowingerzeiten  175. 
Mesmer,  Friedr.  Anton  364  f. 
Messer,  bronzenes   21. 
Mesue,  der  Aeltere  156. 

—  „der  jüngere"    225,    255, 
256,  258,  259,  271. 

Methode,  induktive  227,  306. 
Methodiker  113  ff.,  357. 
Methodismus  359. 
Metlinger  255,  256,  258. 
Metrodoros   85. 
Miasmata   62,  360.  ^'^ 

Mide   17. 

Mikrokosmos  275. 
Mikroorganismen   40 1 . 
Mikroskop,    Entdeckung    des 

316. 
Mikroskopie  399. 
Militärärzte,  römische    147. 
Militärärztliche      Einrichtung 

391- 
Milzbrandbazillus,  Entdeckung 

des  411. 

Mindesttaxe,  ärztliche   147. 

Mineralwässer,  künstliche  Dar- 
stellung 307. 

Mithridates  Eupator  98. 

Mithridaticum  98. 


Register. 


441 


Moerbeke,  Wilhelm  von  247. 
Monatsdiätetik   176. 
Mönchsmedizin  172,  175,  178, 

202,  224,  232. 
Mondeville  s.  Henri. 
Mondevillehandschriften  244. 
Mondino  dei  Luzzi  217,  230, 

237.  259.  280. 
Monro,  Alexander  381. 
Montanus,   Giovanni   Battista 

(da  Monte)  303,  304. 
Montagnana,  Bartol.  230,  258. 
Monte  Cassino  178,  188. 
da  Monte  Giov.  Battista  303, 

304- 
Montpellier     201,     211,    212, 

270. 
Morbi  contagiosi  233,  234. 
Morgagni,    Giovanni    Battista 

356.  392. 
Moriceau,  Fran^ois  334. 
Morton,  Richard   330. 
—  William  420. 
de  la  Motte,   ]Mauquest    334. 
Mulieres  Salernitanae  202. 
Müller,  Johannes  405. 
Museion  81. 

Mustio   170,  202,  231,  298. 
Myrepsos,  Nikolaos  269. 
Mysticismus  366. 
Mystik  275. 
Mystische  Mittel  16. 


Nahrungsraitteldiätetik    192. 
Naht  von  Dammrissen   202. 

—  der  Nerven,    direkte   211. 
Narkose,  Anwendung  der  94, 

131,  208,  384,  419  f. 
Narkotische  Mittel  15. 
Nasenpolypenoperation    198. 
Naturbeobachtung    262,    279. 
Naturgemäße  Behandlung  107, 

133- 
Natürliches  Heilungsbestreben 

357- 
Naturphilosophen,  griechische 

48,  61. 
Naturphilosophie  367,  404. 
Naturwissenschaften,   Einfluß 

der  326. 
Nemesios   185,  247. 
Nephrotomie  73. 
Nervenfluidum  346. 
Nervöses  Prinzip  356. 
Neugalenismus  250,  269. 
Newton  342. 
Niccolo  P'alcucci  231. 

—  von  Horenz  259. 

—  Leoniceno   263. 

—  da  Reggio   248,  249. 
Nigidius  Figulus   1 1 9. 
Nikolaos  248.  —  Alcxandrinos 

182. 


Nikolaus,     der      Salernitaner 

191,   195,  271. 
Nikomedes  von  Bithynien  98. 
Nikon   135. 
Nisibis   155. 
Norciner  196. 
Nothnagel,  Hermann  415. 
Nufer,  Jakob  300. 
Numisianos   136. 


de  '1  Obel,  Matth.  (Lobelius) 
26s. 

Oberarzt  29. 

Odlehre  366. 

Odo  von  Meung  sur  Loire  178. 

degli  Oddi  303,  304. 

Odyssee,  Medizin  in  der   42. 

Oken,  Lorenz  368. 

Operateure,  Ausbildung  künf- 
tiger 201. 

Operationen  26,  ^'y. 

—  des  Stars    131,    196,  293. 

—  plastische  131,  294. 
Operationsbilder      198,     199, 

209. 
Operationszimmer  69. 
Ophthalmoskopie   399. 
Oppolzer,  Johann  416. 
„Ordnung    der    Gesundheyt" 

255.  258. 

Oreibasios  152,  153,  163,  231. 
Organologie  401. 
Organotherapie  418. 
Ortolf  von  Bayerland  258. 
Otranto    180. 
„Oxea"  eines  Aurelius  174. 

Padua  220,  224,  229,  238. 
Palfyn,  John  383. 
Palpatio  65,   127. 
Pandectae      medicinae      231, 

256,  259. 
Pantegni   163. 
Papsttum  220. 
Papyios  Brugsch  29. 

—  Ebers    28,    31,    33,     35, 

37.  38. 

—  gynäkologischer  27,  38. 

—  Veterinär-  27. 
Paracelsus   271  ff.,    293,  318, 

322,  340,  365,  369,  371. 
Paragranum  277. 
Paramirum  277. 
Parasitäre  Lebewesen  369. 
Parasitenlehre  370  f.,  397. 
Pari,     Ambroise     219,    293, 

294,    295,    296,    298,    299, 

300,  333. 
Paris  219,  220,  221,  222,  224. 
von  Parma,  Joh.  225. 
Pasteur,  Louis  411,  421. 
Paulus  und  Alexander  182. 


Paulus  von  Aigina  153,   1541 
162,    163,    173,    224,    231, 

251.  259- 
Passionarius   182. 

—  Galeni  174. 
Pecquet  315. 

Pedanios  Dioskurides   132. 

Peiligk  242. 

Pelops   136. 

Perkussion  127,  351,  399. 

Pessarien  38. 

Pest  231,  232,  234. 

Pesthaus  267. 

Pestliteratur  234. 

Pesttractate  232. 

Peter   von   Abano    225,  255, 

256,  257,  259,  271. 
Petit,  Jean  Louis  378. 
Petrarca,  Francesco  204,  229, 

230,  231,  248. 
Petricellus,     Petrocellus,    Pe- 

troncellus   183,   185,  201. 
Petronius    183. 
Petrus  Damiani  182. 
Petrus  Juliani  (Hispanus)  220. 
Petrus  Ramus  303.  307. 
Peyronie,  Fran^ois  378. 
Pflanzenbilder  168,  263. 
Pflanzenbild  der  Araber  165. 
von  Pfalzpeunt,  Heinrich  292. 
Pflegeanstalten  155. 
Pflüger,  W.  406. 
Philaretos   187. 
Philinos  von  Kos  97. 
Philipp  IV.  der  Schöne,  König 

21 1. 
Philologische    Mediziner  251. 
Philumenos   152,   153. 
Philosophie,  scholastische  250. 
Phlogiston  343. 
Phlogistische  Theorie  343. 
Phoibe  121. 

Pholspeunt,  Heinr.  292. 
Phrenologie  401. 
Physici  388  f. 

Physik,  Fortschritte  der  342. 
Physis    64,    67  f.     III,     141, 

319.  359.  361. 
von  Piemont,  Franz  296. 
Pierre  d'Auxonne  236. 
Pierre  Franco  219. 
Pierre  de  la  Ram^e  303. 
Pietro  d' Abano  229,  246,  255. 
Pielro  di  Argelata  259. 

—  Torrigiano  229. 
Pinel,  Philippe  362. 
Plastik   196. 

Plastische    Operationen     131, 

294- 
Platearius  183,  189,  191,  192, 

201,  222,  224. 
Platner,  Zacharias  380. 
Plato    77  f.,    151,    180,    268, 

270,  274,  302, 


442 


Reoistei". 


Platoniker  247.  , 

Platter,  Felix  304. 

Plethora  87,  349. 

Plinii  Medicina  167. 

Plinius  loi,   Ii8fi,  167,   169, 

170,  255,  259,  261,  262. 
Plirius  Valerianus   167,   171. 
Plotin  268. 

Pneuma  31,  86,   129,   138, 
Pneumatiker  129. 
Pneumatische  Schule   129. 
Pockenimpfung  376. 
Polaritätstheorie  368. 
Polypragmasie  372,  4.13,  415. 
Pontius  de  Sancto  Egidio  220. 
Popularisierung    der    Medizin 

119. 
Portal,  Paul  334. 
Posiiivismus  396. 
Potenzierung  der  Arzneimittel 

374- 
Pott,  Percival  381. 
„Practicella"  225. 
Precianer   196. 
Premnon  physicon   185. 
Priesterärzte  20. 
Priesterkaste  33. 
Priestermedizin  232. 
Priesterschaft  170. 
Pries  tley  343. 
prima  intentio  208. 
Primitive  Medizin  9  ff. 
Prinzip,  nervöses  356. 
Priscianus,  Theodorus  231. 
Privatklinik  53. 
Problemata  Aristotelis  229. 
Profacag  aus  Marseille  214. 
Profatius  214. 
Prognose  24,  65. 
Programm  275. 
Pseudodemokritos   1 70. 
Pseudo-Galenos   164,   195 
Pseudo-Plinius   177. 
Pseudotheodorich   1 70. 
Psychische  Heilmittel  363. 
Puccinotti  201. 
Pulsbeobachtung   127. 
Pulsmesser  323. 
Pythagoras  48. 

Quaestiones  disputatae  227. 
—  de  quolibet  227. 
Guido  de  Vigeuano  243. 
Quodlibetaria  227. 

Rabbi  Moyses   164. 
Rademacher,  Joh.  Gottfr.  375. 
Radulf  von  Longchamps  194. 
Ragenifrid  183. 
Ramazzini,  Bemardo  330. 
de  la  Ramee,  Pierre  (Ramus) 

303,  307. 
Ramusio,  Girolamo  270. 


228, 


Raoul-Leclerc   177. 
Rapp,  Georg  376. 
Rapport  366. 
Rasori,  Giovanni  359. 
Rasselgeräusche  66. 
„Ratio"  252. 
Razes,  ar  Räzi  156,  157 
164,    207,     217,    227, 

255>  259. 
Reaktion  des  Organismus  63. 
Reaktion ,     Wassennannsche 

419. 
Realdo  Colombo   289. 
Receptarien  176. 
von    Recklinghausen,    Friedr. 

410. 
Reformation     dtr    Anatomie 

280  ff. 
Regimen  Sanitatis    205,  227. 

—  Salernitanum  205. 

,, Regiment  der  jungen  Kinder" 

258. 
Regimentsfeldscherer  391. 
Reiben,  pleuritisches  66. 
Reichenau  176. 
Reichenbach,  Carl  366. 
Reil,  Joh.  Christian  363. 
Renaissance     169,    235,    247, 

250,  260. 

—  karolingische   169. 

—  hippokratische  151. 
Renaudus  213. 

de  Renzi  190,  205. 
Resektion  73. 

Rhuphos  von  Ephesos   132. 
Richardus  195,  213. 

—  anglicus   195,  216. 
Richer  von  Rheims  178,  179. 
Richter,  Aug.  Gottlieb  381. 
Rigordus  213. 

von  Ringseis,   Joh.  Nepomuk 

366. 
Roederer,    Joh.    Georg    384, 

390. 
Roger  Bacon,  201,  204,  208, 

221,    222,    227,    230,    247, 

248,  308. 

—  de  Barone  214. 

Roger    Frugardi    von    Salern 

200,  207. 
Rogerglosse  200,  201. 
von  Rokitansky,  Karl  413. 
Rolando  von  Parma  200,  201, 

209. 
„Rolandina"   201,  224. 
Rolfink  340. 
Rom   151. 
Romualdus   191. 
„Rosa  Anglica"  216. 
Röschlaub  359. 
Rösslin,  Eucharius  298. 
Rothari  233. 
Rousset,  Fran^ois  300. 
Rueff,  Jakob  298. 


Ruphos  132^-  152,  251. 
Ruysch  315. 

Sabatier, Raph.  Bienvenu378. 

Sabbatai  ben  Abraham  (Don- 
nolo)   180. 

Sachverständiger,  gerichtsärzt- 
licher 208. 

Säftekrankheiten  359. 

Säftelehre  278,  407. 

Saint  Gilles,  Jean  de  220. 

Saläh  ad-Din   159. 

Salerno   178 — 205. 

Salernus,  Magister  193,  213. 

Sanchez,  Francesco  307. 

de  Sancto  Egidio,  Johannes 
220. 

Sandifort,  Ed.  400. 

Santa  Sofia  230. 

Santorio  Santoro  304,  325. 

Sarazenenherrschaft  in  Sizilien 
186. 

Sardanapal    19. 

SäugJingskrankheiten   124. 

de  Sauvage,  Fran(;ois  361. 

Savonarola,  Girolamo  269. 

—  Michele  231,  259,  296. 

„Scabies  grossa"  267. 

Scarpa,  Antonio  400. 

Schärfen  321. 

Schelling  364. 

Schenk  von  Grafenberg,  Joh. 

304- 
Schienen  72. 
Schlafschwämme  208. 
Schieiden,  Matthias  Jakob  397. 
Scheidekunst   208,    227,  272, 

278. 
Schneider,  Joh.  Vict.  317. 
Scholastik  194,  227,  260. 
Schönlein,  Lucas  Johann  370, 

411,  416. 
Schrevelius,  Ewald  304. 
Schrick  259. 
Schuimedizin   117. 
Schwann,  Theodor  397,  406. 
Schweigepflicht,  ärztliche  51. 
Schweineanatomie  (des  Copho) 

194. 
Schweißsucht  267. 
Scipione  Mercurio  300. 
Scopolamin  zur  Narkose  131, 

420. 
Scottus,  Michael  221. 
Scribonius,   Largus   119,   167, 

302. 
Seidel,  Bruno  302. 
Seitenkettentheorie  419. 
Selbstheilung  415. 
Selbstverteidigung,  Bamberger 

176. 
Semmelweis,    Ignaz    Philipp 

421,  425. 
Sennert,  Daniel  320. 


Register. » 


443 


Sensibilität  355,  359,  367,  394. 
Septimius  Severas   146. 
Serapion  158,  207,  227,  258, 

259,  262,  271. 
Serenus  169,   174,   176. 
Servet,  Michael  288,  289,  290. 
servus  medicus   loi. 
Settala,  Ludovico  304. 
Sextus  Placitus   169,  171. 
Siderokrates,  Samuel  269. 
Siebold,  Carl  Kaspar  381. 
Siegemund,  Justine  334. 
similia  similibus  373. 
Simon  von  Genua  231,    255, 

256,   261. 
—  von  Montfort  201. 
Simplicia  231. 
Simpson,  James  Young  420, 

426. 

,  159,  160,  166, 
207,  214,  217, 
251.    255, 


259. 


ibn  Sinä  15J 
195,  201, 
224,  247, 
270. 

Sizilien  180. 

Skelett  286. 

Sklavenärzte   100. 

Skoda,  Joseph  415. 

Smellie,  William  384. 

Soldus  258. 

Solidarpathologie  125,  407. 

solidarpathologische     Auffas- 
sung 400,  407. 

—  Betrachtung  357. 

Solutio  227, 

Somnambulismus  366. 

Soranos  von  Ephesos  120  ff., 
170,  202,  296,  298. 

Sörensen,  Peder  280. 

Spätanatomie  von  Hochsalemo 

195- 
„Si>eculator"  230. 
Spezialistentum   148. 
Sprache,  griechische  247, 
Spurzheim,  Joh.  Caspar  402. 
Sputumuntersuchung  66. 
Staatsexamen,  Einführung  des 

386. 
Stadien  der  Krankheit  63. 
Stodtorzt  208,  338. 
Stadtchirurgen  208,  338. 
Stahl,  Ernst  343. 
Starck,  K.  W.  369. 
Staroperation    21,     131,    196, 

198,  219,  424. 
^»tadtarztwesen  im  Mittelalter 

208. 
'>J;ar-,  N;i8enpolypen-,  Hämor- 

rhoidenopcration   197. 
Stiifstecher  339. 
Starstechermetier  204. 
Starstich  196,  198. 
Steinschneider  339. 
Steinschnitt  196. 
Stensen  315. 


Stephanus  von  Antiochia  187. 

—  Amaldi  216. 
Sthethoskop  352. 
Stoffwechsel ,     Untersuchung 

des  304,  323. 
Stoerck  351. 

Stoiker,  Philosophie  der  129. 
Stoll,  Maximilian  351. 
Strabo  176. 
Stromeyer  378. 

—  Louis  422. 
Sudor  anglicus  267. 
Suggestivbehandlung  47  f. 
Surianus   177. 

van  Swieten  349  f.,  431. 
Sydenham,Thomas278,327ff., 

'342,  348,  360. 
Sylvaticus,Matthaeus  23 1, 258. 
Sylvius,  de  le  Boe  320,  326, 

340. 

—  Jacobus  285. 
Sympathie  402. 
Sj'mphorien  Champier  270. 
Symptomatologie  24. 
Symptomenlehre  97,   126. 
Synonyma  medicinae  231. 
SjTien  154,   166. 

Syphilis   234,  266,  267,  278. 


Tabari   158. 
Täbit  ben  Qurra   158. 
Taddeo    Alderotti    225,    226, 
227,    228,    229,    230,    234, 

255- 

Tagliacozzo,  Gaspare  294. 

Tatsachenforschung,  botani- 
sche 265. 

Taxe  204. 

Taxordnungen  390. 

Tegni  187,  227  ;  —  u.  Mega- 
tegni  187. 

Telesio,  Bemardino  302. 

Tempelmedizin  45,  418. 

Tempelschlaf  45. 

Tentamen  medicum  432. 

—  phiiosophicum  432. 

—  physicum  432. 
Teodorico  dei  Borgc^noni  208. 
Tertullian  82. 

Theater,     anatomisches    236, 

340.  387- 
Theden,  Chr.  Anton  380. 
Themison  v.  Laodikeia  iioff. 
Theorie,  humoralpathologische 

23.  3'- 

—  medizinische   15,  22. 
Therapie,  physikalische  399. 
Thermometer  304,  323,  349. 
Theoderich  172,201,208,209. 
Theodorich  der  Große  170. 
Theodorus  Priscianus  1 69, 1 70, 

171.  175.  231- 
Theophilos-Philaretos  187. 


Theophrastos   222,   259,  261, 

262. 
Theophrastus  von  Hohenheim 

272 — 280. 
Thessalos  von  Tralles  119  ff., 

359- 

Theuderich  172,  175. 

Thesaurus  Pauperum  220. 

Theurgie  369. 

Tieranatomie  194. 
'  Tierbilder  167. 

Tierexperiment  307. 
'  Tierkreiszeichenmann  246. 

Tierzergliederung  196. 

Timoni,  Emanuele  376. 

Tod,  Schwarzer  231,  232,  266. 

Toledo  206,  207. 

Tommaso  di  Garbo  229,  237, 

Topographische  Anatomie  400. 

della  Torre,  Giacomo  230, 256. 

dei  Torrigiani  229. 

Torsion  211. 

Toscana  249. 

Tours  177. 

Toxine  413. 

Traube,  Ludwig  416. 

Trepanation  13,   17,  73. 

Trincavella  304. 
'  Trotula  201,  202,  296. 
j  Truppenärzte  147. 

Tullius  Bassus   iig. 

Trusianus  229. 

Uebergangsepoche,  vorkaro- 
lingische  176. 

Uebersetzungen  aus  dem  Grie- 
chischen in  Sizilien  am  Nor- 
mannenhofe 206. 

—  syrische   155. 
Uebersetzerschule  206. 

Ugo  dei  Borgognoni  208,  209, 

Umbrien  196. 

Umstimmung  der  Lebenskraft 

374- 
Unterkunftshaus  267. 
Unterricht,  anatomischer  236. 

—  ärztlicher  148,  340. 
Unterrichtsanstalten  105. 
Untersuchungsmethoden  33. 
„Urivasius"   153. 

Urso  192,  193,  194,  206,  212, 

220. 
Usaibia  164. 

Vala  179. 

Valescus  de  Taranta  217,  250, 

256. 
Valetudinarien  106,  112. 
Valgius  Ruf  US   119. 
Valles,  Franc.  304. 
Valsalva,  Antonio  392. 
Varignana,  B.,  228,  230. 

—  Guilelmo  237,  259. 
„Variola  grossa"  267. 


444 


Register. 


Varolio,  Costanzo  290. 
Vascu  da  Gama  261. 
Väter  der  Botanik  263. 
Verbände  72. 

—  erhärtende  12. 
Verbandtechnik     der    Natur- 
völker 13. 

Verrenkungen,  Behandlung  der 
72. 

Vesalius,  Andreas  280,  281, 
282,  283,  284,  285,  286, 
287,  288,  289,  290,  291, 
298,  300,  308,  311. 

Vesling  315. 

Viaticus  Conslantini  187,  214, 
220. 

Victoriner,  deutsche  178. 

Viermeisterglosse  201. 

Viersäftelehre  278. 

de  Vigevano,  Guido  246. 

Vigo,  Giovanni  292. 

Vincenz  von  Beauvais  222, 296. 

Vindicianus  158,   169,  170. 

Virchow,  Rudolf  397,  408  ff. 

vitales  Prinzip  362. 

Vitalität  395. 

vitalistische  Ideen  394. 

Vitalismus  360  ff.,  398. 

„Vivarium"   172,   181. 

Vives,  Luis  303,  307. 

,,Visis  effectibus"  234. 

Vitale  da  Furno  234. 

Vivisektion  an  Verbrechern  82. 

—  404. 


Vivisektorische    Experimente 

136,  142. 
Vogt,  Carl  396. 
Volkmann,  Richard  423. 
Volksmedizin  418. 

—  altrömische   107. 
Volta  342. 

ibn  Wäfid  207. 

Walahfrid   176. 

Warbod  (Gariopontus)  1 74, 
194. 

Ware,  James  382. 

Warimpotus   182,   183,   185. 

Warren,  John  CoUins  420. 

Wasserkuren   108. 

Weber,  Ernst  Heinrich    406. 

Wedel,  G.  W.  343. 

Weingeist  und  seine  Dar- 
stellung 227. 

Welcker,  Herm.  401. 

Wendung  298,  299. 

Wiener  Schule,  ältere  350  ff. 

—  —  jüngere  414  f. 
Wilhelm  II.,  König  der  Nor- 
mannen   203. 

Wilhelm  Bombast  von  Hohen- 
heim  272. 

—  de  Congenis  201,  217. 

—  Corvi  216. 

—  der  Piacentiner  210  (s. 
Wilhelm  von  Saliceto). 

—  von  Saliceto  210,  211,  218, 
228,  256. 


Willehalm    von    Bourg     (de 

Congenis)   201,  217. 
Willis,  Thomas  322. 
Wirtz,  Felix  293. 
Wisemann,  Richard  333. 
Wissen,  scheidekundiges  272. 
Witteisbacher  279. 
Wolff,  Caspar  Friedr.  356. 

—  Christian  342. 
Wrisberg,    Heinrich    August 

356. 
Wundärzte  389. 
Wundbehandlung  35. 

—  der  Naturvölker  11. 
Wundenmann  246. 
Wunderlich,      Karl      August 

417. 
Wurm  als  Krankheitsursache 
23.  31.  34- 

Young,  Thomas  398. 

Zagorsky,  Peter  400. 
Zauberformeln  26,  99. 
Zeichnungen,  anatomische  238. 
Zerbi,  Gabriele  237. 
Zergliederungstechnik  142. 
Zinn,  Joh.  Gottfr.  356. 
Zellularpathologie  399. 

—  s.  Cellularpathologie. 
Zuckungsgesetz  406. 

ibn  Zuhr  (Avenzoar)  215). 
Zweckmäßigkeit    des    Natur- 
geschens  142. 


Berichtigungen : 

S.    22   Abb.    9    steht   auf    dem  Kopfe,    sie   stellt  einen  Keilschrifttext  über 

Haut  leiden  dar. 
,29      „     13    die   sicherere  Lesung   des  Arztnamens  ist  „Sechmetnanch". 
,30      „      15   muß  heißen  „eines  O  h  r  e  n  kranken". 
,  100      „     61    der  Brustkorb  stammt  von  einem  Sarkophag. 
,  183  Zeile    2  von  unten  lies  Pseudonymen. 
,221      „      10     „  „         „     Franco. 


Frommannscbe  Bachdruckerei  (Hermann  Pohle)  in  Jena.  —     4S34 


\ 


R      Meyer-Steineg,  Theodor 

131      Geschichte  der  Medizin  im 

W^B  Überblick  mit  Abbildungen 


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